Ich erwachte recht früh am Morgen.
Wo war ich? Ich sah mich um.
Bjorn. Er saß direkt vor mir, saß am Bett.
Er schlief. Wieso schlief er im Sitzen? Was hatte ich verpasst?
Erst dann bemerkte ich, was auf mir lag. Ein Fell.
Bjorns Fell.
Wieso lag Bjorns Fell auf mir? Wieso saß er hier? Und wieso hatte ich von all dem nichts mitbekommen?

Doch mein Traum in dieser Nacht war eindeutig gewesen.
Ich musste fort von hier.
Ich musste mich vor Kirren in Acht nehmen.

Also erhob ich mich, nahm das Fell und legte es auf Bjorns Schoss.
Er schlief friedlich weiter. Ich wollte ihn nicht wecken. Ich wollte ihm nicht weiter Sorgen bereiten.
Ich verließ das Zimmer.

Unten in der Taverne traf ich auf Breeg.
Er schien auch weiter reisen zu wollen.
Ich überlegte, ob ich mich ihm anschließen soll.
Eigentlich wollte ich nur weg, weg von diesem Ort, an dem Kirren war.
Weg von jedem Ort, an dem er sein könnte.

Wasser. Wieso nicht übers Wasser?
Ich sprach mit Breeg.
Immerhin hatte er auch einen Bogen. Wenn wir Kirren doch über den Weg laufen würden, würden wir schneller schießen als er.
Wir beschlossen, dass wir uns ein Schiff oder Boot suchen würden, um von der Halbinsel weg zu kommen.


Wir verließen das Boot und liefen die Küste entlang ins Innere der Insel.
Mit jedem Schritt wurden die Pflanzen größer, bis wir irgendwann in einem recht dichten Wald standen. Ich fühlte mich wieder wohl. Zumindest weitestgehend.
Ich hoffte einfach, dass wir eine möglichst ruhige Insel auffinden würden, auf der ich mich ausruhen und verstecken konnte.

Auf dem Weg durch den Wald sammelte ich ein paar Materialien und baute mir eine neue Falle. Meine vorherigen Fallen hatte ich bei den Sümpfen stehen lassen.

Bald war die Falle fertig gebaut. Ich brauchte nur noch einen guten Ort, um sie aufzustellen.
Wir durchquerten den Wald weiter.
Irgendetwas störte mich.
Es kam mir so fürchterlich bekannt vor.
Je weiter wir gingen, desto schlimmer wurde das Gefühl.
Ich blieb stehen, sah durch die Bäume hindurch.
„Njet…“, murmelte ich leise. „Kenne ich diesen Ort.“
Breeg blickte zu mir.
„Siehst du diesen Turm?“, fragte ich ihn und deutete in Richtung eines riesengroßen Stahl-Gebildes.
„Ja, sehe ich.“, erwiderte er.
„Ist Turm böse.“, erklärte ich knapp.
Ich wusste nicht, was mich mehr beunruhigen sollte: Der Turm oder die Tatsache, dass ich Kirren hier beim letzten Mal getroffen hatte.
Genau hier, im Wald.
Ich sah mich um, gehetzt, hektisch. War er hier? Wollte er mich hier töten? Hatte er mir aufgelauert?
„Breeg. Müssen wir aufpassen. Kann Kirren hier sein.“, erklärte ich. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und wäre wieder gegangen. Doch andererseits… Was, wenn er doch nicht hier ist? Wollte ich nun mein Leben lang fliehen? Nein, das konnte doch auch nicht der richtige Weg sein.

Während ich mich ständig umsah, erblickte ich in der Ferne etwas… Jemanden.
„Katze.“, murmelte ich und sah zurück zu Breeg. Er wollte gerade seinen Bogen spannen. „Njet! Ist nette Katze!“
Wir näherten uns vorsichtig. Ich hatte ihn schon sehr oft gesehen. Beim Phönixnest hatte er mir sogar das Leben gerettet. Ich mochte diese Katze.
Er saß auf dem Waldboden, mit dem Rücken zu uns. Ich konnte nicht erkennen, was er dort tat.
„Sicher, dass das kein Hinterhalt ist?“, fragte Breeg.
Ich schüttelte den Kopf. „Njet. Würde er nicht machen.“
Wir gingen um die Katze herum und hockten uns in einigem Abstand auf den Boden.
Er hatte die Augen geschlossen.
„Katze!“, rief ich. Er reagierte nicht.
„Schläft er?“, fragte Breeg.
Zwischendurch bewegte er sein Maul und die Pfoten. Er schien zu träumen. Ich wollte ihn nicht wecken.
Wir blieben noch eine Weile dort hocken.

In der Ferne näherten sich noch andere Personen. Sie schienen etwas zu suchen und liefen an uns vorbei.
„Was sucht ihr?“, fragte ich sie. Sie zögerten einen Augenblick. „Holz für den Schrein.“, gaben sie zurück, gingen dann aber einfach weiter.
Holz für den Schrein?, fragte ich mich. Bei ihnen klang es so, als sei es das Normalste der Welt. Ich würde es wohl nie verstehen.

Doch als die Katze weiter zu schlafen schien, erhoben wir uns wieder.
Ich wollte endlich meine Falle aufstellen und lief so etwas weiter.
Bei einer besonders grünen, moosigen Stelle des Waldbodens entdeckte ich Reh-Losung. Eiförmig. Ein Weibchen. Es waren also auf jeden Fall Tiere in diesem Wald zugegen.
Meine Falle stellte ich in der direkten Nähe auf und tarnte sie mit etwas Laub und Moos.
An diesem Ort hatte ich schon einmal einen Menschen gefangen, aber ich hoffte, dass ich diesmal wirklich ein Tier erwischen würde.

Wir liefen dann weiter, zurück zum Weg.
Ich wollte Breeg die Taverne zeigen.
Bald kamen uns zwei Männer entgegen, sie kamen mir beide bekannt vor. Einer von ihnen trug eine dunkle Maske. Dieser hatte auch einen Dolch in der Hand.
Was wollte er mit dem Dolch?
„Hallo.“, begrüßte ich ihn.
„Habt Ihr einen Dolche verloren?“, gab er zurück und hielt mir den Dolch entgegen.
„Njet.“, erwiderte ich und sah mir den Dolch an. Er kam mir bekannt vor. Sehr bekannt. „Rhea!“, rief ich dann aus. „Ist Rheas Dolch!“
Der Mann überließ mir den Dolch und wir folgten dem Waldweg weiter.
„Also ist Rhea hier.“, überlegte ich laut, blieb dann aber wie erstarrt stehen. „Wenn Rhea hier ist, kann Kirren auch hier sein.“
Ich hoffte einfach, dass sie getrennt weiter gereist waren.

Wir liefen weiter hoch und kamen an einem Zelt vorbei. Es stand schon bei meinem letzten Besuch dort. Das musste etwa einen Mond her gewesen sein.

Dort sah ich dann auch Lynx und Rhea. Und Gin. Irgendetwas schien mit ihm nicht zu stimmen.
Ich lief schnell zu Rhea und überreichte ihr den Dolch.
Hektisch fragte ich sie, ob sie Kirren gesehen hatte. Sie verneinte.
Kurz blickte ich zu Gin.
Er sah nicht gut aus. Irgendwie krank? Müde? Ich war mir nicht sicher. Doch weiter hinten, in direkter Nähe des Turms sah ich ein weiteres bekanntes Gesicht. Thorstain.
Am besten ich würde ihm Bescheid sagen. Wenn er wusste, dass Kirren mir nach dem Leben trachtete, dann konnte er mir vielleicht helfen.
Also lief ich direkt auf ihn zu.
„Thorstain.“, rief ich und ging auf ihn zu. Ich hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen.
„Anastasya!“. Er umarmte mich. Sofort erzählte ich ihm von meiner Angst vor Kirren.
„Ich denke, will er mich töten.“, erklärte ich. Thorstain sah mich verwirrt an.
„Wieso das?“
„Ich weiß nicht genau…“, erwiderte ich. Ich wusste es wirklich nicht. Was hatte ich ihm getan? Dann blickte ich kurz an Thorstain vorbei zu Lynx und Rhea. Ich wollte wissen, was mit Gin war.
Doch als ich hinüber sah, rasten tausend Gedanken durch meinen Kopf. Einer von ihnen war besonders stark.
Renn.
Kirren stand dort.
Genau dort, wo ich hinsah.
Er starrte mich an.
Der Hass in seinem Blick lähmte mich.
Ich war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.
Er war hier. Wieso? Wieso war er hier.

Ich machte ein paar Schritte zurück.
Er stand bei dem Zelt, in dem Rhea, Lynx und Gin waren.
Konnte er nicht einfach dort bleiben?
„Er…ist hier.“, flüsterte ich beinahe tonlos.
Dann sah ich mich um. Was sollte ich tun?
Verbündete. Ich brauchte Verbündete. Es waren so viele Menschen anwesend. Es mussten alle Bescheid wissen.
Schnell warf ich einen Blick zu dem Zelt. Kirren stand noch dort. Von der Entfernung aus würde er mich auch nicht mit einem Pfeil treffen…

Der Clan der Wassenbergs trainierte Schwertkampf. Sie waren gut. Ich musste Sir Nanoc um Hilfe bitten. Ich sah ihn in der Ferne. Er trainierte gerade mit Jemandem aus seinem Clan. Ich wartete kurz, dann ging ich direkt auf ihn zu.
„Sir Nanoc.“, sprach ich ihn an. „Ich denke brauche ich Eure Hilfe.“
Er sah mich an. „Wie kann ich helfen?“
„Hier ist Jemand, der mich töten will.“, erklärte ich ihm knapp. Emotionslos. Während sich die Panik in meinem Körper breit machte, blieb meine Stimme völlig kalt.
„Wieso möchte er Euch töten?“, fragte er dann.
„Ich weiß nicht.“, war meine erste Antwort. Es schien ihm nicht zu genügen. Er glaubte mir nicht. „Ich… ich habe ihn geheilt… Er hatte Schmerzen. Ich weiß nicht genau.“
Sir Nanoc zögerte einen Moment. Er sah mir in die Augen, schien, nach einer Lüge zu suchen.
„Wie habt Ihr ihn geheilt?“, fragte er dann.
„Mit… Runen.“, erwiderte ich. Spielte das überhaupt eine Rolle?
Jemand aus seinem Clan sprach ihn an, wollte mit ihm trainieren.
Er seufzte und rief einen anderen Mann zu sich. Er trug ebenfalls einen blau-gelben Wappenrock. Er gehörte also auch zu den Wassenbergs.
„Besprecht es bitte mit meinem Knappen.“. Sir Nanoc zeigte auf ihn. „Ich habe noch ein anderes Versprechen einzulösen.“.
Der Knappe trat auf mich zu und ich erzählte ihm das Gleiche, was ich Sir Nanoc bereits gesagt hatte.
Auch er fragte, wieso Kirren mich töten wolle und ob ich ihn beschreiben könne. Ich versuchte es. „Ist großer Mann mit langem Haar und rot-schwarzen Teilen von Rüstung. Hat große Lederschulter. Und Pfeil und Bogen.“
Ob er damit etwas anfangen konnte?
„Könnt Ihr ihn mir zeigen?“, fragte er dann.
Ich nickte. „Da. Aber sollte ich nicht auf ihn zeigen, wenn wir hingehen.“
„Ich kann ihn Euch auch zeigen. Dann fällt es nicht so auf.“, schlug Breeg vor.
Ich hielt es für eine sehr gute Idee.
„Habt Dank.“, erwiderte ich. Sie liefen rüber.

Es dauerte nicht lange, bis sie zurück kamen.
„Habt Ihr ihn gefunden?“, fragte ich.
„Ja, haben wir.“, erwiderte Breeg.
Der Knappe der Wassenbergs schlug vor, dass ich in ihrer Nähe bleiben solle. So konnten sie aufpassen, dass er mich nicht töten würde.
Ich stimmte zu und bedankte mich, doch bald war es nicht mehr möglich, bei ihnen zu bleiben.
Wir wurden angegriffen.
Ich kannte diese Wesen.
Es waren diese Geister. Genau wie beim letzten Mal.
Die Geister, die eigentlich gar nicht angreifen wollten.
Ich stürzte mich in den Kampf.
Leider kämpfte Kirren auch.
Ich hielt mich fern, ließ ihn nicht aus den Augen.
Gleichzeitig auf die Angreifer und auf Kirren zu achten, war schwierig, doch es gelang mir.
Wir besiegten sie und sie lösten sich auf.
Fürs Erste.
„Was ist mit Katze?!“, gab Breeg zu Bedenken.
„Oh. Katze! Wir müssen schauen!“. Also liefen wir los, rannten den Weg hinab in Richtung Wald. Dort sahen wir die Katze. Sie war nicht allein. Eine andere Katze war bei ihr. Freundliche Katze? Ich hoffte es.
„Katze!“, rief ich und wir liefen auf sie zu.
Er kam zu mir und ich kraulte ihn am Kopf.
„Geht es euch gut?“, fragte ich.
Die andere, mir fremde Katze hatte schwarzes Fell und wirkte auf mich sogar recht menschlich.
Doch beiden schien es gut zu sehen und so liefen wir gemeinsam zurück zur Taverne.

Oben am Weg stand Kirren. Er starrte mich einfach nur an.
Sein Blick schien mich zu durchbohren.
Ich bewegte mich nicht, blieb einfach stehen. Starrte zurück.
Doch ich konnte seinem Blick nicht standhalten.
Mein Puls hämmerte, es war, als wäre mein Herz in meinem Kopf, nicht mehr in der Brust.
Ich wollte mich bewegen. Weitergehen, mich umdrehen. Irgendwas. Es war nicht möglich.
Irgendwann drehte sich Kirren um und ging wieder.
Erst dann konnte ich weiter gehen. Es war furchtbar. Mir war schlecht.

Er stand wieder am Zelt und so machte ich einen großen Bogen um das Zelt und lief zurück zu den Wassenbergs. Hier fühlte ich mich etwas sicherer – zwischen all den Kämpfern.
Auf einmal spürte ich einen Schlag, ging zu Boden.
Mein Rücken brannte, schmerzte. Es fühlte sich an, als wäre etwas nicht mehr dort, wo es hingehörte. Ich konnte mich kaum bewegen, hockte am Boden, drückte mit der flachen Hand gegen meinen Rücken.
Es schmerzte.
Jemand rief nach einem Heiler.
Niemand kam.
Meine Sicht war vernebelt, ich kroch etwas zur Seite.
War der Angreifer noch dort?
Hatten sie ihn in die Flucht geschlagen?
War es ein Geist?
Oder doch Kirren?
Ich wusste es nicht.
Ich wusste nur, dass dort Blut an meinen Händen war.
Und es wurde immer mehr.
Irgendwann hörte ich eine vertraute Stimme im Nebel.
Gedämpft, weiter weg.
Aikikia.
Jemand hob mich auf die Beine, stützte mich.
Jede Bewegung schmerzte.
Sie setzten mich auf eine hölzerne Bank.
Aikikia kam zu mir.
Ein erneutes Brennen brachte mich wieder ins Hier und Jetzt.
Sie wusch meine Wunde aus und ich schrie auf.
Dann schüttete sie etwas auf die Wunde. Ich kannte den Trank. Er brannte so sehr, dass ich einfach weiter schrie. Es war mir egal. Es tat weh.
Erst, als es mir wieder etwas besser ging, erfuhr ich, dass einer dieser Geister-Gestalten mich getroffen hatte.
Nicht Kirren.
Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Ich konnte und wollte einfach nicht glauben, dass er mich wirklich töten wollte. Nein.

Die Heiler errichteten einen Schutzkreis und da es mir bereits besser ging, bedankte ich mich und entfernte mich.
Ich wollte nicht in der Nähe von Priestern sein, die Magie wirkten. Es war schon oft genug böse ausgegangen.

Bald kam Rhea zu mir. Sie wollte mit mir reden. Wollte wissen, was es mit diesem Ort auf sich hatte. Breeg gesellte sich zu uns und ich erklärte, was ich wusste.
Ich erzählte von der Baroness und ihren Kindern. Von dem Kind, das vom Turm hing. Vom Malachit, den Körperteilen und der bösen Energie. Von der schwarzen Frau. Und von dem Grab im Wald.
Rhea wollte das Grab sehen.

Da ich nicht an Kirren vorbei wollte, liefen wir zu dritt einen Umweg, um so wieder zum Wald zu kommen. Dort angekommen zeigte ich ihr das ausgehobene Grab. Glücklicherweise war der Gestank einigermaßen verflogen.
Dann zeigten Breeg und ich ihr noch ein paar Pflanzen, die wir bei unserer Ankunft gesehen hatten. Bunte, außergewöhnliche Pflanzen, doch keiner von uns konnte sie wirklich zuordnen.

Ich beschloss, dass wir den normalen Weg zurück gehen würden.
Wieso sollte ich mich überhaupt vor Kirren verstecken.
Doch dann stand er schon dort, am Weg.
Starrte mich wieder an… Mit diesem Blick.
Meine Hände zitterten und mir wurde kalt.
Nein, diesmal nicht!, sagte ich zu mir.
„Wir gehen weiter.“. Ich wollte es entschlossen sagen, doch das war mir offensichtlich nicht gelungen.
Trotzdem setzte ich einen Schritt vor den nächsten. Kirren ging weiter. Wir liefen an ihm vorbei.
Als wir weit genug weg waren, atmete ich erleichtert auf.
Ich hatte es geschafft. Immerhin ein kleiner Erfolg.

Der Knappe der Wassenbergs kam zu mir.
„Mein Herr möchte Euch sprechen.“
Ich nickte und ging zu Sir Nanoc.
„Wir klären das jetzt.“, beschloss er und erhob sich vom Tisch.
„Was habt Ihr vor?“, fragte ich ihn. Meine Stimme bebte.
„Ich gehe jetzt etwas klären.“, war seine knappe Antwort.
Was wollte er denn klären?
Und wie?
Was wollte er Kirren sagen?
Einer seiner Männer begleitete ihn und sie liefen hinüber zum Zelt.
Ragnar, dem ich auf der Insel der McAlistars bereits begegnet war, empfahl mir, bei den Wassenbergs zu bleiben. Ich nickte und wartete nervös ab.
Was würde passieren?

Bald kamen die beiden Männer wieder, liefen direkt auf mich zu.
Sie erzählten mir Kirrens Seite der Geschichte.
Laut Kirren habe ich ihn mit etwas Magischem belegt. Mit einer Art Fluch, weswegen er auf allerlei Magie seltsam reagiere. Doch das stimmte gar nicht!
„Könnt Ihr das aufheben?“, fragte Sir Nanoc mich dann.
„Njet! Ich habe nichts auf ihn gelegt.“, erwiderte ich hektisch. Wie kam Kirren darauf?
Ich erzählte Sir Nanoc auch von der ersten Heilung und davon, dass Kirren beim zweiten Mal sogar zugestimmt hatte, obwohl ich ihn gewarnt hatte.
„Ich will ihn nicht töten, denn… er hat mir nichts getan.“, murmelte ich dann noch.
Sir Nanoc lobte meine Einstellung, zweifelte aber an meinen Runen.
„Runen?“, brachte sich nun auch Ragnar ein. „Ich habe schon einmal davon gehört, dass sich die Wirkung der Runen umkehren kann, wenn man sie falsch ritzt.“, erklärte er.
Runen falsch ritzen?, fragte ich mich und wusste, dass das bei meinen Runen ausgeschlossen war. Es hatte doch sonst immer funktioniert.
Doch Breeg kam mir zuvor.
„Dazu muss ich sagen, dass sie allein in meiner Anwesenheit fünf oder sechs Personen geheilt hat und es immer funktioniert hat. Ohne Probleme.“
Ich sah zu ihm und war dankbar. Mir hätten sie das vermutlich eher weniger geglaubt.
„Sie wird Euch die Runen auch zeigen, wenn Ihr Euch vergewissern wollt, dass sie richtig sind.“, fuhr Breeg fort.
Danke!
Ich nahm meinen Runenbeutel aus der Tasche, löste den Knoten und legte die Runen auf meine Hand. Ich zeigte sie Ragnar und Sir Nanoc.
„Seht Ihr etwas Seltsames daran, Ragnar?“, fragte Sir Nanoc. Ragnar sah sich die Runen an und schüttelte den Kopf.
„Darf ich die Runen an mich nehmen und damit rüber zu ihm gehen?“, fragte Sir Nanoc mich.
Ich nickte zögernd. „Aber nicht mit Hand anfassen.“, warnte ich ihn noch schnell und gab ihm meinen Runenbeutel. Ich gab ihn wirklich ungern aus der Hand, aber es musste wohl sein.
Sir Nanoc sah zu mir. Ein kurzer Blick des Misstrauens flackerte auf.
„Ihr könnt auch Runen anfassen, aber dann muss ich wieder reinigen und aufladen und das ist viel Arbeit.“, fügte ich schnell als Erklärung zu.
Der misstrauische Blick verflog.

Ich folgte und blieb dann in einigem Abstand zu Kirren stehen.
Sir Nanoc zeigte ihm die Runen und redete eine Weile mit ihm.
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie Rhea und Lynx versuchten, Gin zu beruhigen. Er schien irgendwohin flüchten zu wollen.
Während Kirren mit Sir Nanoc redete, starrte er mich immer wieder böse an.
Je länger er mich anstarrte, desto mehr Panik machte sich in mir breit.
Worüber redeten sie gerade?
Was würde passieren?

Dann schienen sie ihr Gespräch beendet zu haben.
Sir Nanoc zeigte auf mich. Sie gingen gemeinsam zu mir.
Meine Knie zitterten, ich konnte sie nicht ruhig halten.
Ich hielt meine Hand in der Nähe meiner Waffe.
Zur Sicherheit. Nur zur Sicherheit.
Sir Nanoc und sein Knappe standen zwischen Kirren und mir. Und Kirren kam näher. Er ging auf mich zu.
Mir wurde schwindelig.
Ich starrte ihn an.
War das klug?
Sollte ich lieber weg schauen?
Kirren blieb so vor mir stehen, dass Sir Nanoc und sein Knappe noch so gerade zwischen uns standen.
„Warum willst du es nicht von mir nehmen?“, fragte er.
Nein. Er beschuldigte mich. Es war viel schlimmer als ein einfaches Fragen.
Diese Abscheu in seinen Augen…
Ich senkte den Blick.
„Ich habe nichts auf euch gelegt!“, beteuerte ich.
„Und was ist das dann? Woher soll das sonst kommen, hm?“.
Seine Stimme war bedrohlich.
Alles in mir schrie nur „Renn! Renn weg!“
Doch ich rührte mich nicht.
Kirren sprang zwischen Sir Nanoc und dem Knappen hindurch, die Hand an seinem Dolch.
Alles passierte auf einmal.
Während ich mein Schwert zog, hatten Sir Nanoc und der Knappe ihn bereits entwaffnet.
Zum Glück.
Ich glaube, dass ich zu langsam gewesen wäre.
Ich stand noch eine Weile so dort. Hielt Schwert und Axt in der Hand. Rührte mich nicht weiter. Starrte Kirren an.
Er hatte es wirklich versucht.
Hatte wirklich versucht, mich anzugreifen.
Ich starrte ihn einfach weiter an. Meine Augen waren weit aufgerissen.
Ich konnte es nicht glauben.
Ich wollte es nicht glauben.
Wieso?

Sir Nanoc ließ nach einer Magierin schicken.
Sie kam und setzte sich mit Kirren an die Wiese. Scheinbar wollte sie versuchen, ihm zu helfen. Wollte ihn von seinem Fluch befreien.

Ich stand noch eine Weile genau an dem gleichen Fleck. Starrte weiter zu der Stelle, an der Kirren gestanden hatte.
Auf einmal sah ich aus dem Augenwinkel etwas.
Die Geister. Sie erschienen genau dort.
Genau dort, wo Kirren saß.
Hinter ihm.
Er sah sie nicht.
Ich musste für einen kurzen Moment meinen Verstand verloren haben, denn ich rannte. Ich rannte. Wohin?
Ich rannte auf den Angreifer zu.
Kirren hatte sich währenddessen erhoben, doch der Geist war zu schnell. Er war auf ihn zu gestürmt.
„Lass ihn in Ruhe!“, hörte ich mich selbst schreien.
Ich fing den Schlag ab. Das Schwert traf mich an der Hüfte. Ich ging zu Boden, schlug aber weiter auf den Angreifer ein.
Es brannte, mir tat alles weh, doch es war mir egal. Ich verpasste ihm weitere Hiebe und blieb am Boden liegen.
Kirren stellte sich zu mir, stand in der Nähe meines Kopfes.
„Warum macht Ihr das?“, fragte er und schüttelte den Kopf.
Er starrte mich wieder an.
Aber etwas in seinem Blick hatte sich verändert.
Verwirrung. Ich sah es genau.
Und auch ich war verwirrt.
Was hatte mich dazu getrieben, den zu retten, der mich töten wollte? Der mich beinahe angegriffen hatte?
Es kamen wieder mehr Angreifer.
Jemand packte mich am Arm, zog mich mit, stützte mich, versuchte, mich zu den Heilern zu bringen.
Es war eine Frau. Dann wurde sie auch niedergeschlagen.
Ich kroch zu ihr, hielt meine blutende Wunde und versuchte, ihren Arm zu verbinden.
Es dauerte lange, doch es gelang mir.
Die Frau versuchte währenddessen, meine Blutung zu stoppen.
Sie murmelte etwas, was ich nicht verstand.
Bald spürte ich, dass das Blut aufgehört hatte, auszutreten.
Ich erhob mich langsam.
Dann erblickte ich Breeg. Er lag dort. An seinem Bauch klaffte eine große Wunde.
Ich rannte zu ihm. Er keuchte.
„Warte, ich helfe.“. Schnell packte ich meine Verbände aus und kippte etwas Metka in seine Wunde. Er schrie auf. Natürlich war es schmerzhaft.
Ich vergewisserte mich, dass genug Kämpfer um mich herum standen, um mich zur Not vor weiteren Angreifern schützen zu können.
Dann verband ich seine Wunde.
„Breeg. Soll ich mit Runen heilen?“, fragte ich ihn.
Er nickte.
Ich atmete tief durch, dann nahm ich meine Runen aus dem Beutel. Ich gab ihm zwei und fing an.
Isa. Algiz. Laguz.
Als ich fertig war, blieb ich in der Wiese sitzen. Mir war schwindelig.
Zum Glück waren keine Angreifer in der Nähe.
Ich blickte zu Breeg.
Aus der Wunde trat kein Blut mehr aus.
Auf einmal sah ich ihn.
Kirren.
Er stand direkt neben uns, starrte mich an. Starrte Breeg und die Wunde an.
Mein Herz schien einen Schlag auszusetzen, nur, um dann in doppelter Geschwindigkeit weiter zu schlagen.
Mir wurde noch schwindeliger.

Doch Kirren entfernte sich wieder.
Breeg half mir auf. Es ging ihm besser.
Wir liefen zurück zur Taverne.
Ein paar Menschen kamen aus den Katakomben heraus.
Ich fragte mich, wieso sich noch immer Menschen dorthin begaben.
Wussten sie nicht mittlerweile, dass es kein guter Ort war?
Ich verstand einfach nicht, wieso sie nicht daraus lernten. Ich würde mich auf jeden Fall nicht noch einmal dorthin begeben. Letzten Mond hatte mir die Erfahrung schon gereicht. Das brauchte ich nicht noch einmal.

Aber ich sah Thorstain bei den Katakomben. Ich lief zu ihm.
„Thorstain. Was ist dort unten? Ist es anders?“, fragte ich ihn.
„Ja, es ist schlimmer. Böser.“, erwiderte er.
Wir kamen ins Gespräch über die schwarze Frau.
Die Frau, die die ganzen Geister steuerte.
Die Frau, die auch die Puppenspielerin genannt wurde.
Sie war dort unten.
Also hatte er recht.
Es war schlimmer. Böser.
Ich sah, wie Gin, Rhea und Lynx in Richtung der Katakomben gingen.
Zuerst wollte ich sie aufhalten, doch… was sollte ich schon machen?
Wenn sie hinab gehen wollten, sollten sie es tun.
Sie wussten ja schon von mir, was dort war.
Und auch, dass es keine besonders gute Idee war.

Also ging ich wieder in Richtung des Schlachtfelds.
Beim Kampf hatte ich mein Schwert dort verloren und wollte es wieder holen.
Doch was ich dann sah, ließ mich erneut erstarren.
Kirren lag dort.
Blutüberströmt.
Er rührte sich nicht.
Er lag auf dem Bauch und vor lauter Blut konnte ich die Wunde nicht erkennen.
Was sollte ich tun?
Ich sah mich um.
Es war niemand auf dem Schlachtfeld, den ich kannte.
Nein, das musste ich selbst tun.
Wie fremdgesteuert rannte ich auf ihn zu.
Ich rief um Hilfe.
Ein Krieger kam zu mir und kniete sich neben Kirren.
Er begann, etwas zu murmeln.
„Njet!“, schrie ich ihn an. „Nicht magisch heilen! Er verträgt das nicht!“
Der Mann hielt sofort inne und schien die magischen Überreste wieder aus Kirrens Körper zu ziehen. Ich hoffte, dass es Kirrens Körper nicht geschadet hatte.
Doch viel mehr Sorgen bereitete mir das ganze Blut. Es war überall.
„Wir müssen ihn umdrehen!“
Ich packte Kirren an der Seite, versuchte, ihn vorsichtig, aber gleichzeitig schnell herum zu drehen. Meine Finger klebten schon von dem ganzen Blut. Wir nahmen schnell sein Schwert an uns und drehten ihn auf den Rücken.
Etwas hatte ihn komplett durchbohrt. Das Blut floss immer weiter und weiter.
Schnell nahm ich mir Verbände und drückte mit meinen Händen und den Verbänden auf die offene Wunde. Das Blut floss über meine Finger, die Wiese darunter war schon blutrot gefärbt.
Was sollten wir tun?
Ich drückte fester. Wir mussten ihn hier weg schaffen.
Doch die Wundränder… Er sollte nicht an Fieber sterben.
Schnell nahm ich die Flasche Metka und versuchte, die Ränder der offenen Wunde zu reinigen. Dann drückte ich weiter mit den bereits durchgebluteten Verbänden auf die Wunde. Gemeinsam mit dem anderen Mann hoben wir Kirren hoch.
Er war schwer.
Wir schafften es nur ganz langsam, ihn nach vorne zu bringen.
In Sicherheit.
Der Mann schlug vor, ihn in das Heilerzelt zu bringen. Doch es war mit einem magischen Schutzkreis umgeben. Ich lehnte sofort ab und so legten wir Kirrens reglosen Körper stattdessen auf den Boden.
Ich drückte weiter auf die Wunde, manches Blut an meinen Händen war bereits getrocknet. Ich hoffte einfach, dass er noch nicht zu viel Blut verloren hatte.
Ich machte mir auch keine Gedanken darüber, dass es Kirren war, der hier lag.
Der Mann, der mich töten wollte.
Es ging nicht darum.
Es ging darum, ob er überlebte oder nicht.

Lynx kam zu mir. Sie hatten es scheinbar aus den Katakomben heraus geschafft.
Schockiert kniete sie sich zu Kirren. Ich erklärte ihr, dass ich ihn am Schlachtfeld gefunden hatte.
Doch wir hatten nicht viel Zeit für große Gespräche.
Lynx setzte sich neben die Wunde und holte Nadel und Faden aus ihrer Tasche.
Sie wollte die Wunde nähen.
Ich beobachtete sie und erinnerte mich an Cato… Wie oft er meine Wunde genäht hatte.
Doch das hier war anders. Die Wunde war riesig. Die Wunde ging einmal durch seinen Körper hindurch.
Und er rührte sich noch immer nicht.
Doch er murmelte etwas.
Das war mir schon vorher aufgefallen.
„Schwester…“, konnte ich hören. Mehr nicht.

Aikikia kam zu uns.
Sie hielt ein Trankfläschchen in der Hand.
„Das ist alchemistisch.“, erklärte sie.
Ich zögerte, nickte dann.
„Da. Alchemie ist nicht Magie, denke ich.“, murmelte ich.
Wenn es der Trank war, den ich kannte, dann war es gut, dass Kirren bewusstlos war.
Sonst würde es schmerzhaft werden.
Lynx hob Kirrens Kopf an.
Sie setzte den Trank an. Ich versuchte, seinen Hals zu massieren, damit er ihn trotz seiner Bewusstlosigkeit herunterschlucken würde.
Es funktionierte.
Bald öffnete er die Augen.
Vermutlich war es nicht die beste Idee, dass ich hier saß.
Thorstain kam auf mich zu.
Er wollte mich sprechen.
„Da, ist vielleicht besser.“, murmelte ich und ging zu ihm.
Lynx würde das nun auch alleine schaffen.
„Ist das nicht besagter Mann?“, fragte Thorstain mich.
Ich zögerte und nickte dann.
„Warum Ihr?“, fragte er und blickte mich ehrlich verwirrt an.
„Warum ich helfe?“
Thorstain nickte.
Ich brauchte einen Moment für meine Antwort.
„Ich… ich hasse ihn nicht. Ich habe keinen Grund, ihn sterben zu lassen…“, gab ich zurück.
Das war die Wahrheit.

Kirren erwachte.
Ich näherte mich vorsichtig.
Als er mich sah, wurde sein Blick wieder böse.
Stechend.
Durchbohrte mich.
Er wusste nicht genau, was passiert war und fühlte sich elendig.
Und doch hatte er noch genug Kraft, um mich böse anzusehen.
„Was macht sie hier?“
Die Art und Weise, wie er das ’sie‘ betonte, ließ mich erschaudern.
Und es machte mich gleichzeitig wütend.
Hätte ich ihn etwa dort liegen lassen sollen? Sicher nicht.

„Ist er tot?“, hörte ich auf einmal hinter mir.
Ich drehte mich um.
Gin lag an eine Mauer gelehnt. Direkt vor dem Eingang zum Turm.
Ich starrte zu ihm.
Seit wann hatte er dort gelegen?
Er war in direkter Nähe der Heiler.
Hatte sich keiner um ihn gekümmert?
Ich war so sehr auf Kirren konzentriert gewesen, dass ich ihn nicht einmal bemerkt hatte.
Thorstain und Lord Baldur sahen sich um.
„Kann jetzt Jemand seinen Tod feststellen?“
Ich sprang auf.
„Was ist passiert?“, schrie ich ihnen entgegen.
„Er war unten in den Katakomben und… ein fliegendes Schwert hat ihn durchbohrt.“, erwiderte Lord Baldur.
Ich starrte ihn einfach nur an.
Ein fliegendes Schwert.
Und wie er das erzählte…
Es ging hier um Gin, nichts um irgendeinen dahergelaufenen… Was auch immer.
Hektisch kniete ich mich zu Gin.
Ich fasste an seinen Hals, versuchte, den Puls zu finden.
Ich fand nichts.
War ich so schlecht darin?
Schnell nahm ich seine Hand. Dort war es einfacher, den Puls zu fühlen.
Ich hielt sein Handgelenk fest.
Nichts.
Gar nichts.
Ich schüttelte den Kopf.
Hielt das Handgelenk noch immer.
Um mich herum sammelten sich immer mehr Menschen.
„Ja, wir müssen herausfinden, ob er tot ist.“, murmelten sie.
Es kam nur gedämpft bei mir an.
Ich starrte zu Boden.
Nein. Wieso?
Wieso hatte ihn niemand gerettet?
Wieso war er überhaupt bei den Katakomben gewesen?
Ich schüttelte weiter den Kopf. Das war zu viel.
Tränen sammelten sich in meinen Augen. Ich konnte es spüren.
Ich wollte nicht. Ich wollte nicht schwach sein.
„Ist er tot?“
Sie wirkten beinahe ungeduldig…
Wie konnten sie nur so… so herzlos sein?
Langsam nickte ich.
„Hm. Was er wohl für eine Gesinnung hatte?“, fragte Jemand.
Ich schüttelte nur den Kopf.
„Ihr kennt ihn?“, fragte Thorstain mich.
„Da. Kenne ich ihn.“, gab ich leise zurück. Ich wusste nicht, ob sie es überhaupt verstanden hatten.
„Und? Woran hat er geglaubt?“
„Nicht an Odin… Hatte er keinen Gott.“, murmelte ich. „Ist er in Kampf gestorben, da?“
Thorstain nickte.
Langsam ließ ich Gins Hand wieder sinken.
„Odin. Ich bitte dich. Dieser Krieger ist ein Freund von mir. Er hat gekämpft an meiner Seite. Ich bin eine Dienerin von dir, Odin. Er hatte keinen Gott, doch er ist im Kampf gefallen… Kannst du ihn holen nach Walhalla? Können deine Walküren ihn mitnehmen, damit er dort kämpfen und trinken kann? Auf dass ich ihm bald folgen werde… Er hat es verdient… Nicht Helheim. Das wäre nicht richtig. Odin. Ich bitte dich.“
Ich saß noch eine Weile so dort.
Hinter mir überlegten sie, wie sie ihn bestatten wollen.
„Hm, trägt er irgendwelchen Schmuck bei sich?“, fragte Lord Baldur und schien ihn zu untersuchen.
Schmuck?, fragte ich mich.
Ich sah auf.
Wollten sie ihn bestehlen?
„Njet!“. Mit heißen Tränen im Gesicht schrie ich ihn an. „Er ist tot. Nehmt ihm nichts weg!“
Während ich weiter neben Gins Leiche saß, holten die Männer aus dem Norden ein Eichenfass.
Ich starrte einfach weiter Gin an. Ich konnte es nicht glauben.
Sie nahmen seinen leblosen Körper und hoben ihn hoch.
Ich tat nichts. Ich konnte nicht.
Regungslos blieb ich sitzen.
Sie packten ihn in das Fass und verschlossen es mit Nägeln.
Ohne Worte. Ohne einen Abschied.
Sie kannten ihn nicht.
Und ich? Ich hatte ihn auf Burg Grenzstein kennengelernt.
Doch kannte ich ihn richtig? Nein. Vermutlich nicht.
Man hatte mir nie die Möglichkeit gegeben, ihn kennen zu lernen.
Und nun sollte es schon vorbei sein.
Sie ließen das Fass dort stehen. Einfach so.
Lynx war so sehr damit beschäftigt, Kirren zu beruhigen und zu helfen, dass keiner von beiden etwas davon mitbekommen hatte.
Sie saß noch immer neben ihm.
Es hatte angefangen zu regnen.

Irgendwann erhob ich mich. Der Regen war auf mich nieder geprasselt, doch ich hatte es kaum gemerkt.
Wortlos setzte ich mich zu Kirren.
Er starrte mich unverändert an.
Hatten sie es denn wirklich nicht bemerkt?
Hatten sie sich keine Sorgen um Gin gemacht?
Bemerkten sie es auch jetzt nicht?

Bald mischte sich ein Ausdruck der Panik in Kirrens Gesicht.
„Ich kann mein Bein nicht spüren!“, rief er. „Mein Bein!“
Wir sahen auch sofort, um welches Bein es ging.
Sein linkes Bein.
Während er das rechte Bein bewegte, blieb das Linke still liegen.
Ich schüttelte den Kopf.
Nein.
Ich sah zu ihm, dann zu Lynx.
„Merkt Ihr das?“, fragte ich und packte sein linkes Bein an.
„Was?!“
„Spürt Ihr etwas?!“, wiederholte ich mich.
Ich drückte sein Bein, drückte etwas mit meinen Fingernägeln zu, damit er auf jeden Fall etwas spüren würde…
Wenn alles in Ordnung war.
Es war nicht alles in Ordnung. Er spürte es nicht.
Es war ein böser Ort.

„Aikikia!“, rief ich. „Aikikia!“
Wir brauchten sie.
Sie musste irgendetwas tun.
Sie kam zu ihm.
Sie wusste, dass sie keine Magie anwenden durfte.
Zuerst sah sie sich das Bein an, dann setzte sie sich zu Kirren, in die Nähe seines Kopfes. Sie redete mit ihm.
Was genau sie tat, erkannte ich nicht.
„Zur Unterstützung könnt Ihr sein Bein vorsichtig bewegen.“, schlug sie vor. „Es scheint nichts Schlimmes beschädigt zu sein. Vermutlich die Nerven.“
Zögernd blickte ich zu ihr.
Dann packte ich Kirrens Bein an. Ich hielt es am Fuß und am Knie und versuchte, es langsam zu beugen.
Es war schwierig, da Kirren nicht half.
Er konnte vermutlich nicht einmal.
Also winkelte ich sein Knie vorsichtig an, bewegte dann etwas den Fuß und die Zehen. Und wieder zurück.
Dann noch einmal.

Kirren drückte währenddessen weiterhin seinen Unmut darüber aus, dass ich ihm half.
Er schien noch immer zu denken, dass ich ihm etwas Böses wolle.
Innerlich schmerzte es, doch ich half ihm weiter.
Bewegte zwischendurch immer wieder sein Bein.

Rhea saß noch eine Weile bei den Heilern im Zelt. In den Katakomben war sie scheinbar auch verwundet worden.
Doch bald ging es ihr besser, denn sie kam zu uns.
Auch ihr erklärte ich, was passiert war.

„Was ist mit Gin?“, fragte Kirren dann.
Ich starrte zu Boden. Treffer.
„Er… Er hat es nicht geschafft.“, murmelte Lynx.
Wieder war ich den Tränen nahe.
Ich hielt den Blick gesenkt. Sie sollten es nicht sehen.
„Was?“, fragte Kirren. Er schien es nicht zu glauben. „Gin ist tot?“
„Gin ist tot!“, schluchzte ich. Wut und Trauer überkamen mich gleichzeitig.

Bald kam Lord Cecil zu uns. Er sah Kirren an.
Ehe wir etwas sagen konnten, kniete er sich zu ihm und murmelte etwas.
Kirren schrie auf, verdrehte die Augen.
„Njet!!! Keine Magie!“, schrie ich und ich hörte gleichzeitig auch Lynx  und Rhea protestieren.
Es vergingen Augenblicke, die sich wie eine Ewigkeit anfühlten. Erst dann hörte Lord Cecil auf.
Hatte es Kirren geschadet? Er sah nicht gut aus.
Lord Cecil verstand nun, dass Magie nicht die beste Idee war und entfernte sich wieder.
Kirren klagte über Kopfschmerzen. Er wollte etwas zu trinken haben.
Ich sah zu meiner Feldflasche.
„Wollt Ihr Wasser?“. Ich hob meine Flasche, um sie ihm zu zeigen. Dann sah ich zu Lynx. „Denke ich vertraut er mir nicht…“
Seufzend ließ ich die Flasche wieder sinken.
Lynx bot an, zuerst aus der Flasche zu trinken, um Kirren zu zeigen, dass das Wasser nicht vergiftet war.
„Kommt her.“, befahl Kirren. Obwohl er schwach war, war seine Stimme schneidend.
Ich näherte mich ihm und hockte mich runter.
„Warum helft Ihr mir?“, fragte er. Das Misstrauen war klar zu hören.
Seine Stimme. Sein Blick. Alles war einfach nur böse. Voller Abscheu.
„Ich hasse Euch nicht.“, erwiderte ich knapp. Was sollte ich auch sonst sagen?
Dann überreichte ich Lynx meine Feldflasche.
Sie trank daraus und bewies so, dass der Inhalt nicht giftig war.
Kirren nahm sie an und trank ebenfalls.

Irgendwann wurde Kirren wieder munterer.
Zum Glück hatten wir ihm im Vorfeld seine Waffen weg genommen, denn sonst hätte er mich vermutlich versucht anzugreifen.
Ich wusste nicht, was mit ihm los war.
Er versuchte, den anderen Personen ihre Waffen zu klauen.
Es gelang ihm nicht.
Doch er wollte unbedingt aufstehen. Wollte seine Waffen wieder haben. Wollte weg von uns.
Wenn er sich zu viel bewegen würde, würde die Wunde wieder aufreißen, das war uns klar. Also hielten wir ihn zurück. Immer, wenn er seinen Oberkörper hoch hob, drückten wir ihn zurück. Er sollte sich einfach ausruhen.
Die Heiler hatten ihm sogar eine Decke und ein Kissen gebracht, damit er nicht auf dem harten und kalten Steinboden liegen musste.
Doch auch das genügte ihm nicht.
Als es zu schlimm wurde, verpassten wir ihm einen Schlag an den Kopf. Er wurde wieder ohnmächtig.

Die Magierin mit den grünen Haaren kam zu ihm.
Sie durchsuchte seine Taschen und holte die Sanduhr heraus.
Die, die er mir schon in Moordorf gezeigt hatte.
Die, die sich irgendwie an seine Seele geheftet hatte.
Die Frau wollte diesen Gegenstand untersuchen und ging wieder.
Ich wusste, dass die Sanduhr ohnehin zurück zu Kirren gelangen würde und er sie sowieso nicht haben wollte, also hielt ich sie nicht auf.

Bald erwachte Kirren wieder und nutzte jede Möglichkeit, um aufstehen oder uns angreifen zu wollen.
Die Magierin kehrte bald zurück und wollte ihm die Sanduhr wieder geben. Er war total verwirrt, immerhin hatte er den ‚Diebstahl‘ gar nicht mitbekommen.
„Zum Turm.“, murmelte Kirren. „Ich muss zum Turm.“
Er wollte sich wieder erheben. Wir mussten noch mehr Kraft aufwenden, um ihn daran zu hindern.
Breeg stellte sich vorsorglich an den Eingang zum Turm, damit er nicht hin kam.
„Da ist Gold! Ich will das Gold!“. Er schien zu halluzinieren. Wieso hatte er Gold gesehen? Und wo? Am Turm? Bestimmt nicht.
„Da ist kein Gold, Kirren!“, versuchten wir ihn zu überzeugen. Doch so richtig gelang es uns nicht.

Als die Kämpfe wieder anfingen, brachten wir Kirren in die Nähe eines der Zelte. Wir wollten ihn nicht noch weiter gefährden.
Außerdem konnten wir so Abstand zwischen ihn und den Turm bringen.
Die Geister-Gestalten wurden nicht müde, den Kriegern das Leben zur Hölle zu machen.
Als Kirren sich immer mehr wehrte und den umstehenden Kriegern sogar Silberstücke aus den Drachenlanden anbot, um an eine Waffe zu kommen, wussten wir bald nicht mehr weiter.
Ich rief nach Lord Cecil und erklärte ihm, dass Kirren zum Turm wollte.
„Es gibt einen Alchemisten, der uns sicher helfen kann. Doch er ist nicht hier. Ich müsste ihn holen.“, erklärte er.
„Wie lange würde das dauern?“, fragte Rhea.
Lord Cecil schien zu überlegen.
„Wenn ich jetzt los reisen würde, wäre ich wohl in zehn Tagen wieder zurück.“, erwiderte er.
„Und wir sollen Kirren zehn Tage ruhig stellen?“, fragte sie weiter.
Wie sollte das funktionieren?
„Oder ihr müsst ihn ziehen lassen.“, antwortete er dann. „Wenn er zum Turm will, dann soll er zum Turm gehen.“
„Was kann dort passieren?“, fragte ich sofort. Mich interessierte der Turm. Doch er schien nichts Gutes zu bedeuten.
„Oben ist das Portal zum Himmel. Doch er wird es nicht erreichen können. Es schlagen immer wieder Blitze in den Turm ein. Und da er aus Stahl ist, kann das gefährlich sein. Er sollte das Geländer nicht berühren.“, erklärte Lord Cecil.
Das Portal zum Himmel?, dachte ich. Ich konnte mir nichts darunter vorstellen.
Doch wir konnten Kirren nicht noch länger ruhig stellen.

„Gut, Kirren. Wir gehen zum Turm.“, erklärte ich und er erhob sich.
Breeg stand noch immer vor dem Eingang. Ich bat ihn, uns durchzulassen. Als ich ihm sagte, dass wir den Turm hinaufsteigen wollen, ging er beiseite. Er wollte auch mit.
„Nein, nicht hoch! Runter!“, protestierte Kirren, doch wir ließen ihn nicht. Ihm war es beim letzten Mal in den Katakomben schon so schlecht ergangen. Wieso sollte es diesmal anders sein?
Außerdem… außerdem war Gin dort gestorben.

Lynx, Rhea, Kirren, Breeg und ich liefen zum Turm. Die Katze folgte uns. „Darf nicht hoch! Ist besessen!“
Doch es war Kirrens Wunsch, den Turm hinauf zu laufen und so folgten wir ihm einfach.
Ich lief direkt hinter Kirren her.
Er schwankte und wirkte sehr schwach und so rief ich ihm immer zu, das Geländer nicht zu berühren.
Die Treppen schienen sich unendlich weit fortzusetzen und die Menschen unter uns wurden immer kleiner.
Je weiter wir liefen, desto mehr hatte ich das Gefühl, alles verschwommen zu sehen. Es war, als wabere hier Nebel. Und es wurde immer schlimmer.
Hatte ich doch zu viel Metka getrunken?
Doch die anderen bemerkten es auch. Wir liefen etwas taumelnder.
Jetzt musste auch ich aufpassen, nicht das Geländer des Turms zu berühren.
Wir stiegen weiter hinauf, Kirren voran.
Plötzlich befanden wir uns in tiefer Schwärze.
Ich erschrak und blieb stehen. Ich wollte mich umsehen, doch es war nichts mehr zu sehen. Keine Menschen, kein Boden. Tiefe Schwärze.
Ich konnte hören, dass die anderen noch da waren.
Auch sie beklagten sich darüber, dass sie nichts mehr sehen konnten.
Doch wir liefen tapfer weiter. Versuchten, zu erahnen, wo die Geländer waren.
„Immer nach den Stufen einen Schritt, dann nach rechts umdrehen!“, rief ich Kirren zu. Es funktionierte ganz gut, solange man nicht die Orientierung verlor.
Wir mussten die Treppen auf jeden Fall gerade hoch laufen. Sonst würden wir wieder zum Geländer kommen.
Ich hatte Schwert und Axt in meinen Händen, doch ich hoffte, dass ich sie nicht brauchen würde. In dieser völligen Schwärze zu kämpfen – keine gute Idee.

Bald zuckten Blitze durch den Himmel.
„Thor!“, rief ich und starrte hinauf.
Doch es waren keine normalen Blitze. Die Farben waren seltsam.
Manche leuchteten in orange auf, manche in pink.
„Ihr immer mit Euren Göttern.“, kommentierte Kirren genervt.
Machte er sich etwa lustig?
Doch wir nutzten die Helligkeit der Blitze, um den Weg zu finden.
Es wurden immer mehr Blitze, doch keiner von ihnen schlug ein. Das war unser Glück.
Trotz allem breitete sich ein flaues Gefühl in meinem Magen aus.
Wir sollten nicht hier sein.

Oben angekommen sahen wir es in der Ferne.
Das Tor zum Himmel.
Es waberte spiralenförmig. Golden.
„Das Gold!“, rief Kirren aus und lief zum Rand des Turms.
„Njet, Kirren! Pass auf!“
Er war gefährlich nahe am Geländer.
Als ich mir diese wirbelnden Farben genauer ansah, erkannte ich schwarze Linien, die sich durch das Gold zogen. Was war das?
Der Turm wackelte.
Blitze schlugen direkt neben unseren Füßen ein, ich sprang zur Seite.
Das Wackeln wurde schlimmer.
Würde der Turm einstürzen?
„Ihr törichten, schwachen Menschen!“, rief etwas.
Ein Lachen war zu hören.
Dann sahen wir es.
Es war der Grund für die schwarzen Wirbel im goldenen Portal.
Das Gesicht war mit schwarzen Zeichen durchzogen. Die Augen leuchteten rot.
Es starrte uns direkt an.
Wieder wackelte es.
Wir gingen zu Boden. Ich versuchte mich am Boden festzuhalten während neben mir weitere kleine Blitze einschlugen. Jedes Mal zuckte ich zusammen.
Müdigkeit legte sich wie ein schwerer Schleier auf mich.
So sehr ich es auch versuchte, konnte ich meine Augen nicht länger aufhalten.
Es gab keine Möglichkeit, dagegen anzukämpfen. Ich schloss die Augen.

Im nächsten Moment fand ich mich unten in den Katakomben wieder.
Hektisch blickte ich mich um. Etwas war anders.
Massive Gitterstäbe schränkten meine Sicht ein.
Ich drehte mich um, nur um festzustellen, dass ich in einem Käfig saß.
Erst im nächsten Moment erkannte ich, dass die anderen auch hier waren.
Rhea, Lynx, Breeg, Kirren, sogar die Katze. Alle waren gefangen. Die Käfige waren kreisförmig aufgestellt.
In der Mitte war eine Gestalt, ganz in schwarz.
Sie trug eine riesige Krone auf dem Kopf.
Und als sie uns anblickte, lachte sie laut.
Ihr Lachen ließ das Blut in meinen Adern gefrieren.
Sie schritt auf den Käfig von Breeg zu, rüttelte an den Gitterstäben. Er schrie erschrocken auf.
Wieder lachte die Gestalt. Ich war mir sicher, dass es die schwarze Frau war. Die, die alle ‚Puppenspielerin‘ nannten.
Dann stolzierte sie zum Käfig von Rhea, rüttelte auch dort an den Gitterstäben.
„Lasst uns raus!“, schrie ich während Rhea erschrocken zurück zuckte. Es gab kein Entkommen. Wir waren ihr gnadenlos ausgeliefert.
Die Augen der Frau fixierten mich für einen kurzen Moment und mir wurde schlecht. Ich konnte ihrem Blick keine Sekunde standhalten.
Sie verschwand für einen Augenblick in der Schwärze. Wir hörten ein Schreien. Das Schreien eines Babies.
Nein.
Die schwarze Frau tauchte wieder auf. Sie hielt ein Baby auf dem Arm. Es war blass, die Wangen eingefallen. Es sah krank aus.
Sie brachte es zu einer Kristallschale, die genau in der Mitte des Käfig-Kreises stand und legte es hinein.
Nein.
Dann zückte sie ein Messer.
„Nein!“, schrien Rhea und Lynx auf. Auch ich hörte mich selbst etwas schreien.
Wieso wollte sie dieses Kind töten?
Es war doch noch ein Baby!

Bevor wir Zeugen dieser Bluttat wurden, fanden wir uns plötzlich in völliger Schwärze wieder. Wir? Oder war ich alleine? War ich schon tot? War das Helheim?
Doch auf einmal kam etwas auf mich zu. Eine Gestalt. Schlimmer, als Hela jemals aussehen könnte. So, als blicke man dem Tod ins Gesicht.
Erst dann bemerkte ich das, was diese Gestalt in der Hand hielt.
Flammen flackerten auf dem langen Speer. Doch viel Zeit blieb mir nicht, den Speer anzuschauen.
Denn die Gestalt holte aus.
Und durchbohrte mich.
Ich schrie auf.

Und erwachte.

Ich keuchte, hustete, atmete schnell.
Mein Puls raste, pulsierte in meinen Ohren.
Ich hatte das Gefühl für Raum und Zeit verloren.
Wo war ich?
War ich tot?
Nein.
Ich hörte andere Schreie, anderes Keuchen, husten.
Ich war auf dem Turm.
Nicht nur ich.
Lynx, Rhea, Kirren, Breeg und die Katze waren auch noch hier.
Wir hockten alle am Boden.
Hatten wir etwa das Gleiche gesehen?
Langsam sah ich mich um.
Die Blitze schlugen noch immer in den Boden ein.
Und es schien schlimmer zu werden.
Als ich zu dem Portal sah, fiel etwas heraus.
Ein weißes, geflügeltes Wesen.
Es war wunderschön.
Und es stürzte zu Boden.
Wieder schrien wir auf.
Die Blitze wurden immer mehr. Sie schlugen mit gewaltigem Knall direkt zu unseren Füßen ein. Der Turm wackelte stärker.
Wir mussten weg. Wir mussten diesen Turm verlassen, solange wir noch konnten.
Doch Kirren wankte. Ihm ging es noch viel schlechter als zuvor.
Aber ich bemerkte, dass er mein Schwert genommen hatte. Ich hatte es wohl aus der Hand verloren.
„Njet, Kirren!! Gib mir Schwert zurück!“. Das konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen. Doch er war gar nicht in der Lage, es richtig fest zu halten, also hielt ich es bald wieder in eigenen Händen.
„Lauft vor!“, rief ich den anderen zu. Ich stützte Kirren.
Ich weiß noch immer nicht, wieso, doch irgendwie musste ich einfach. Ich konnte nichts dagegen tun.
Breeg und Lynx liefen vor. Die Katze starrte noch zum Portal.
Ich versuchte, Kirren zu stützen. Er war so schwer und die stählernen Stufen waren nass vom Regen.
„Sicher?“, rief Lynx zurück, hoch zu uns.
„Da! Bringt nichts, wenn wir alle hier sterben!“, erwiderte ich und versuchte, die ersten Treppen zu nehmen.
Doch als Rhea das hörte, widersprach sie.
„Nein, Anastasya! Wir schaffen das alle zusammen!“
Dann half sie mir, Kirren die Treppen hinunter zu bringen.
Doch es war zu eng auf den Stufen und um das Geländer nicht zu berühren, überließ ich Kirren dann Rhea und versuchte, mich auf den Weg hinab zu konzentrieren, ohne zu fallen.
Von dem Erlebnis noch immer benommen stürzte ich mich also die Treppen hinunter. Ich wollte einfach weg. Doch es schien kein Ende zu nehmen.
Rhea versuchte, Kirren wach zu halten.
Sein Zustand schien kritisch zu sein.
Sie redete mit ihm, forderte ihn auf, seinen Namen zu buchstabieren oder etwas zu rechnen.
Es half. Er blieb einigermaßen wach.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis wir das Tor sahen. Ich rannte auf den Platz und stürzte zu Boden. Starrte einfach nur hinab. Erde. Endlich wieder Erde und Steine unter den Füßen.
Ich konnte es gar nicht glauben und fuhr mit meinen Händen über die Steine und die Erde.
Überlebt. Ich hatte überlebt.
Wir hatten überlebt.

Ich weiß nicht, wie lange ich am Boden verweilte.
Als ich mich wieder etwas gesammelt hatte, erhob ich mich langsam.
Wieder kamen Krieger aus den Katakomben heraus.
Hatten sie dort etwas gefunden?
Ich zog meine Waffen und blieb in einigem Abstand stehen.
Wenn etwas dort heraus kam, was uns angreifen würde, war ich zumindest bewaffnet.
Doch die Krieger schleppten sich einfach nur heraus. Versuchten, Abstand zu gewinnen.

Auch Thorstain war aus den Katakomben gekommen.
Ich lief auf ihn zu.
„Thorstain. Was ist denn mit Katakomben?“, fragte ich nochmal. Hatten sie vielleicht etwas Neues herausgefunden?
„Wir haben einen Plan.“, erwiderte er.
Ich blickte ihn fragend an.
Einen Plan?
„Wir werden nochmal hinab gehen. Wir werden versuchen, zur tieferen Ebene zu gelangen. Dort gibt es ein Portal. Wir müssen hindurch, um die schwarze Frau zu töten.“, erklärte er.
Ich starrte ihn an.
Das hatte er vor?
„Aber… Durch Portal gehen klingt nicht gut. Weißt Du auch nie, was hinter Portal ist.“, gab ich zu bedenken.
„Ich werde mit Lord Baldur hindurch gehen. Und wenn es uns gelingt, werden wir ohnehin unsterblich sein. Denn dann werden Geschichten über uns geschrieben und Lieder gesungen.“. Ein leichtes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Außerdem habe ich schon genug Winter erlebt.“
Ich starrte ihn an.
„Ich hoffe, dass Ihr es schafft.“, erwiderte ich leise.
Innerlich hoffte ich immer noch, dass diese ganze Reise nur ein böser Traum war.
Würde ich wieder aufwachen? In Bärenfels? In Falkenhain? Meinetwegen auch in Moordorf.
Doch was war hier nur passiert?
Gin war tot.
Kirren verabscheute mich.
Thorstain wollte durch ein Portal gehen, was für immer verschwinden konnte. Dann wäre er auf ewig gefangen.
„Ihr habt es verdient, nach Walhalla zu kommen. Also sorgt dafür, dass Ihr nicht einfach so sterbt.“, sagte ich ihm noch. Dann ging ich zu Lynx und Rhea. Sie standen bei Lord Cecil und sprachen über etwas… Über das, was wir oben am Turm gesehen hatten.
Wir waren nicht die einzigen.
Lord Cecil erzählte uns, dass der Flammenspeer, der uns durchbohrt hatte, dem Mann von der Baroness gehörte.
Also war diese Gestalt Mann von Baroness?
Ich verstand es nicht wirklich.
„Der Speer ist zu gleichen Teilen von Dämonen und von Engeln geschmiedet worden. Er ist ein sehr mächtiges Artefakt.“, erklärte Lord Cecil dann noch.

„Wir müssen den Engel retten!“, rief Breeg. Er schnappte sich seinen Bogen und wollte sich auf den Weg machen. Die Katze stand dort und schnüffelte.
Ich wusste, dass sie Geister sehen konnte.
Etwa auch Engel?
„Wisst Ihr, wo Engel ist?“, fragte ich also.
Die Katze schnupperte weiter, drehte sich in alle Richtungen.
„Drei Tage.“
„Dann ist Engel tot denke ich.“, erwiderte ich leise. Es hatte keinen Zweck. Wir würden es so schnell nicht schaffen.
Kirren versuchte immer noch, sich fremde Waffen anzueignen.
Zum Glück passte Rhea noch immer auf seine Schwerter und seinen Dolch auf.

Während wir noch über den gefallenen Engel sprachen, tauchte vor uns eine geisterhafte Gestalt auf.
Sie kam mir sofort bekannt vor.
Die Baroness.
Letzten Mond hatte sie uns ihr eigenes Grab gezeigt.
Wohin wollte sie uns diesmal führen?
Sofort folgten wir ihr, die Katze und ich gingen voraus.
Wieder führte sie uns in den Wald, doch sie lief nicht so zielstrebig wie beim letzten Mal.
An einem bestimmten Waldstück angekommen wurde sie langsamer und drehte ein paar Kreise. Ganz so, als würde sie etwas suchen.
Die Katze sah sie an, lief zu ihr, schnupperte.
Schnupperte am Boden, ging langsam im Kreis.
Doch die Suche schien erfolglos zu bleiben.

Während die Baroness wieder zurück in Richtung Taverne ging, liefen Breeg und ich weiter durch den Wald. Ich wollte meine Falle wieder holen.
Bald fand ich sie auch im Moos. Leider hatte ich nichts gefangen.
Doch gerade hatte ich wirklich andere Sorgen als Hunger.
Ich nahm die Falle an mich. Zusammen mit Breeg lief ich dann zurück zur Taverne.

Der Geist der Baroness stand in einiger Entfernung. Sie schien den anderen etwas mitteilen zu wollen.
Da sie nicht reden konnte, versuchte sie, uns mit Zeichen das deutlich zu machen, was sie ausdrücken wollte.
Wir erfuhren, dass sie zwei ihrer Kinder noch vermisst. Es waren Babies.
Sofort fielen mir das Baby ein, dass die schwarze Frau in die Schale gelegt hatte.
Dass das jüngste Kind der Baroness tot war, hatte ich letzten Mond schon erfahren.
Es war grauenhaft gewesen.
Doch dass sie nicht wusste, wo die anderen beiden Kinder sind, war kein gutes Zeichen. Vielleicht hatte die schwarze Frau sogar beide.

Die Geister Gestalten tauchten wieder auf. Ich rannte los. Wir mussten sie bekämpfen.
„Kirren!“, schrie einer der Gestalten.
Die Stimme kam mir so bekannt vor.
Gin. Das ist Gins Stimme.
Doch wie konnte das sein?
Nein, das war unmöglich!

Einer der Angreifer traf mich an der Schulter. Durch die Wucht des Hiebes wurde ich zu Boden gerissen. Meine Schulter brannte wie Feuer.
Die Katze hatte es mitbekommen und rannte zu mir.
Schnell weg vom Schlachtfeld.
Ich wurde von der Katze gestützt. Bei einem Baum in der Nähe des Heilerzeltes ging ich zu Boden. Die Katze rannte wieder in die Schlacht zurück.
Das Blut schoss aus meiner Wunde. Schnell nahm ich einen Verband aus meiner Tasche.
Mit der linken Hand und meinen Zähnen zog ich den Verband um meine rechte Schulter. Das Wickeln dauerte unglaublich lange, doch es war niemand in der Nähe, der mir helfen konnte.
Um Alkohol darauf zu schütten blieb keine Zeit. Wer wusste schon, wann die Angreifer bei mir sein würden?
Bald kamen Lynx und Rhea dazu.
Sie waren ebenfalls verletzt und schleppten sich zu uns.
Ich war noch mit meiner Wunde beschäftigt und bekam so erst gar nicht mit, was sie hatten.
Als ich den Blick hob, sah ich Breeg am Boden liegen. Direkt in meiner Nähe.
Sein Hals war offen. Das Blut trat rasend schnell aus.
Schnell krabbelte ich zu ihm. Ich packte mehr Verbände aus meiner Tasche.
Magische Heilung. Etwas anderes war nicht möglich.
Ich hoffte, dass Odin noch immer auf meiner Seite war.
Aber zuerst musste ich die Blutung stoppen.
Ich drückte also einen Verband an seinen Hals, um das Blut aufzuhalten.
Mit der anderen Hand nahm ich etwas Metka und versuchte, die Ränder so vorsichtig wie möglich zu reinigen.
Dann verband ich den Hals so schnell wie möglich.
Er durfte nicht noch mehr Blut verlieren.
Rhea saß neben mir.
„Könnt Ihr Verband weiter um Hals wickeln?“, bat ich sie hektisch und holte meine Runen heraus. Rhea stimmte zu und half mir.
Meine Schulter schmerzte noch sehr, aber das musste ich jetzt vernachlässigen.
Die offene Kehle war viel schlimmer.
Als Breeg bemerkte, dass ich meine Runen herausholen wollte, schüttelte er den Kopf und wollte protestieren.
Er murmelte etwas von „Nicht“, „Magie“ und „Kirren“.
„Nicht reden! Nicht Kopf bewegen!“, befahl ich ihm. Aus meinem Runenbeutel holte ich Wunjo, die Rune der Freude und Ingwaz, die Rune des Friedens. Ich drückte sie ihm in die rechte Hand und schloss seine Finger darum. Er war sehr schwach.
Dann fing ich an.
Isa. Algiz. Laguz.
Es raubte mir die Kraft.
Ich starrte vor mich hin. Vor meinen Augen zuckten Blitze, ähnlich den Blitzen vom Turm. Ich sah Farben und Schwärze. Alles gleichzeitig und doch voneinander getrennt. Der Flammenspeer. Das Portal. Der gefallene Engel. Alles war dort und im nächsten Moment wieder weg.
„Anastasya!“
Mein Name.
Jemand rief meinen Namen.
Ich blinzelte.
Wo war ich?
Als meine Schulter wieder zu Schmerzen begann, fiel es mir ein.
Turm.
Breeg lag vor mir.
Meine Sicht war noch immer verschwommen, doch ich erkannte langsam wieder etwas.
Die Kämpfe schienen beendet zu sein.
Ich starrte zu Breegs Hals. Alles war voller Blut. Meine Hände. Der Verband um seinen Hals. Seine Kleidung. Der Boden.
Und Kirren war auch dort. Ich bemerkte ihn erst spät.
„Ich dachte, Ihr wollt ihm helfen.“, knurrte er. „Er sieht aus, als hätte er Schmerzen.“
Ich sagte nichts.
Es schien nichts zu helfen.
Irgendetwas hatte Kirren gegen mich. Würde ich jemals herausfinden, was sein Problem war? Wollte ich das überhaupt?
Mir war noch immer schlecht, ich hatte Kopfschmerzen.
Während ich noch weiter am Boden bei Breeg saß, tauchte eine geisterhafte Gestalt auf.
Doch sie wirkte so vertraut. Irgendwie.
„Gin!“, rief Jemand.
Sie versuchten, nach der Gestalt zu greifen, doch sie fassten durch sie hindurch.
Ich erinnerte mich daran, dass Kirren versucht hatte, einen Pfeil durch die Baroness zu schießen. Er flog auch einfach weiter. Das musste etwas Ähnliches sein.

Es verwirrte mich sehr, doch ich musste mich weiter um Breeg kümmern.
Das Blut schien nicht weiter aus zu treten. Es schien also funktioniert zu haben.

Der Geist der Baroness kam zu uns.
„Hm?“, fragte ich und blickte in das kieferlose Gesicht der Frau.
Sie zeigte auf Breeg. Für einen Augenblick blitzte eine Spur Besorgnis in ihren Augen auf.
„Habe ich schon geholfen…“, murmelte ich leise. Daraufhin nickte der Geist und zog weiter.
Rhea setzte sich bald zu mir.
Ich hielt mir noch immer die schmerzende Schulter. Das Blut trat noch immer aus.
Rhea bemerkte das.
„Geht es Euch gut?“, fragte sie.
„Da…“, erwiderte ich schwach. „Ist nur Kratzer…“
Sie wollte es mir nicht so recht glauben.
„Könnt Ihr mir zeigen, wie man Verbände anlegt? Lynx hat mir schon gezeigt, wie man sie aufwickelt. Aber ich würde auch gerne welche anlegen können.“
„Da, kann ich zeigen.“, antwortete ich ihr und nahm einen Verband in die Hand.
„Am besten nehmt Ihr immer aufgewickelten Verband. Ist einfacher.“. Ich zeigte ihr den Verband. „Dann müsst Ihr immer Alkohol auf Wunde tun. Wunde muss gereinigt werden, sonst bekommt Verwundeter Fieber.“ Ich deutete auf meine Metka Flasche.
Rhea nickte zustimmend.
„Dann nimmst du Verband und wickelst um Wunde. Nicht zu fest, nicht zu locker. Blutung muss aber gestillt sein.“, erklärte ich und wickelte dabei beispielhaft den Verband um meinen Arm.
Sie nickte und schien zu verstehen.
Ich wickelte den Verband wieder ab und hielt wieder meine Schulter.
„Soll ich den Verband wechseln?“, bot sie mir an.
Ich seufzte und nickte dann. Es wurde immer mehr Blut. Der Verband war schon beinahe komplett in Blut getränkt.
Sie wickelte ihn vorsichtig ab.
Dann sah sie zu meinem Metka.
Sie schüttete es in die Wunde und ich schrie vor Schmerzen auf.
Ich hasste das. Metka zu trinken war doch viel besser.
„Ihr habt es mir beigebracht.“, kommentierte Rhea meine Reaktion grinsend.
„Da. Habt Ihr auch recht.“, antwortete ich. Doch es änderte nichts daran, dass ich es hasste.
Dann verband sie meine Wunde. Es war nicht zu fest und stoppte doch die Blutung; sie hatte es auf Anhieb richtig gemacht.
„Gut. Habt Dank!“, bedankte ich mich und erhob mich langsam.
Auch Breeg hatte sich mittlerweile erhoben. Es schien ihm etwas besser zu gehen, doch seine Stimme war noch immer angeschlagen.
Ich hoffte, dass es ihm nicht so gehen würde wie Talon. Nachdem er einen Kehlenschnitt erlitten hatte, war seine Stimme sehr dunkel geworden.

Auf einmal trat Kirren an mich heran und drückte auf die frisch verbundene Wunde. Ich schrie vor Schmerzen auf und sprang zurück.
„Kirren?! Was soll das?!“, schrie ich zu ihm. Ich fühlte mich immer noch total erschöpft.
Breeg hatte das mitbekommen und seine Waffen gezogen. Es war gut, dass ich nicht alleine war.

Ich konnte nicht länger hier bleiben.
Die Erschöpfung lag mir zwar in den Knochen, doch ich musste fort.
Ich musste weg von Kirren. Ein für alle Mal.
Ich hatte alles getan, um ihm zu zeigen, dass ich ihm nichts Böses wollte. Doch es half nichts. Er glaubte mir nicht.

„Breeg. Will ich weiter reisen. Kommst du mit?“, fragte ich ihn. Von den anderen würde ich mich nicht verabschieden. Es war besser, wenn sonst niemand wusste, wo ich war.
Ich nahm meinen Köcher, den Bogen und die Falle wieder an mich.
Breeg nickte und wir machten uns auf den Weg in Richtung Küste.
Wir mussten es noch diese Nacht zurück zum Festland schaffen. Und dann würden wir laufen. Immer weiter. Weit weg.
Ich wollte so viel Weg wie möglich zwischen mich und Kirren bringen.

 

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