Breeg und ich hatten die Insel, auf dem der böse Turm stand, verlassen.
Wir durchquerten Wälder, Wiesen, Felder. Unzählige.
Immer, wenn ich die Augen schloss, verfolgte mich die Vergangenheit. Gins Tod. Die Visionen am Turm. Und wenn ich die Augen zu lange geschlossen hielt, träumte ich von Kirren. Davon, wie er mir auflauert. Wie er mich tötet.
An Schlafen war also nicht zu denken.

Ich lief einfach immer weiter. Was immer mich führte, lenkte mich in meine eigene Todesfalle.

Ich achtete kaum noch auf meine Umgebung. Es war, als wäre ich woanders. Nur, dass mein Körper sich einfach weiter bewegte. Ganz so, als wäre nichts.

Wir kamen an einen kleinen Bach im Waldstück. Dahinter war eine große Wiese, umgeben von Holzzäunen. Jagen? Wir brauchten etwas zu essen. Das verstand ich trotz der Müdigkeit.
Ich trug meine Falle noch in der linken Hand. Fürs Jagen mit dem Bogen fühlte ich mich zu schwach.

Breeg und ich beschlossen also, die Wiese zu überqueren und im dort liegenden Wald die Falle aufzustellen. Wir liefen eine Weile bergauf bis der Wald sich verdichtete. Ich wusste nicht einmal, in welche Richtung der Wind wehte, doch es war mir egal. Eigentlich wollte ich nur schlafen.
Ich stellte die Falle auf den Boden des Waldes und bedeckte sie mit Laub. Breeg stand hinter mir.
Wieder spürte ich die Müdigkeit über mich hereinbrechen.
Schlafen.
Ich senkte den Kopf.
„Kann ich nicht einfach hier schlafen?“, murrte ich.
„Aber so wird kein Tier in die Falle gehen.“, erwiderte Breeg nur darauf.
„Da.“
„Dann lass uns noch ein Stück gehen.“, schlug Breeg vor.
„Njet.“. Ich wollte hier sitzen bleiben. Aufstehen war anstrengend.
„Aber dann fangt Ihr nichts.“, wiederholte Breeg.
„Hat Bjorn gesagt kann ich nichts fangen.“, murmelte ich langsam. „Hatte er recht.“
„Aber Ihr habt doch schon etwas gefangen.“
„Mensch, da. Was soll ich mit Mensch? Will ich etwas zum Essen fangen.“, erklärte ich und blieb weiter am Boden sitzen.
„Also. Wenn Ihr einen Mensch fangen könnt, dann könnt Ihr auch ein Tier fangen.“, versuchte Breeg mich zu ermutigen.
„Njet. Menschen sind dumm.“
Da stimmte er mir zu.
Wir sprachen etwas über die Geruchssinne der Tiere, dann erhob ich mich doch.
Er hatte ja recht. So würde ich nichts fangen können.
Vielleicht würde ich ja einen Ort finden, an dem die schlechten Träume aufhören.

Wir überlegten, ob wir weiter den Berg hinauf oder lieber hinunter gehen sollten. Es war mir egal. Ich folgte Breeg den Weg hinunter, als er auf einmal stehen blieb.
„Da ist Jemand.“, sagte er. Ich blieb ebenfalls stehen und sah mich um. Ich sah niemanden.
„Wo?“, fragte ich verwirrt und blinzelte.
„Hinter dem Baum.“, erklärte er. Es war ein Wald. Hier waren mehr Bäume als nur einer.
„Und? Gehen wir weiter. Was soll er machen? Bin ich müde.“
Damit setzte ich meinen Weg fort. Dann sah ich auch Jemanden. Zuerst zuckte ich zusammen. Ich dachte zuerst, ich hätte Kirren gesehen. Doch mir fielen die bösen Träume wieder ein. Wahrscheinlich hatte ich die Augen einen Moment zu lange geschlossen.

Wir stiegen über den Holzzaun zurück auf die Wiese. Ich bemerkte, wie ich nicht mehr gerade lief.
War das die Müdigkeit? Mir war schwindelig. Ich wollte doch nur noch schlafen.
Breeg schien es zu bemerken, denn er riet mir, mich nicht auf dem offenen Feld hinzulegen. Ich tat ihm den Gefallen und schleppte mich weiter.

Jenseits der Wiese war ein kleines Waldstück mit sumpfigen Boden. Ich legte die Waffen ab, dann hockte ich mich nieder. Kurz sah ich mich um, dann legte ich mich auf den Boden und schloss die Augen.

Doch es dauerte nicht lange, bis die Bilder wieder vor meinen Augen erschienen. Gin, wie er tot vor dem Turm lag. Wie ich sein Handgelenk hielt und seinen Puls nicht mehr spürte.
Ich erwachte. Sah mich um. Erhob mich. Breeg lehnte an einen Baum. Eine Unruhe stieg in mir auf.
„Erst jagen… Erst jagen.“, murmelte ich, nahm die Waffen wieder an mich und taumelte über die Wiese zurück zum Waldstück. Vielleicht hatte ich ja schon etwas gefangen.
Breeg erwachte bald und folgte mir. Ich suchte das niedrigste Stück des Zauns und versuchte, hinüber zu klettern. Es fiel mir schwer, doch ich schaffte es. Breeg tat es mir gleich.

Gemeinsam suchten wir die Falle. Sie war noch immer leer.
Ich wollte mich gerade zu Breeg umdrehen, da passierte es:
Etwas sprang auf ihn zu. Oder besser – Jemand.
Ich hörte Breeg röcheln, sah Blut an seinem Hals, sah die Person.
Mir wurde eiskalt – trotz der Hitze des Südens.
Kirren.
Es war Kirren.
Ich griff an meinen Gürtel, wollte die Axt ziehen.
Zu langsam.

Kirren sprang auf mich zu und im nächsten Moment lagen wir auf dem Boden des Waldes – im Laub.
Ich versuchte, mich von ihm loszureißen, doch es gelang mir nicht.
Erst dann sah ich, was er noch immer in der Hand hielt – einen Dolch.
Er hielt ihn direkt an meine Kehle.
„Du kommst mit.“. Er sprach langsam. Drohend.
„Kirren!“. Was sollte ich tun? „Kirren, ich habe dir nichts getan!“
„Ist das so?“
„Ich habe dir Leben gerettet!“, rief ich verzweifelt.
Es überzeugte ihn nicht.
Sein Blick. Voller Hass. Wieder. Er starrte mich an. Ich ertrug es nicht.
Doch etwas war anders. Ein Auge. Es sah anders aus.
Es war… rot?
Nein, das musste ich mir einbilden. War das vielleicht nur ein weiterer, böser Traum?
Bitte! Lass es einen Traum sein!
Kirren drückte mich noch immer in den Waldboden, den Dolch an meiner Kehle.
Er nahm meine Axt und mein Schwert und warf sie achtlos auf den Boden.

Dann zog er mich mit. Breeg lag am Boden. War er tot? Hatte er ihn getötet?
„Ich muss mit dir reden. Unter vier Augen.“, knurrte Kirren und zog mich weiter durch den Wald.
„Sind wir doch unter vier Augen.“, erwiderte ich leise. Ich sollte vorsichtig sein. Der Dolch ruhte noch immer an meiner Kehle.
„Hier sind zu viele Ohren.“
„Aber ist hier niemand außer uns.“
Ich hoffte, dass er mich nicht zu tief in den Wald ziehen würde. Gab es ein Entkommen?
„Sei still!“, schrie er auf einmal.
Was? Was meinte er?
„W-Was? Kirren! Wo bringst du mich hin, ich-“
„Noch nicht!“, unterbrach er mich laut.
„Noch nicht?“, wiederholte ich verwirrt.
„Nicht du!“, schrie er und ich zuckte zusammen.
‚Nicht du?‘ , aber was meint er denn?, dachte ich.

Kirren zog mich durch immer tieferes Gestrüpp.
„Wo bringst du mich hin? Ich- ich habe dich gerettet. Ich habe dir geholfen!“, versuchte ich es erneut. Meine Stimme versagte und ich schluchzte.
„Ich habe einen schönen Ort für dich.“, verkündete Kirren stolz und grinste. Es war ein böses Grinsen. Wie am Turm. Nur schlimmer.

Von Weitem sah ich eine Laterne auf einem Baumstumpf. Er steuerte direkt darauf zu.
Ich wollte mich losreißen, doch er hielt die Klinge einfach wieder näher an meinen Hals.
Nein. Es gab keinen Ausweg.
Tränen stiegen in meine Augen. Was hatte er nur vor?

In der Nähe eines Baumstumpfs war ein kleiner Graben. Dort stieß er mich hinein.
Ich starrte ihn an. Meine Augen waren weit aufgerissen und mein Herz schlug überall – nur nicht in der Brust. Ich konnte meinen Herzschlag vor allem in meinen Ohren spüren…

„Warum hast du das getan?!“, schrie er mich an. „Wegen dir ist er wach!“
„Ich habe nichts getan! Ich habe dir Leben gerettet!“
„Lügnerin!“
Er nahm seinen Dolch und rammte ihn mir ins linke Bein.
Ich schrie auf und Tränen sammelten sich in meinen Augen. Es brannte höllisch. Schnell fasste ich mit meiner Hand an das linke Bein und drückte auf die Verletzung. Das Brennen wurde stärker und warmes Blut floss über meine Hand.
„Warum machst du das?“, schrie ich.
Ich erhielt keine Antwort.
Er näherte sich mir. Seine Klinge… Ganz in der Nähe von meinem Hals.
Töten. Er wollte mich töten. Ich konnte es ganz genau sehen.

Auf einmal fixierte mich sein Blick. Er starrte mich an – genau in die Augen. Das Auge war rot. Die Schmerzen waren echt. Es war kein Traum.
„Iesena.“, murmelte er.
War das nicht… der Name seiner Schwester. Hatte er das nicht schon einmal am Turm gesagt? Und sein Blick… Es war so seltsam. So… anders? Fremd.

Plötzlich schrie er auf und stürzte sich in das Gebüsch, presste seinen Kopf auf dem Boden.
Erstarrt beobachtete ich ihn. Was war das? Irgendetwas schien ihn zu quälen.
Ich musste es nutzen. Mit einer Hand stützte ich mich ab und versucht, nach hinten zurück zu weichen.
Wieder war ich nicht schnell genug.

Als er sich wieder erhob, hatte er Blut im Gesicht. Direkt unter den Augen.
„K-Kirren?“, hauchte ich leise und wollte weiter zurück weichen.
Doch er kam direkt auf mich zu, bewegte sich aber anders.
Dann sah er an sich herab. Ihm schien etwas einzufallen.
„Ahh, ja. Du musst diese… Hm. Wie war das noch…?“. Er kam näher. „Ja, genau, Anastasya. Ja. Du musst Anastasya sein. Du hast die Schlösser geöffnet, ja, die musst du sein.“
Er grinste und kniete sich vor mich.
„W-Was? Kirren?“. Meine Augen waren noch immer weit aufgerissen.
„Nein, das ist nur der Besitzer dieses Körpers.“, erwiderte… das.
Besitzer des Körpers?
Ich verstand kein Wort.
Aber – was immer es war – es verhielt sich anders als Kirren.
„Lass mich gehen!“, rief ich. „Ich habe dein Leben gerettet!“
„Nein, nicht meins.“
Wie sollte ich das verstehen? Stand da nicht Kirren vor mir?
Grinsend rammte er mir seinen Dolch in das andere Bein.
Ich schrie laut auf und hörte ihn ohrenbetäubend lachen. Gefiel es ihm etwa?
Mit der anderen Hand wollte ich auch hier versuchen, die Blutung zu stoppen.
Ich drückte sie fest auf den Schnitt am Oberschenkel. Das Blut an meiner Hand fühlte sich so seltsam an. Mein eigenes Blut…

Während ich mich noch vor Schmerzen am Waldboden krümmte, holte er die Sanduhr aus einer Tasche.
„Ahhh, die Seelen… Sie schreien – so wie du. Es ist so schön. Kannst du sie hören?“. Er hielt mir die Sanduhr ans Ohr.
Es war die Sanduhr, die Kirren mir bereits in Moordorf gezeigt hatte. Doch ich verstand nicht, was er meinte. Was sollte ich hören?
„Hmm, du bist zäh.“. Er nahm die Sanduhr von mir weg und drehte sie um. Dann stellte er sie auf einen Baumstumpf.
„Mal sehen, ob wir deine Seele brechen, bevor die Zeit abgelaufen ist.“
Mein ganzer Körper zitterte.
Seele… brechen?

Er begann etwas von Kirren und den Drachenlanden zu erzählen. Davon, was es mit der Sanduhr auf sich hatte.
Diabolisch grinsend riss er mit dem Dolch meinen Bauch auf, direkt unter dem Brustkorb. Wieder schrie ich laut auf, schrie, weil auch die Beine noch schmerzten, schrie, weil es kein Entkommen zu geben schien.
„Ja, schrei weiter!“
Wieder traten Tränen in meine Augen.
„Ich habe nichts getan! Lass mich gehen!!“, flehte ich schluchzend. Selbst meine Stimme zitterte. Doch er dachte gar nicht daran, mich gehen zu lassen. Stattdessen trat er mit seinem Stiefel auf meinen linken Oberschenkel. Ich spürte ein Knacken und brüllte meine Schmerzen in den Wald hinaus.
Wieso?

Dann war mein linker Arm dran. Er zog den Dolch über meine Schulter und ich wälzte mich schreiend im Waldboden. Das sorgte dafür, dass alles noch mehr weh tat, doch ich konnte nicht ruhig liegen bleiben.
Ich drückte mein Gesicht in den Boden. Alles schmerzte. Alles brannte.
Mir wurde langsam schwindelig.

Odin., dachte ich. Odin, ist das eine Prüfung? Oder willst du mich bestrafen?
Doch er antwortete mir nicht.
Das Etwas – was es auch war – schlich weiter um mich herum.
Dann riss er mit dem Dolch den rechten Arm auf.
Ich schrie und rollte mich weiter durch den Wald, rolltemich über meine Wunden.
„Hey!“, schrie das Etwas und trat mit dem Fuß auf die Wunde des linken Oberschenkels. Meine Schreie wurden lauter und er freute sich.
Wenn ich gekonnt hätte, hätte ich ihm diesen Gefallen nicht getan.
„Du kommst doch aus dem Norden, oder? Ja. Du siehst so aus, als würdest du aus dem Norden kommen.“
„Da.“, erwiderte ich leise.
Er zögerte kurz.
„Ach, ja, genau! Ja, so einen hab ich auch. Echt zäh.“. Er deutete auf die Sanduhr. „Der spricht auf jeden Fall genauso wie du.“
‚So einen hab ich auch‘, was meint er damit?

„Ach, ihr im Norden habt doch auch solche Götter… Wie hieß der noch? Ach ja! Odin!“
„Odin!“, schrie ich dem Himmel entgegen. Ja. Odin. Wieso half er mir nicht.
„Odin!“, tat er es mir gleich, doch er verhöhnte ihn.
„Odin… Was habe ich getan?! Hilf mir, Odin!“, schrie ich heiser. Ich zitterte und sank tiefer ins Gebüsch.
„Ach, dieser Wald! Pflanzen! Ich habe noch nie verstanden, warum man sie braucht!“. Er kam näher zu mir, ich zuckte zusammen, schrie auf und drehte mich weg, doch er riss nur die Pflanzen aus der Erde und warf sie beiseite.
„Du sollst mich doch anschauen, wenn ich mit dir rede!“
Grinsend verpasste er mir einen Hieb auf die rechte Schulter.
Die Schmerzen waren nicht mehr erträglich. Ich schrie den ganzen Schmerz heraus. Wieder sammelten sich Tränen in meinen Augen.
Er nahm den Dolch und leckte das Blut ab. Mein Blut.
„Mhhm.“, kommentierte er. „Lecker. Dabei weiß ich gar nicht, ob Kirren einen guten Geschmackssinn hat.“
Ich starrte ihn mit Tränen in den Augen an. Wieso?
„Odin… Odin. Wieso?“, murmelte ich schwach. Wieso half er mir nicht?
„Ach. Odin. Ja. Was tut Odin? Gibt es da nicht noch diesen Anderen? Irgendwas mit ‚L‘. Hm, ich komm nicht drauf.“
Er nahm meine linke Hand. Ich war nicht in der Lage, mich zu wehren. Ich ließ es geschehen.
Er hielt meinen Daumen fest.
Und rammte mir den Dolch unter den Nagel.
Wie eine Welle überflutete mich der Schmerz, ich schrie auf, wand mich, doch was tat er? Er riss den Fingernagel heraus. Eine erneute Welle des Schmerzes. Mein Schreien wurde lauter, ich drückte meinen Kopf wieder in den Waldboden, spürte Dornen, die sich in meine Haut rissen und spürte sie doch nicht.
„Wie schön du schreien kannst.“, merkte er an.

Kurz warf er einen Blick zu der Sanduhr.
„Oh, die Zeit ist ja schon um.“, stellte er fest und nahm die Uhr in die Hand.
Er hielt sie wieder an mein Ohr. Ich vernahm leise Schreie. Es waren Tausende.
Schockiert starrte ich ihn an und schrie selbst auf.
Was hatte das zu bedeuten? Vorhin hatte ich noch nichts gehört?
Wurde ich langsam verrückt?
„Du kannst sie hören?“, fragte er lauernd. Sein rotes Auge blitzte auf. „Aber du bist trotzdem zäh… Wie komme ich denn an deine Seele?“
„Njet! Nicht meine Seele!“
„Ach… Willst du denn nicht da rein? Da ist es viel schöner als… Wie heißt das bei euch? Walhalla? Ach. Jetzt weiß ich auch, wie der Gott heißt. Loki, nicht wahr?“

Auf einmal begann er etwas zu erzählen. Erzählte etwas von Kirren und seiner Heimat. Etwas von Magie.
„Kirren ist nicht magisch.“, protestiert ich. Sonst wäre das alles doch gar nicht passiert! Was redete er da?
„Hm, doch. Er konnte Magie wirken. Aber er weiß selbst nicht mehr, wie.“
Ich glaubte ihm nicht. Das musste eine Lüge sein. Nur wieso?
Er sah den Dolch an und grinste. Ich machte mich schon auf weitere Schmerzen gefasst. Doch was er dann tat, überraschte mich.
Er schnitt sich in den eigenen Arm.
„Herrlich. Hörst du ihn schreien?“. Er grinste und schien es zu genießen. Ich hörte nichts. Das stellte er dann auch fest.
„Ach nein. Du kannst ihn ja nicht hören.“. Er wirkte ehrlich enttäuscht. „Hm. Vielleicht klappt das mit der Magie ja mit Blut. Blutmagie.“
Er grinste und drückte seinen blutverschmierten Daumen auf meine Stirn.
Was würde passieren? Von was für einer Magie sprach er da? Blutmagie?
Doch ich spürte nichts.
Seine Enttäuschung wurde größer, doch dann schien ihm etwas anderes einzufallen. Gar nicht gut.

„Ach ja. Wie hast du ihn nochmal geheilt? Wie war das noch?“. Er schien einen Augenblick nachzudenken. Dann grinste er. Es sollte nichts Gutes für mich verheißen.
Er drückte auf meinen Daumen. Auf die Stelle, wo der Fingernagel gewesen war.
Ich krümmte mich auf dem Waldboden und schrie auf.
„Wie war das?!“
„Runen!“, wimmerte ich ihm entgegen und hoffte, dass er mich nicht verstanden hat.
„Genau! Runen!“
Er öffnete die Taschen an meinem Gürtel und zog einen roten Beutel heraus. Welchen hatte er? Den mit den Runen oder den mit den Münzen? Sollte er doch die Münzen nehmen… Aber meine Runen? Meine Verbindung zu Odin?
Der Beutel klimperte nicht.
Die Runen.
Das waren die Runen.
Ich starrte ihn an. Er grinste noch immer und öffnete langsam den Beutel.
„Ahh ja.“
„Nicht anfassen!“, flehte ich. „Nicht!“
Sein Blick ließ kurz vom Runenbeutel ab und fixierte mich. Das rote Auge… Es starrte mich an. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Dann wurde sein Grinsen noch breiter. Er schüttete die Runen achtlos in seine Hand.
„Njet!“
Jetzt waren sie unwirksam.
Niemand außer mir durfte sie berühren…
Und er. Ausgerechnet er… Er hatte sie alle berührt.
„Hm… Interessant.“. Ich blinzelte zu ihm auf und sah, wie er du Runen zu durchsuchen schien. Unter Schmerzen versuchte ich, von ihm weg zu robben. Immerhin wirkte er abgelenkt. Doch der Körper ließ es nicht zu. Die Schmerzen waren zu stark. Ich kam nicht weit.
„Was ist das?“. Er hielt eine Rune hoch. Ich blinzelte. Alles war verschwommen. Ich erkannte es kaum.
„Ansuz.“, murmelte ich leise. Die Rune Odins. Die Verbindung zwischen Odin und dem Menschen. Gerade diese Rune.
Stellte Odin mich vor so eine Prüfung? Oder hatte er mich bereits verlassen?
Hatte Bjorn Recht gehabt? War es falsch, mit Odin zu sprechen? War es falsch, durch ihn Verletzungen zu heilen? War es falsch gewesen, Kirren zu heilen?
„Ansuz.“, wiederholte er. „Klingt langweilig.“
Er legte sie zurück in die Hand, zu den anderen Runen.
Auf einmal blitzte etwas in seinen Augen auf.
Ich wusste sofort, dass das nichts Gutes bedeuteten würde.
„Das ist ja interessant. Das erinnert mich an etwas.“
Er sah zu der Sanduhr.
„Was ist das für eine Rune?“
Er hielt eine Weitere hin.
Ich musste mich konzentrieren, aber irgendwoher wusste ich schon, welche Rune er mir zeigte.
„Dagaz.“, murmelte ich leise.
Es war die Rune.
Die Rune, die ich Kirren bei der ersten Heilung auf Burg Grenzstein als Schicksalsrune gezogen hatte.
„Wofür steht die Rune?“, fragte er.
Eigentlich wollte ich es ihm nicht sagen. Doch ich hoffte, dass ich länger überleben würde, wenn ich ihm die Fragen beantwortete. Auch, wenn ich nicht wusste, was passieren sollte. Wer sollte mich retten? Niemand außer Breeg wusste, dass ich hier war. Und Breeg lag im Wald. Das einzige, was ich wirklich hoffte, war, dass er überlebte. Er hatte mit der Sache doch gar nichts zu tun gehabt.
„Tag und Nacht. Gleichgewicht. Und Wandel.“
Er grinste.
„Tag und Nacht? So wie Leben und Tod?“
„Ist Rune, die Kirren auf Grenzstein in Hand bekommen hat.“, murmelte ich leise.
Ich weiß nicht, warum ich das sagte. Die letzten Tage hatte ich so viel darüber nachgedacht. Und jetzt… Wieso hatte er sie gerade jetzt in der Hand? Wieso ähnelte sie falsch herum einer Sanduhr? Und wieso stand sie auch noch für den Wandel. Etwa für den Wandel, der mit Kirren geschehen war?
Odin musste es gewusst haben.
„Odin… Wieso? Was habe ich nur getan?“, schluchzte ich leise.
„Ach, wirklich? Diese Rune?“. Er sah sie sich genauer an.
Dann legte er sie in meine rechte Hand.
„Mit der anderen habe ich noch was vor.“, verkündete er stolz und sah mich an.
„Also los! Benutz die Rune! Genau, geheilt hast du damit. Mach es!“, forderte er mich auf.
Ich wollte nicht.
Und ich konnte nicht.
„Odin hört mich nicht mehr.“, murmelte ich. Als ich es aussprach, bemerkte ich, dass es stimmte. Er würde mir nicht mehr helfen. Bjorn hatte Recht gehabt. Man durfte nicht mit den Göttern sprechen. Ich hätte auf ihn hören sollen. Dann wäre ich jetzt nicht hier.
Er lachte höhnisch.
„Als ob er jemals auf dich gehört hätte!“
„Hat er!“, widersprach ich ihm. Da war ich mir sicher.
„Und hat er dir jemals geantwortet?“
„Da!“. Ich bestand darauf. Mit einem letzten aufkeimenden Hoffnungsschimmer umschloss ich die Rune in meiner rechten Hand. Ich würde sie nicht mehr loslassen.
„Und was hat er geantwortet?“
Ich erwiderte nichts. Mir war schwindelig. Die Welt verlor mehr und mehr an Farbe.
„Was hat er geantwortet?!“. Sein Ton wurde lauter.
Ich schüttelte den Kopf.
Daraufhin nahm er meine linke Hand. Nahm meinen Zeigefinger.
Ich atmete tief ein. Nein. Wieso?
Er schnitt mit dem Dolch hinein.
„Was hat er geantwortet?“, polterte er und riss meinen Fingernagel heraus.
Ich schrie laut auf und drehte mich auf dem Waldboden.
„Er hat mir Schicksal gesagt.“
Nur die halbe Wahrheit. Es war nicht genau mein Schicksal. Es war das Schicksal mehrerer gewesen.
Wieder lachte er.
„Das Schicksal also. Und? Wie war das?“
Als ich nicht antwortete, wurde er wieder lauter.
„Wie war das?!“, schrie er mir entgegen. Ich zuckte zusammen.
„Hat er gesagt komme ich nach Walhalla.“, erwiderte ich.
Das entsprach auch nicht der Wahrheit. Das hatte Odin nie versprochen. Und in diesem Moment zweifelte ich auch daran.
Walhalla war so fern wie noch nie. Doch ich konnte schon die Tore Helheims sehen. Dort würde meine Reise enden. Jetzt und hier?
Es wurde immer blasser. Alles. Als würde sich die Welt schon verabschieden.
Immerhin würde mich dieses… Etwas… dann in Ruhe lassen.
„Ach, immer dieses Walhalla. Deine Seele kommt mit in meine Welt. Dort ist es viel schöner als in Walhalla.“
Ich schüttelte den Kopf. Selbst das schmerzte. Mir war so schwindelig. Ich war müde. Mir war kalt, nur das warme Blut bedeckte mich. Mein eigenes Blut.
„Oh? Anastasya?“. Etwas schlug gegen meine Wange. Ich riss die Augen wieder auf. Kirrens Gesicht. Ich erschrak. Mein ganzer Körper zitterte. Vor Kälte. Vor Angst.
„Lass mich gehen…“, flehte ich schwach.
„Wo willst du denn hin?“, verhöhnte er mich.
„Weg.“, gab ich nur zurück.
„Ja. Ich will auch weg. Ich hasse Wälder. Wer braucht die schon?“
Nein, Wälder hasste ich nicht. Aber ihn. Wer auch immer er war.

„Da fällt mir etwas ein.“
Er kam näher, beugte sich über mich. Das Messer noch immer in der Hand.
Er beugte sich über mein Gesicht.
Dieses Auge. Der hasserfüllte Blick.
Mein Zittern hörte nicht auf.
Das Messer näherte sich meinem Gesicht. Nein. Was hatte er vor?
Ganz langsam drückte er die scharfe Klinge in die Haut meiner Stirn.
Sein Grinsen dabei wurde von Augenblick zu Augenblick breiter.
Ich schloss die Augen und wimmerte. Ich wollte nicht.
Er zog mit dem Dolch vier Linien. Langsam, ganz langsam.
Irgendwann wurde mein Wimmern zu einem Schrei.
Woher ich noch Kraft zum Schreien hatte ist mir ein Rätsel.
Er genoss es.
Es war Dagaz, falsch herum, was er mir in die Stirn geritzt hatte.
Sanduhr. Als Zeichen seiner Sanduhr.

Alles tauchte sich immer mehr in die Schwärze. Ich wusste, dass ich verloren war, wenn ich jetzt die Augen schließen würde.
Die Tore Helheims. Sie waren direkt dort. Zum Greifen nahe.
Hels Armee. Ich würde kämpfen wie die Geister, gegen die wir am Turm gekämpft hatten. Willenlos. Auf der falschen Seite.
Aber vielleicht würde ich dann Bjorn gegenüberstehen. Zumindest für einen kurzen Augenblick.
Bjorn… Wieso hatte ich nicht auf ihn gehört. Wieso war ich in Moordorf nicht einfach im Zimmer geblieben?
Tränen liefen über meine Wangen und ich schluchzte.
„Odin…Wieso? Wieso hast du mich verlassen?“. Meine Stimme glich mehr einem leisen Hauch.
„Ich kann es für dich beenden.“, schlug er vor. Ich blinzelte langsam. Sah den Dolch. Die Erlösung?
„Njet!“, keuchte ich.
Auf einmal überkam mich ein seltsames Gefühl der Angst.
Alles andere war taub. Nur die Angst. Alles hörte auf die Angst.
Ich riss die Augen auf. Starrte den Dolch an, starrte dann in dieses hasserfüllte Gesicht.
„Ich kann dich erlösen.“, wiederholte er.
„Njet!“. Meine Stimme war noch da. Er hatte es gehört. Und er seufzte.
„Durch Schmerzen lässt sich deine Seele nicht ganz brechen… Es muss einen anderen Weg geben. Mal sehen.“
Was wollte er denn mit meiner Seele? Wieso sammelte er Seelen? Was stellte er mit ihnen an?
Keiner meiner Gedanken half mir.

Er sah sich um. Erblickte den Graben neben dem Baumstumpf und grinste.
„Ah. Kirren hat sogar daran gedacht, eine Grube für dich auszuheben? Wie klug von ihm.“, stellte er fest.
Eine Grube. Ja. Er wollte mich töten. Kirren. Und er auch.

„Hm.“. Was überlegte er?
Dann nahm er sich meine linke Hand.
Nein. Wollte er sein Werk vollenden?
„Nicht…“. Es half nicht.
Er schnitt die Fingerkuppe des dritten Fingers auf und zog den Fingernagel heraus. Ein Schrei. Es war mein eigener, doch ich erkannte ihn kaum.
Mein Körper wälzte sich vor Schmerz auf dem Boden.
Es war, als stände ich daneben. Wie ein Geist. War es schon so weit? War ich schon auf dem Weg zu Hels Armee?
Der nächste Finger. Die Schmerzen fühlten sich komisch an. Dumpf. So, als würde ich die Schmerzen von jemand Anderem spüren. Wieder ein Schrei – noch immer mein eigener. Der Körper krümmte sich im Laub und Dreck des Waldes. Und im eigenen Blut. Es war überall. Ich spürte es. Trockenes, klebendes Blut. Frisches, warmes Blut.
Der nächste Finger. Der Letzte an der Hand. Der kleinste Fingernagel.
Das bemerkte er auch, denn er stach zweimal in die Fingerkuppe, ehe er den Fingernagel erwischte, um ihn zu ziehen.
Der Schrei hallte durch den Wald, doch es war niemand hier. Niemand, der zur Rettung eilte. Niemand, der wusste, wo wir waren.

„Hm. Was können wir denn noch machen? Ah! Ich weiß!“
Er verschwand für einen kurzen Augenblick und kam dann mit einem Gegenstand in seiner Hand wieder.
Das Licht, das von diesem Gegenstand ausging, blendete mich. Eine Laterne.
„Das hat Kirren irgendeinem Trottel abgenommen.“, erklärte er.
Was hatte er vor?
Er schien, die Laterne öffnen zu wollen.
„Lassen wir das mal erhitzen.“
Er kam wieder näher zu mir. Was machte er da? Ich verstand es nicht. Was wollte er erhitzen?
Dann fiel es mir ein.
Feuer. Verbrennen. Er wollte meine Haut verbrennen? Mich verbrennen? Ich konnte ihn nicht aufhalten. Ich konnte mich nicht einmal bewegen.
„Wieso…?“, hauchte ich tonlos. Ich hatte endgültig keine Kraft mehr.

Ich blinzelte wieder. Es fiel mir so schwer, die Augen offen zu halten. Und wofür überhaupt? Die Schmerzen würden aufhören. Etwas in mir versprach es.
Schlaf.
Du kannst jetzt endlich schlafen.

„Du willst nicht hier bleiben und du willst nicht, dass ich es beende. Ich verstehe dich nicht.“. Er wirkte ehrlich verwirrt.
Auf einmal vernahm ich einen Schrei.
Mein eigener?
Nein. Das konnte nicht sein. Es war anders.
Er richtete sich auf und fing an zu lachen.
„Ah, das ist doch. Ist das nicht der Begleiter? Hier… Wie heißt er denn nochmal?“
Noch immer blinzelte ich. Ich konnte meine Augen nicht offen halten, doch ich kämpfte noch dagegen an, sie für immer zu schließen.
Deswegen wusste ich nicht, ob ich mir den Schrei eingebildet hatte.
Ich hörte, wie er um mich herum schlich.
„Das ist doch der Große? Na? Der mit der Axt?“. Es klang als würde er lächeln, während er sprach. Was freute ihn so?
Dann kam er wieder näher.
Er drückte auf meine Finger. Genau dorthin, wo die Fingernägel gewesen waren.
Ich schrie laut auf.
„Bjorn!“
„Genau, Bjorn heißt er! Bjorn! Komm her!“, schrie er in den Wald.
Bjorn? Das konnte nicht sein.
War das ein Werk Lokis? Kurz, bevor ich seine Tochter in Helheim treffen würde?

Er näherte den Dolch zu meinem Gesicht. Dann drückte er ihn einfach auf meine Stirn. Ich schrie. Er drückte fester. Ich schrie lauter.
Es freute ihn. Er lachte zufrieden.
Dann drückte er einzeln auf die Finger. Wieder an die Stellen, an denen der Fingernagel gewesen war.
Jedes Mal schrie ich auf.
„Hmm- Ein schöner Ton.“, kommentierte er jeden Schrei einzeln.
Ich wand mich auf dem Boden. Spürte Dornen in meinem Gesicht. Laub in meinem Mund. Ich schluchzte und hustete und bekam kaum noch Luft.
Meine Augen fielen immer wieder zu.
„KIRREN!“. Diesmal war ich mir sicher. Es war Bjorns Stimme.
Das musste Loki gewesen sein – in Bjorns Gestalt.
„Bjorn!“, rief er zurück. „Bjorn komm her, ich hab etwas für dich!“
Ich wollte nicht mehr.
Ich war doch schon fast in Helheim. Es hatte keinen Sinn. Ich hatte verloren. Das war das Ende.

„Ich glaube, du musst lauter schreien.“, stellte er fest und drückte wieder auf meine Finger. Diesmal auf alle gleichzeitig.
Ich spürte die Schmerzen noch. Der Schrei war lauter als je zuvor. Es schmerzte so sehr. Es war furchtbar.
Wieso hatte ich nicht zugestimmt, als er mir angeboten hatte, mich zu töten? Wieso hatte ich nicht die Erlösung gewählt?
Er machte weiter. Schien, meine Schreie herauszufordern.
Ich schrie. Es war mir egal. Ich würde hier sterben.
Konnte man vor Schmerzen sterben? Oder musste ich noch so lange leiden, bis ich all mein Blut verloren hatte? Ich hoffte, dass es schnell gehen würde.

Auf einmal ließ er von mir ab.
Ich glaube, dass er lachte. Sicher war ich mir nicht.
„Ah, ich sehe, du bist nicht allein gekommen.“
Er stürmte wieder auf mich zu. Ich wimmerte ängstlich und er hielt mir den Dolch an die Kehle.
„Bjorn. Lass deine Axt fallen.“
Ich spürte, wie er den Dolch fester in die Haut meines Halses drückte. Es brannte. Wurde immer schlimmer. Ich schloss die Augen.
Töte mich., dachte ich. Loki ist schon hier. Töte mich und bring mich zu seiner Tochter. Bring mich zu Hel.
Doch er tat mir den Gefallen nicht.
Er nahm den Dolch von meinem Hals.
Es war, als hätte sich ein schwarzer Schleier um mich gelegt, der mich zu erdrücken drohte. Wie Nebel. Schwarzer Nebel.
Die Geräusche in diesem Wald kamen nur noch gedämpft zu mir.
Irgendwo hörte ich Kirrens Namen. Dann meinen Namen. Sie redeten über uns?
Die Stimme war so bekannt. Rhea? Lynx? Waren sie es? Aber… Wie konnte das sein?
Er, der ja nicht Kirren war, schnitt mit dem Dolch die Haut an meinem Arm ein. Ich schrie laut auf. Doch er hörte nicht auf.
Es folgte ein Schnitt ins Gesicht. Ich heulte auf. Wand mich unter Schmerzen.
Wieder Stimmen von irgendwo.
Und dann sprach er.
Ich verstand nicht, was er sagte. Es klang wirr. Ich war müde.
„Das Spiegelbild.“
Eine vertraute Stimme.
Cato.
Wieso? War es nicht ein Werk Lokis?
Waren sie alle wirklich hier?
Oder war das bereits meine Bestattung?
Waren sie alle gekommen, um mich nach Helheim zu verabschieden?
Ein Knurren erklang. Dann Schritte.
Er rannte.

Ich weiß nicht genau, was dann geschah.
Das Nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass zwei Personen um mich herum saßen.
Ich blinzelte. Sie sahen mich an. Ich kannte sie.
Sie waren nicht tot. Dies hier konnte nicht Helheim sein.

Alles schmerzte. Mir war so schwindelig.
Sie redeten. Ich hörte nur einzelne Worte. Mehr nicht.
„Heilerbesteck“ und „Nähen“ zum Beispiel.
Auf einmal sah ich ihre Gesichter, obwohl meine Augen geschlossen waren.
Cato und Runa.
Sie waren hier.
Sie wollten mich umdrehen und fassten dabei in Wunden. Ich schrie auf und schluchzte. Ich wollte nicht mehr.
„Lasst mich einfach sterben.“, murmelte ich leise.
Von der Seite sprach jemand anderes.
„Njet! Oder willst du nach Helheim?!“. Es war Bjorn. Er war wütend. So wütend. Auf mich.
Auch Cato und Runa schüttelten den Kopf.
„Du wirst nicht sterben.“
Ich blinzelte zu ihnen auf. Es war anstrengend.
Sie wollten mich nicht gehen lassen.
Als die Schwärze mich wieder verschluckte, bekam ich nur mit, dass sie über meinen Blutverlust sprachen. Und meinen Herzschlag. Niedrig.
Ich spürte ihn noch. Hämmerte in meinem Kopf. Dann endlich Schwärze.
Hatte ich es geschafft?

Ich hustete. Irgendwas roch übel. Ich blinzelte. Es war hell. Wo kam die Helligkeit her? Cato und Runa. Es war der Wald. Nicht Helheim. Dann spürte ich Stiche. Es kam mir bekannt vor. Ich schrie heiser auf. Nadelstiche. Ich wollte auch nicht mehr schreien. Ich hatte keine Kraft. Tränen sammelten sich wieder in meinen Augen.
„Lasst mich hier liegen…“, flehte ich.
Mein ganzer Körper schmerzte.
Ich hörte, wie Runa etwas sprach.
Kurz danach durchfuhr ein Schmerz meinen gesamten Körper.
Ich schrie laut auf und wand mich auf dem staubigen Waldboden. Es machte alles noch viel schlimmer.
„Die Wunde ist wieder aufgeplatzt!“, rief jemand erstaunt.
Was war passiert?
Dann wieder Nadelstiche. Es war furchtbar. Sie würden mich nicht liegen lassen.
Der altbekannte Freund – die Schwärze – hieß mich wieder willkommen.
Es war schön. Die Schmerzen wurden weniger. Alles wurde taub.
In der Ferne hörte ich noch andere bekannte Stimmen.
Der Alchemist. Batras?
Sogar Lord Cecil?
Und irgendwo hier musste auch Bjorn sein.
Nur ich nicht mehr.

Als ich wieder erwachte, war mein Körper in Bewegung.
Verwirrt versuchte ich zu verstehen, was los war. Doch alles war verschwommen.
Weiß. Jemand trug mich. Weiß. Weiße Kleidung.
Es war nicht Hel. Es waren auch keine Walküren, die mich nach Walhalla bringen würden.
Ich blinzelte erneut. Der Wald. Ich erkannte ihn. Wir gingen aus dem Wald. Ich versuchte, den Kopf zu drehen. Es gelang mir nicht wirklich.
Wer trug mich?
Cato. Es musste Cato sein.
Wohin trug er mich?
Runa… Sie hatte ich auch gesehen.
Das musste das Phönixnest sein.
„Phonixnest…“, murmelte ich, dann verschlang mich die Dunkelheit.

Beim nächsten Erwachen trug mich jemand Anderes.
Wir waren noch immer im Wald.
Hatte Kirren mich so weit durch den Wald geschliffen?
Oder war der Weg zum Phönixnest so weit?
Wie hatten sie mich überhaupt gefunden?
Ich versuchte zu erkennen, wer mich trug.
Die Axt. Die Rüstung.
Bjorn.
Es war Bjorn.
Ich dachte, dass er sauer auf mich sei.
Doch er trug mich… Wieso?
Auf einmal fand ich mich auf dem Boden liegend wieder.
Was war passiert?
Mir tat alles weh.
Ich drehte den Kopf, versuchte, zu erkennen, was los war.
Bjorn lag dort auch.
Und weiter hinten.
Kirren.
Ich riss die Augen auf, meinen Herzschlag konnte ich wieder überall spüren. Schnell. Hektisch. Und dann fielen mir die Augen zu.

Als ich das nächste Mal erwachte, waren wir auf einem breiteren Weg angekommen.
Ich erkannte es. Der Weg zum Phönixnest.
Jemand Großes trug mich. Schwarz gekleidet.
Auch er kam mir bekannt vor.
Lord Cecil. Es war Lord Cecil.
Wieso trug er mich?
Sie alle? Wieso hatten sie mich nicht einfach zum Sterben liegen gelassen?

Am Phönixnest angekommen, legte Lord Cecil mich auf einer Wiese ab.
Überall waren Stimmen, ich konnte keine davon verstehen. Worüber redeten sie?
Das Licht verschwand langsam wieder. Ich schloss die Augen.
Die Schwärze holte mich.
Kämpfte Hel gerade um meine Seele?
Mit wem? Wollte die Sanduhr sie haben? Der in Kirrens Körper… War Kirrens Seele auch gefangen?

Wieder erwachte ich, weil etwas widerlich roch.
Ich hustete keuchend und wollte mich zur Seite drehen.
Es gelang mir nicht, dafür tat alles weh.
Cato und Runa waren da und schienen noch immer meine Wunden zu versorgen.
Auf einmal schrie Jemand.
Ich hörte Schritte durch das Gras.
Dann das Schnaufen der Untoten.
Die Untoten. Sie waren noch immer hier.
Ich konnte nicht kämpfen.

Doch es schienen genug Krieger dort zu sein.
Cato und Runa blieben bei mir.
Ich blinzelte zu ihnen.
Sie wollten mich wach halten.
Ich weiß nicht, warum sie mich nicht einfach schlafen ließen.
Ich war doch so müde.
Mein Körper zitterte. Es war kalt. Mir war kalt

Ich bekam mit, dass sie überlegten, was sie mit meiner linken Hand tun sollten.
Die linke Hand?
Ich bewegte sie vorsichtig… Und schrie auf.
Für einen kurzen Augenblick hatte ich vergessen, dass die Fingernägel… fehlten.
Sie wollten die Wunden mit Alkohol reinigen.
Ich schüttelte ganz langsam den Kopf.
Ich wollte nicht.
Es tat doch schon alles weh.
Sie benetzten den Daumen mit Alkohol.
Ich schrie auf und riss den Arm zurück, spürte dabei die Schmerzen in der Schulter.
Es hatte doch keinen Zweck.
Ich schluchzte und wimmerte. Wieso? Wieso mussten sie das tun?
„Ich weiß, das brennt…“, bestätigte Runa leise.
Ich wimmerte weiter vor mich hin.

So reinigten sie jeden einzelnen Finger. Die Schmerzen wurden nicht besser. Ich gewöhnte mich auch nicht daran. Wer auch immer das einmal behauptet hatte, war ein Lügner. Es wurde nicht besser. Nur schlimmer. Immer schlimmer.

Bald kamen zwei weitere bekannte Gesichter zu mir.
Ich war bereit, wieder in die Schwärze zu tauchen, doch sie ließen es nicht zu.
Sie schlugen sanft auf meine Wange und ich erschrak. Das hatte er doch auch gemacht.
Jemand hielt mir eine Flasche an den Mund. Ich blinzelte. Kora. Ich kannte sie.
Die Flüssigkeit war grün. Ich hustete. Es war widerlich.
Und ich wurde von der Schwärze verschlungen.

Wieder weckte mich etwas.
„Anastasya!“
Jemand hielt mir ein grünes Blatt hin. Ich wollte sehen, wer dort vor mir war.
Das Bild war verschwommen, doch nach einem kurzen Augenblick erkannte ich ihn.
Es war Batras, der Alchemist. Hatte ich ihn nicht schon im Wald gehört?
Oder hatte ich mir das eingebildet?
Sie sprachen etwas davon, dass ich das Blatt auf meine Zunge legen sollte.
Dass es betäubt.
Ich fühlte mich schon taub. Wofür also?
Doch ich tat es. Mir blieb sowieso keine Wahl.
Das Blatt schmeckte nach gar nichts.
Dann hielt Batras mir einen Trank an den Mund. Die Farbe war rot.
Meine Zunge spürte ich nicht mehr.
Betäubt.
Sie hatten recht.
Nur wozu?
Als ich die ersten Tropfen der roten Flüssigkeit im Mund hatte, verstand ich.
Es schmeckte furchtbar.
Ich hustete panisch. Was sollte dieser Trank? Wieso musste ich ihn zu mir nehmen?
Batras setzte ihn erneut an meine Lippen.
Widerwillig schluckte ich weitere Tropfen herunter. Der Geschmack wurde nicht besser. Im Gegenteil.
Ich hustete wieder. Würgte etwas. Es war schlimm. Doch ich behielt den Trank in mir. Immerhin etwas.

Wieder wurde gekämpft. Diesmal beteiligte sich auch Cato, denn er hockte nicht mehr bei mir.
Irgendwann sah ich, dass Breeg bei mir war.
„Breeg.“, murmelte ich schwach. „Wie geht es Euch?“
Er schüttelte den Kopf und lächelte traurig. „Wie geht es Euch?“
„Haben sie sich um Wunden gekümmert.“, erwiderte ich.
Was wollte er hören? Dass alles gut sei? Wieso sollte ich lügen?
„Was ist mit der Rune?“, fragte Breeg. Ich blinzelte ihn verwirrt an.
Welche Rune meinte er?
Erst jetzt stellte ich fest, dass ich Dagaz immer noch in der rechten Hand hielt.
„Ist Rune… Hat er benutzt um Zeichen auf Stirn zu schreiben…“, erklärte ich schwach.
„Darf ich die Rune anfassen?“, fragte Breeg.
„Da. Hat er jede Rune angefasst.“, erwiderte ich.
„Also kann jeder jetzt die Runen anfassen, ohne dass etwas passiert?“, fragte Breeg. Ich nickte.
„Passiert nie etwas. Wird Rune nur unwirksam wenn jemand außer mir sie anfasst. Muss ich wieder reinigen und aufladen. Dauert lange.“
Es war anstrengend, so viel zu sprechen.
Breeg nickte und nahm die Rune aus meiner Hand. Ich schloss die Augen wieder.

Cato und Runa schlugen vor, mich zu dem Tisch zu bringen, an dem zwei Barden saßen.
Sie fanden, dass ich nicht wie ein Häufchen Elend auf der Wiese sitzen sollte.
Wie das Häufchen Elend, das ich bin?, dachte ich, doch ich ließ sie mich stützen.
Ich wollte sie ja nicht traurig machen.
Das hatten sie nicht verdient.

Meine linke Hand hatten sie mit einem Handschuh überzogen, damit kein Dreck in die offenen Wunden gelangen würde.
Und die Heilung würde lange dauern, das hatten sie mir auch mitgeteilt.
Kein Bogen schießen.
Kein Kämpfen.
Sie brachten mich zu der Bank. Runa legte ihren Mantel auf der hölzernen Bank aus und half mir dann dabei, mich hin zu legen.
Ich starrte hinauf, starrte in die Leere.
Der Mann, der auf der gegenüberliegenden Bank saß, meldete sich zu Wort.
Er fragte, ob er störe, wenn er Musik spiele. Runa verneinte dies.
Dann fragte er, was mir widerfahren sei. Ich wollte nicht antworten. Und wahrscheinlich wäre ich auch nicht in der Lage dazu gewesen.
„Jemand hat sie so schlimm zugerichtet.“, erklärtesie.
Es kam mir wieder in den Sinn. Alles. Ich schloss die Augen und sank hinab.

Im Traum kehrte alles wieder.
Ich sah Kirren. Ihn, seinen Körper. War es Kirren oder der Andere?
Das Grinsen. Es musste der Andere sein. Nein. Ich musste weg. Alles war voller Blut. Ich sah mich um. Ich war nicht allein. Cato, Runa, Bjorn, Lynx, Rhea, Breeg. Er hatte sie alle.
Ich schrie auf – und erwachte.
Ein Traum. Es war nur ein Traum.
Doch als ich sah, wo ich war, musste ich feststellen, dass nicht alles ein Traum gewesen war.

Bjorn kam zu mir und starrte mich an.
„Wie konnte passieren?“
Er war wütend.
„Hab ich nicht gesehen Kirren. Nur zu spät. War ich müde…“
Ich wollte nicht darüber nachdenken, doch Bjorn zwang mich.
„Warum du bist alleine gegangen? Waren wir in Moordorf! Hast du schlecht geträumt, bin ich in Zimmer gegangen. Habe dir Fell gegeben. Wache ich auf, bist du weg! Sagst du bist du müde. Habe ich seit Tagen nicht geschlafen weil ich gesucht habe!“
Er drehte sich um und verschwand wieder.
Er hatte recht.
Wieso war ich gegangen?
Ich wollte weg von Kirren. Und war ihm doch immer nur näher gekommen.
Tränen sammelten sich in meinen Augen und ich weinte.
Bjorn war wegen mir so wütend.
Bjorn war wegen mir so müde.
Ich hatte ihn traurig gemacht.
Ich hatte ihm Sorgen bereitet.
Dabei wollte ich das gar nicht.
Ich schluchzte. Runa bemerkte das. Sie setzte sich zu mir an meinen Kopf, streichelte über mein Gesicht und fragte, was los sei.
Ich konnte nicht sprechen. Und ich wollte auch nicht.
Ich murmelte nur etwas von „Bjorn“. Und sie schien zu verstehen.
Runa sprach weiter mit mir und irgendwie beruhigte sie mich.
Der gegenüber sitzende Mann begann, auf seiner Laute zu spielen und zu singen.
Ich wollte davon nichts hören.
Ich wollte… Ja, was wollte ich? Ich wusste es nicht einmal. Alles und doch gar nichts.

Auf einmal waren wieder Rufe zu hören. Untote? Kämpften sie wieder?
Nein. Kirren. Ich sah Kirren.
Er war gefesselt.
Leute redeten über ihn.
Es klang wie bei einer Auktion.
Ein Mann fragte, ob jemand etwas mit diesem Mann zu tun habe.
Ich konnte meinen Kopf nicht lange heben, also ließ ich ihn wieder sinken.
Allgemein war es einfach sehr laut.
Dann wieder Geräusche des Kampfes.
Wer kämpfte?
Ich versuchte, meinen Kopf wieder zu heben.
Ich sah Bjorns Axt. Er schwang sie. Fest. Traf etwas. Holz brach.
Was hatte er gemacht?
Einige Umstehende schlugen sich die Hände vor den Mund.
Was war passiert?
Dann sah ich Bjorn nicht mehr.
Waren dort wieder Untote?
Alles war verschwommen. Ich war mir nicht sicher.

„Wo ist Bjorn? Geht es ihm gut?“, fragte ich leise. Runa lächelte. „Ich glaube, um den musst du dir keine Sorgen machen.“
Die Schwärze empfing mich und hüllte mich ein.

Als ich wieder erwachte, schlug Runa vor, mich aufzusetzen. Ich nickte. Sie half mir. Es tat weh, doch wir schafften es.
Cato kam dazu. Sie wollten nach meinen Wunden schauen.
Vorsichtig lösten sie einen Verband nach dem anderen.
Die Schmerzen am linken Oberschenkel waren noch immer stark.
Alles andere war besser geworden. Nicht gut, aber besser. Immerhin etwas.
Sie wickelten die Verbände ab und nahmen auch den von meiner linken Hand. Ich starrte sie an. Starrte auf die Stellen, an denen die Fingernägel gewesen war. Sie waren blutverschmiert. Es sah so fremd aus. Als wären es nicht mehr meine Finger.

Ich hörte, wie ein paar Magier über Kirren sprachen. Über Kirren und seinen Fluch.
Sie kamen auf den Entschluss, einen Exorzismus durchführen zu müssen.
Wie bei Bjorn.
Ich wusste, dass es eine schlechte Idee war.
Kirren vertrug doch keine Magie mehr… Wenn sie ein so starkes Ritual durchführten… Nicht auszudenken.
„Njet. Ist nicht gute Idee.“, kommentierte ich leise, doch mich hörte keiner von ihnen. Aber Runa. Sie bekam es mit. „Was sagst du?“
„Kirren stirbt… Dann wird dieses Ding auf anderen übertragen. Wir bringen uns gegenseitig um.“, erwiderte ich.
Runa machte die Magierinnen auf mich aufmerksam.
Sie musterten mich abschätzig.
Es machte mich wütend. Allein ihr Blick. Waren sie etwas besseres, weil sie hier waren und nicht im Wald? Weil sie nicht das Opfer waren?
Ich erklärte es noch einmal. Dass sie Kirren töten würde. Dass es nichts bringen würde. Dass es uns nur mehr schaden würde.
„Ja. Das wissen wir. Aber es gibt keinen anderen Weg. Also machen wir das so.“
Ich war fassungslos. Es war ihnen egal. Es störte sie nicht.
Schon beim letzten Mal war diese Frau so schrecklich gewesen.
Sie interessierte sie überhaupt nicht, dass noch mehr sterben würden. Es konnte auch auf sie überspringen. Oder ihre Freunde – wahrscheinlich hatte sie keine.
Wahrscheinlich war es ihr deswegen egal.
Doch mehr als es ihr sagen konnte ich auch nicht.

Sie zogen einen Kreis um den gefesselten Kirren. Und die Magier begannen.
Kirren schrie laut, krümmte sich, rollte sich über die Wiese. Er litt. Und es war Kirren, der litt. Nicht der Andere. Kirren. Kirren, der vermutlich auch nur ein Opfer war. Ich starrte die Magier an. Es standen so viele Leute um ihn herum.
Wieso half niemand? Wieso griff niemand ein? Würde ich jetzt aufstehen, würde mich Cato vermutlich töten.
Ich schüttelte den Kopf.
Was war das nur für eine Welt?
Und ich hätte sie beinahe verlassen.
Während ich zusah, wie Kirren von den Magiern gequält wurde, kam Bjorn zu mir.
Er wirkte noch immer sehr aufgebracht.
Von der Seite hörte ich einen Fremden. Er saß ebenfalls auf der gegenüberliegenden Bank und schien sich vor Bjorn zu fürchten… Was ihm nicht zu verübeln war.
Bjorn setzte sich zu mir. Der Fremde starrte ihn weiterhin ängstlich an.
„Bist du nicht Kirren. Musst du nicht Angst haben.“, kommentierte Bjorn das.
Auch Cato und Lynx setzten sich zu uns.
Sie sprachen über Catos Heimat und einen Wettbewerb mit Drachen. Ich bekam kaum etwas davon mit. Immer wieder sah ich mich im Wald. Wie ich auf dem Boden lag. Sein Lachen.
Ich war so müde. Doch immer, wenn ich die Augen schloss, dann war er dort. Direkt vor mir.
Trotzdem versank ich immer wieder in der Schwärze.
Ständig weckten sie mich. Ich sollte nicht schlafen.
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich wollte schlafen, aber ich wollte nicht träumen.
Und was sollte ich überhaupt tun?
Ich konnte nicht kämpfen.
Dann sprachen sie über die Rune auf meiner Stirn. Die Sanduhr. Dagaz – falsch herum.
Die Magierin stand in der Nähe und so fragte Runa sie, ob sie sich das Zeichen auf der Stirn mal anschauen könne. Doch die Magierin verneinte mit den Worten, sie müsse jetzt Skelette untersuchen.
Als gäbe es zwischen Toten und Lebenden keinen Unterschied.
Aber was sollte man von ihr erwarten?
Es war mir egal.
„Anastasya. Ist alles in Ordnung?“
„Da,“, erwiderte ich. Was sollte ich auch sagen. Es war alles in Ordnung. Meine Wunden waren versorgt.
Zwischendurch kam auch Breeg zu mir. Er sah unendlich traurig aus.
Auch er fragte mich, was los sei. Wie es mir ginge. Ich antwortete das Gleiche, was ich allen auf diese Frage antwortete. Dass alles in Ordnung sei. Dass meine Wunden versorgt seien.
Doch die Fragen häuften sich. Jeder fragte mich. Ständig. Ich verstand nicht, warum.
Sie hatten eine Antwort doch schon gehört. Es war alles in Ordnung. Ich blutete nicht mehr.
Irgendwann ließen Lynx, Cato und Runa Bjorn und mich alleine.
„Was ist?“, fragte er.
„Nichts.“, erwiderte ich.
„Bleiben wir Nacht hier, da? Frage ich nach Zimmer. Kannst du ausruhen.“, schlug Bjor vor.
Ich schüttelte den Kopf.
„Njet. Bleibe ich nicht hier. Muss ich weg von Kirren.“, erwiderte ich.
„Dann suchen wir Höhle.“
Ich nickte. „Da… Können wir machen. Ist egal.“
Es war mit tatsächlich egal.
„Dann gehen wir zu Höhle!“
„Und dann?“, fragte ich tonlos.
„Dann kannst du dich ausruhen.“
„Und dann?“
„Frag nicht immer und ‚dann?‘!“. Bjorn wirkte sauer. Schon wieder. Was hatte ich diesmal gemacht?

„Komm, gehen wir etwas.“, schlug er dann vor.
Ich nickte seufzend. Er half mir, aufzustehen.
Ich humpelte noch immer etwas, doch es war schon besser geworden.

„Wollen wir hoch gehen? Können wir Othila spielen?“
Ich sah hinauf zum Gasthaus. Die Tür stand offen. Kirren saß dort. Mit Rhea.
Ich schüttelte den Kopf.
Da würde ich nicht hingehen. Niemals.
Cato war zu uns gekommen.
„Geht es besser?“, fragte er mich. Er sah noch immer besorgt aus.
Ich hatte doch schon gesagt, dass alles in Ordnung sei.
„Da.“, gab ich zurück. Mehr nicht.
„Komm, gehen wir Othila spielen.“, wollte Bjorn mich überzeugen.
Ich schüttelte den Kopf.
Er ging vor, ich sollte folgen. Ein paar Schritte folgte ich, doch je näher ich Kirren kam, desto mehr sträubte ich alles in mir dagegen.
Ich wollte nicht. Ich blieb stehen.

Bjorn drehte sich irgendwann um und kam zurück zu mir.
„Nicht spielen?“
„Spielt ruhig. Will ich nicht spielen. Bleibe ich hier.“, antwortete ich.
Es entsprach der Wahrheit. Wieso sollte ich spielen wollen.
„Hast du Metka?“, fragte Bjorn. Ich nickte. „Willst du trinken?“
Ich schüttelte den Kopf. „Njet. Will ich nicht.“
Es würde mir auch nichts bringen.

Die Magierin kam zu uns.
„Was ist mit diesem Zeichen? Soll ich versuchen, herauszufinden, was es damit auf sich hat? Es wird nicht wehtun.“, bot sie mir an.
Sie hielt etwas in ihrer Hand, stellte sich vor mich und begann, etwas zu murmeln.
Die Stirn fing an zu brennen, dann breitete sich das Brennen im ganzen Körper aus.
Ich ging zu Boden, drückte die rechte Hand an meine Stirn, krümmte mich und schrie.
Es wird nicht wehtun.
Lord Cecil und Breeg gesellten sich zu uns. Runa und Cato standen noch bei uns. Sie blickten mich alle an. Dann fingen sie an, zu überlegen, was sein könnte.
Ich ahnte es schon.
Kirren.
Es war Kirren.
Er wollte, dass ich den Fluch von ihm nehme.
Ich hatte ihn nie verflucht. Ich wusste nicht einmal, wie das gehen sollte.
Doch dieses… Problem. Diese Schmerzen, die er bei Magie in seiner Nähe hatte… War es das Gleiche? Hatte er es geschafft, es auf mich zu übertragen?
Die anderen kamen bald auch auf die Idee.
Bjorn stapfte auf einmal davon.
Was hatte er vor?
Die Magierin sagte, dass es nichts mit dem Zeichen auf meiner Stirn zu tun habe. Doch es war seltsam. Da stimmte sie mir zu. Sie gab mir zu hoffen, dass es zeitlich begrenzt sein würde.
Ich wusste nicht, ob ich daran glauben sollte.
An was konnte ich überhaupt noch glauben?

Bjorn kam wieder.
„Ist Sanduhr zurück gekommen. Hat er nicht übergeben an dich.“
Ich blickte ihn fragend an. Was meinte er?
„Habe ich Sanduhr weg geworfen. Weit weg. Kann niemand finden. Ist zurück gekommen zu ihm, nicht zu dir.“
Die anderen atmeten erleichtert auf.
Ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein sollte.
Denn fest stand, dass irgendwas mit der Magie seltsam war.
Und Odin hörte mir nicht mehr zu.

„Setzen wir uns hin.“, schlug Bjorn vor und half mir auf. Er wies auf die hölzernen Stämme beim Feuer. Ich nickte und folgte ihm.
„Also gehen wir?“, fragte er.
Ich starrte ins Feuer.
„Hört Odin nicht mehr zu.“, erwiderte ich. „Hat Odin mich verlassen.“
Bjorn schüttelte den Kopf. „Njet. Hat er nicht. Hat er gerettet. War Prüfung.“
„Habe ich Prüfung verloren. Wäre ich gestorben wenn ihr nicht gefunden hättet mich.“, erwiderte ich traurig.
Lynx mischte sich ein.
„Nein! Odin hat dir geholfen, stark zu bleiben! Du hast es überstanden! Er war bei dir. Er ist auch jetzt noch bei dir.“
Ich glaubte ihr nicht.
Immerhin hatte ich im Wald nach Odin gerufen. Und er war nicht dort gewesen. Er hatte es nicht verhindert. Und jetzt würde ich nichtmal in seinem Namen kämpfen können. Und die Runen. Die Runen.

Breeg kam zu uns.
Er setzte sich auf einen der Holzstümpfe und hielt einen Zettel in der Hand.
„Gibt es einen Gott des Feuers bei euch?“
Bjorn und ich sahen uns kurz an.
„Da. Muss Loki sein. Wieso?“, erwiderte Bjorn.
„Dieser Zettel…“, erwiderte Breeg.
„Was ist das für Zettel. Kann ich sehen?“, fragte ich leise.
„Könnt Ihr lesen?“
Ich nickte.
Er hielt mir den Zettel hin.
Etwas stand darauf. Etwas mit Feuer. „Feuer zeigt, was Anderen verborgen bleibt.“, hieß es. Zumindest so ähnlich.
Breeg erklärte, dass der Zettel bei einem der Skelette war.
Was für Skelette? Ich fragte nicht weiter danach.
Dort waren Gräber. Wieso sollten dort keine Skelette sein?
„Als wir den Zettel mit dem Wasser in Berührung gebracht haben, ist das Skelett verschwunden.“
Das verwirrte mich. Was hatte das mit Loki zu tun?
Breeg hielt den Zettel in das Licht der Flammen.
Ich sah genauer hin.
Inmitten des Zettels war ein Zeichen zu sehen.
„Ist das eine Rune?“, fragte Breeg. Ich schüttelte den Kopf. Das war keine Rune. Es sah nicht aus wie eine Rune.

Ich sah mich immer wieder um. Es war seltsam. Ich fühlte mich unruhig, obwohl ich so müde war. Ich wollte weg von hier, aber auch doch nicht. Ich wusste nicht, wohin mich mein Weg von jetzt an führen sollte. Es fühlte sich alles so ausweglos an. Wie in dem Moment, als ich im Wald lag. Als ich wusste, dass ich nicht wegkommen würde.
Und doch saß ich hier. Am Feuer.
Bjorn erhob sich.
„Bleibst du hier sitzen.“, forderte er mich auf.
Ich nickte langsam.
Damit verschwand er für einen Augenblick.

Es dauerte nicht lange, bis er mit Cora und Batras wieder kam.
Was hatte er vor?
Cora hielt eine steinerne Schale in der Hand. Darin glühte etwas.
Sie bat Breeg, sie festzuhalten. Dann gab sie etwas hinein.
„Das ist Lavendel. Es beruhigt.“, erklärte sie.
Es beruhigt., dachte ich. War ich etwa nicht ruhig?
Doch ich wollte Bjorn den Gefallen tun und blieb sitzen. Atmete den Geruch des Lavendels ein. Meine Augen wurden schwerer.

Kirren war vor mir. Den Dolch in der Hand. Er hatte mich mit seinem Körpergewicht fixiert, sodass ich mich nicht bewegen konnte. Die Klinge kam näher an mein Gesicht. Die Stirn. Der erste Schnitt. Ein Brennen. Ein Schrei. Ich spürte das warme Blut, doch er hörte nicht auf. Er machte weiter. Es kam mir vor, als wären die folgenden Schnitte tiefer. Mehr Blut. Mehr Schmerz. Stärkeres Brennen. Ich schrie lauter.

Ich schreckte hoch, hustete und fiel beinahe von dem Holzstumpf, auf dem ich gesessen hatte. Zum Glück saß Cora direkt neben mir und stützte mich, sonst wäre ich wirklich gefallen.
Was war passiert? War ich eingeschlafen? Meine Augen waren weit aufgerissen und mein Herz schlug unfassbar schnell. Ich sah mich panisch um. Kirren war nicht zu sehen.

„Hast du geträumt?“, fragte sie mich.
Ich nickte. „Da.“
Ich habe Furchtbares geträumt.
„Du hast Angst.“, stellte sie fest.
Ich nickte langsam. Sie hatte Recht. Ich musste es mir eingestehen. Ich hatte Angst.
„Hm. Man könnte dir die Angst nehmen.“, überlegte sie und sah sich um. Sie schien etwas zu suchen. Oder Jemanden.
Sie fand ihn.
Mantis. Er kam zu ihr.
Sie erzählte ihm, was los war.
Mantis umrundete mich, ich zuckte zusammen. Am liebsten wäre ich vor ihm geflohen.
Eigentlich wusste ich, dass er keine schlechte Person war. Doch beim letzten Mal hatte ich so viel Furcht erlebt. Es war schlimm gewesen. Und er hatte irgendwie damit zu tun gehabt. Das wollte ich nicht noch einmal.
„Ich kann dir die Angst nehmen. Es wird nichts Schlimmes passieren.“, bot er mir an.
Sofort schüttelte ich den Kopf.
Er nahm ein Fläschchen heraus und zeigte es mir. Etwas befand sich darin. Eine Flüssigkeit.
„Das ist es. Das ist, wovor du Angst hast. Das ist Furcht. Aber nicht deine, sondern die von jemand anderem.“, begann er zu erklären.
„Njet. Ich will nicht.“, erwiderte ich schnell.
„Warum nicht? Du hast Angst. Wir können etwas dagegen tun.“, warf Cora ein.
Wieder schüttelte ich den Kopf.
„Njet. Nicht machen.“
Auch Bjorn schien es nicht zu verstehen.
„Wieso nicht? Können dir helfen.“. Er sah mich fragend an.
Ich schüttelte weiterhin den Kopf.
„Njet. Nicht Angst nehmen. Kann nicht gut sein.“
Irgendwann verstand Mantis, dass ich es nicht wollte.
„Wir werden nichts unternehmen, bei dem du nicht zustimmst…“, lenkte er dann ein und hörte auf, mich überzeugen zu wollen.

„Vielleicht kann ich helfen.“, murmelte Batras von der Seite. Ich wusste gar nicht mehr, dass er auch dazu gekommen war.
Er wollte es aber zunächst mit Bjorn besprechen.
Bjorn erhob sich und sie gingen weg.
Breeg gab die Schale mit dem Lavendel an Cora zurück und erhob sich.
„Ich kann das nicht. Wenn ich aufgepasst hätte, wäre das nicht passiert.“. Er ging weg. Ich spürte ein Stechen. Er sah so traurig aus. Er gab sich die Schuld.
„Njet! Breeg! Ist nicht deine Schuld!“, rief ich ihm nach. Meine Stimme klang so fremd.
Ich wollte nicht, dass er sich die Schuld daran gab. Es war meine Schuld gewesen. Bjorn hatte doch recht gehabt. Ich hätte nicht von ihm weg gehen sollen.

Irgendwann kam Bjorn wieder. Er hielt einen mittelgroßen Stein in der Hand. Er war rot.
So einen Stein hatte ich noch nie zuvor gesehen.
„Hier. Ist von Batras. Hilft dir.“, erklärte Bjorn und hielt mir den Stein hin.
Ich sah ihn fragend an.
„Musst du in Mund legen. Löst sich auf. Hilft dir.“
Ich seufzte. Musste ich das wirklich?
„Habe ich von Batras gekauft.“, fügte er hinzu.
„Wie viel hat gekostet?“, fragte ich.
„Vier Kupfer. Habe ich zwei Steine gekauft.“. Er deutete auf einen kleinen Beutel in seiner Hand.
Zwei davon?
„Nimmst du dir Kupfer wieder.“, murmelte ich und deutete auf meinen Beutel.
„Njet.“, antwortete Bjorn. „Habe ich gerne gekauft.“
Ich zögerte.
Bjorn hatte Kupfer ausgegeben, um mir zu helfen.
Mit der rechten Hand nahm ich den Stein und legte ihn in meinen Mund.
Bjorn hatte gesagt, dass er sich auflösen würde. Also wartete ich.

Es dauerte einen Moment, dann fühlte es sich an, als hätte mich jemand mit einem weißen Schleier zugedeckt.
Ich saß auf dem Holzstumpf und sah mich um.
Was war überhaupt passiert.
Die Leute redeten, doch ich nahm es kaum wahr.
Irgendwo spielte Jemand Musik.
Es war ruhig. Einfach ruhig. Die Schmerzen waren weg.
„Lass uns zu Höhle gehen. Ist halbe Tag entfernt.“, schlug Bjorn vor. „Dann kannst du schlafen.“
Ich nickte.
Es war eine gute Idee.
Weg von diesem Ort.
Ich war müde. So müde. Und alles war so schön ruhig.
Es erinnerte mich an meine Heimat. Dort, wo alles vom Schnee bedeckt war. Da war es auch immer so schön ruhig gewesen.
Bjorn wollte nach Ostwald reisen.
Ich würde ihm folgen. Endlich wieder Schnee. Endlich wieder Heimat. Weg von dieser verrückten Welt.
Ich erhob mich und wollte meine Sachen holen. Irgendjemand hatte sie eingesammelt und irgendwo hingelegt.
Bjorn führte mich hoch zu der Stelle, an der die Sachen lagen. Doch irgendwie konnte ich nicht gerade laufen. Ich verstand es nicht. Hatten die Heiler tatsächlich zu viel Alkohol in meinen Körper gebracht. Kam es durch das Auswaschen der Wunden?
Ja. Das musste es sein.
Langsam entspannte ich meinen Bogen.
Entspannt.
Ich fühlte mich genauso.
Den Köcher befestigte ich mit der rechten Hand an meinem Gürtel. Schwert und Axt nahm ich wieder an mich.
Die ganze Welt schien sich zu drehen. Es bewegte sich irgendwie. Doch es gefiel mir.

Bjorn und ich verließen das Phönixnest.
Er ging vor. Wieso rannte er denn so?
Ich brauchte lange, um hinter ihm her zu kommen.
Wie konnte er mit der schweren Axt so schnell sein?
Zwischendurch stützte ich mich immer wieder an ein paar Holzstämmen ab.
Ich war wohl einfach zu müde.

Wir kamen auf den etwas breiteren Weg im Wald. Doch wir waren nicht alleine.
„Rhea, was ist? Dachte ich du bist schon weg.“
Rhea.
Ich starrte sie an.
Rhea. Wenn sie hier war… War dann nicht auch Kirren da? Sie hatte doch bei ihm gesessen… Sie hatte ihm geholfen?
Ich sah mich um. Langsam. Mir wurde dadurch nur schwindeliger. Kirren sah ich nicht. Er war scheinbar nicht hier.

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