Während ich weiter den Weg entlang rannte, erblickte ich auf der linken Seite plötzlich eine Gestalt.
Direkt oben auf dem Feldweg, der zu der Taverne führte.
Ich wurde etwas langsamer und hob den Kopf.
Es war Lynx.
„Lynx…“, murmelte ich und blieb stehen.
„Anastasya!“, erwiderte sie.
Ich war froh, nicht mehr alleine zu sein, denn irgendetwas stimmte ganz und gar nicht.
Wieso war dieser Ort aufgetaucht?
Was wollte Odin mir damit sagen?
Ich musste ihn unbedingt fragen.
„Wo bist du hingelaufen?“, fragte ich Lynx.
Auf einmal hatten wir sie nicht mehr gesehen.
Und nicht viel später war ja auch Bjorn verschwunden.
Sie zögerte und erklärte mir, dass sie einen Traum hatte.
Einen Traum, der sie dazu gebracht hatte, in den Wald zu gehen.
Ich zog mir meine Kapuze wieder etwas ins Gesicht und hörte Lynx zu.
Sie erzählte von einer Frau, die sie zu sich gerufen hatte.
Zu sich, in ein Waldstück voller Nebel.
„Es war Skadi.“, erklärte Lynx.
Ich erstarrte.
„Skadi?“, fragte ich erstaunt. Skadi, die Göttin der Jagd hatte also zu ihr gesprochen?
„Sie hat mir erklärt, was mit mir am Turm passiert ist. Als Kirren mir das Auge heraus gedrückt hat. Als ich alles in diesem… roten Schleier gesehen habe. Es ist ein bisschen wie bei Bjorn wenn er wütend ist. Doch ich kann lernen, das zu kontrollieren.“
Ich dachte über ihre Worte nach.
Wie bei Bjorn, wenn er wütend war?
Aber er konnte es doch nicht kontrollieren. Oder konnte er doch?
Wie war das nur passiert?
„Und sie hat mir das hier gegeben.“, fügte Lynx hinzu und hielt mir einen Dolch hin.
„Sie hat dir Dolch gegeben?“, fragte ich nach. Lynx nickte.
„Darf ich?“
Lynx nickte und ich nahm den Dolch in die Hand.
Er sah hübsch aus, irgendwie edel. Und doch erinnerte es mich an einen anderen Dolch…
„Ist hübsch.“, erwiderte ich und gab ihn ihr zurück.
„Wollen wir rein gehen?“, fragte Lynx und ich nickte. Wir liefen los, vorbei an dem Feld um die Mauern der Taverne herum.
„Und wieso bist du alleine?“. Lynx blickte mich fragend an.
„Nach Phönixnest war ich auf einmal alleine in Wald. Habe ich Bjorn nicht mehr gesehen. Weiß ich nicht, wo er hingelaufen ist.“
Lynx schüttelte den Kopf und ich seufzte.
Ich war so froh, dass Lynx nun hier war.
„War gut, dass ich Taverne gefunden habe, ich denke. Dachte ich, treffe ich bestimmt Freunde.“. Wir liefen die Treppen hinab bis an den großen Vorplatz der Taverne.
„Ja, so wie beim letzten Mal.“, erwiderte Lynx. „Bestimmt treffen wir noch mehr Freunde.“
„Aber wen?“, gab ich zu Bedenken. „Letzte Mal waren Breeg hier und Thoras…“
„Und Conner? Und der Mann mit dem Hammer.“, fügte Lynx hinzu. Ich nickte. „Da. Waren viele, weiß ich aber nicht, ob sie wieder hier sind.“
Wir liefen über den Platz vor der Taverne an dem Lager von Conner vorbei. Zuerst wollten wir schauen, ob wir Thoras beim Rat der freien Völker finden würden.
„Hallo!“, rief Lynx auf einmal und ich hob den Kopf.
Wen hatte sie entdeckt?
Ich ließ meinen Blick einen kleinen Hügel hinauf schweifen und sah sie dann zwischen mehreren Bäumen sitzen: Bruchas und Batras. Der Schmied und der Alchemist.
Lynx lief vor und ich folgte ihr. Die Erde war trocken und staubig von der Hitze und dem ausbleibendem Regen und so wirbelten wir bei jedem Schritt Staub auf.
Sie begrüßten uns und luden uns ein, uns zu ihnen zu setzen.
Ich zögerte einen Augenblick und beobachtete das Geschehen der Taverne vom Hügel aus.
Odins Prüfung hatte ich bestanden. Was besorgte mich also? Er wollte, dass ich weiter seine Kriegerin und seine Dienerin war. Ich musste mich nicht fürchten.
»Setz dich, Anastasya.«
Ich nickte und setzte mich auf ein hölzernes Konstrukt, das am höchsten Punkt des Hügels angebracht worden war.
Nachdenklich wischte ich Erde und Staub von dem Holz herunter und nahm meinen Runenbeutel heraus.
„Heil dir, Odin, der du so viele Masken trägst. Warum hast du mich an diesen Ort geschickt? Was soll ich hier tun? Wie kann ich in deinem Namen dienen. Zeige mir das Schicksal.“, murmelte ich leise, um Batras und Bruchas nicht zu stören.
Lynx saß neben mir und beobachtete, wie ich die erste Rune aus dem roten Runenbeutel zog.
„Uruz – Stärke.“, flüsterte ich und legte den Stein auf das Holz vor mir.
Ich führte meine rechte Hand wieder in den Runenbeutel und griff nach der nächsten Rune. Die Rune für die Gegenwart.
Ich legte die Rune neben Uruz und sah erst dann hin. Und erstarrte.
Was ich sah, ließ das Blut in meinen Adern gefrieren.
Dagaz. Die Sanduhr.
Ich senkte den Blick und Tränen stiegen in meine Augen.
„Odin… Wieso tust du das?“, fragte ich flehend. „Wieso Dagaz?“
Ich vernahm ein Lachen. Kein Fremdes, sondern mein Eigenes. Nur, dass es außer mir niemand anderes hörte.
Ich sah mich um, um diese Vermutung zu bestätigen. Niemand außer mir schien ein Lachen zu hören.
Lynx blickte mich besorgt an.
„Anastasya, was ist?“, fragte sie.
„Ich habe Dagaz gezogen.“, erwiderte ich. „Dagaz für Gegenwart.“
Lynx nickte. „Und was ist damit?“, fragte sie und zeigte auf Uruz.
„Ist Vergangenheit. Habe ich Uruz gezogen. Uruz für Stärke. Bin ich stark gewesen.“, erklärte ich leise. Meine Stimme zitterte.
„Und die Zukunft?“, fragte Lynx.
Ich wusste nicht, ob ich die Rune für die Zukunft überhaupt sehen wollte.
Aber man musste beenden, was man begonnen hatte. Und das galt auch für das Ziehen dieser Runen.
Ich griff in den Beutel, nahm eine Rune heraus und legte sie neben Dagaz.
„Thurisaz. Der Dorn.“, erklärte ich. „Muss ich… Dorn im Inneren von mir finden. Dorn, der schmerzt. Von innen entfernen und bekämpfen.“
»Bekämpf den Dorn! Töte Kirren!«
Ich erstarrte. Wieder sammelten sich Tränen in meinen Augen und ich starrte die Runen an. Vor allem Dagaz.
Diese Rune lag vor mir. Sie hatte Breeg geholfen. Und doch verhieß sie für mich nichts Gutes.
Ich sah Kirren, wie er meine Runen in den Händen hielt. Wie er eine Rune aus der Masse der Runen herausnahm und mir zeigte. Wie er mich fragte, was das für eine Rune sei. Wie er Dagaz in der Hand gehalten hatte und wie diabolisch sein Grinsen wurde, als er erfuhr, um welche Rune es sich handelte.
„Anastasya?“. Lynx holte mich zurück ins Hier und Jetzt.
Ich starrte zu ihr, meine Augen noch immer weit aufgerissen.
Ich nahm meine Flasche mit Metka in die Hand und trank einen Schluck. Dann reichte ich sie weiter an Batras und Bruchas, die beiden einen Schluck nahmen.
„Wollen wir schauen, ob Thoras da ist?“, fragte Lynx.
Ich nickte und wir erhoben uns.
Gemeinsam liefen wir den Abhang des Hügels wieder hinunter und in Richtung des Rates.
„Die dort.“, hörte ich eine fremde Stimme. „Auf die sollen wir aufpassen!“
Ich erstarrte und blieb stehen.
Irgendwie befürchtete ich, dass sie über mich sprachen.
Nur wieso?
„Ja, schrei noch lauter.“, ertönte eine andere Stimme.
Lynx sah verwirrt zu mir.
Hatte sie es etwa nicht gehört?
Ich zögerte, dann beschloss ich, weiter zu gehen.
Wir liefen zum Lager des Rates und sahen uns um.
Niemand, der uns bekannt vorkam.
Thoras war also nicht hier?
Ich sah mich etwas um.
„Hm. Thoras nicht hier, eh? Gehen wir erst zurück zu Bruchas und Batras? Können wir von oben mehr sehen als unten.“
Lynx stimmte mir da zu und wir liefen zurück.
Als wir uns wieder zu ihnen setzten, unterhielten sie sich über das Schicksal.
Ich hörte, dass sie auch etwas über mein Schicksal sagten.
Bruchas setzte sich zu mir und zog drei Karten, die er nacheinander vor mich legte.
Es erinnerte mich etwas an das Ziehen von Runen. Und an etwas anderes. Die Wahrsagerin vom Phönixnest.
Mein Körper fing unwillkürlich wieder an zu Zittern.
Nachdem diese Wahrsagerin den Menschen ihr Schicksal mit den Karten gezeigt hatte, hatten sie sich das Leben genommen. Ich hatte ihr die Karten damals weggenommen, um Schlimmeres zu verhindern.
Und jetzt legte jemand mir selbst die Karten.
„Es wird alles gut sein.“, riss mich die Stimme von Bruchas aus den Gedanken. Ich hatte nicht aufgepasst. Vor mir lagen drei Karten. Ich konnte nicht genau erkennen, was dort geschrieben stand. Mein Kopf schmerzte.
»Anastasya. Willst du es nicht loswerden?!«
„Anastasya. Was ist mit deinen Augen?“, fragte Lynx und starrte mich von der Seite an.
Ich sah verwirrt zu ihr. Wieso sprach mich schon wieder jemand auf meine Augen an? Sie hatte mich doch schon öfter gesehen!
„Da. Weiß ich, sind Augen blau und schwarz, sehen irgendwie böse aus.“, gab ich zurück.
Ich verstand nicht, wie sie gerade jetzt darauf kam. Immerhin kannte ich sie nun schon seit zwei Monden. Hatte sie mir nie in die Augen gesehen?
„Nein.“, erwiderte sie.
Jetzt drehte ich den Kopf zu ihr.
„Njet?“, wiederholte ich und sah sie an. „Doch! Sind Augen in dunklem blau mit schwarzer Rand.“
„Nein, sind sie nicht.“
„Aber… Hast du zu viel getrunken etwa?“, fragte ich nach. Ich hatte sie gar nicht trinken sehen. Oder war sie durch ihren Traum noch zu sehr verwirrt?
„Deine Augen sind eher… grau? Mit braun? Oder rot?“
Ich schüttelte den Kopf.
Ich wusste doch, wie meine Augen aussehen.
„Batras. Habt ihr etwas, was sich spiegelt?“, fragte Lynx ihn und er begann, in seiner Tasche zu kramen.
„Ich weiß nicht genau. Wenn ihr es richtig ins Licht haltet vielleicht. Kommt drauf an, was ihr vorhabt.“, erwiderte er und hob ein paar Glas-Gefäße aus der Tasche.
„Sie will nur ihre Augen sehen… Die haben sich verändert.“, erklärte Lynx.
Bruchas setzte sich vor mich und sah mir in die Augen.
„Sagt sie sind Augen jetzt nicht mehr blau-schwarz. Kann nicht sein. Muss sie zu viel getrunken haben.“, wiederholte ich mich.
Bruchas zögerte einen Moment.
„Lynx hat aber recht. Da sind ganz viele Farben in den Augen. Grau, braun, rot und grün. Ich würde fast sagen, Ihr habt fast jede Farbe in Euren Augen.“, erklärte Bruchas.
Das konnte er doch nicht wirklich so meinen?!
„Njet! Müsst ihr beide etwas Falsches gegessen haben! Verändern sich Augen nicht einfach so!“, protestierte ich.
„Nein! Getrunken haben wir auch nicht zu viel. Wann habt Ihr Eure Augen denn zuletzt gesehen?“, fragte Bruchas mich. „Als Kind?“
Ich dachte darüber nach.
Wann hatte ich mich zuletzt auf der Oberfläche eines ruhigen Sees betrachtet?
Und doch wusste ich irgendwie, wie ich aussah.
Blaue Augen, da war ich mir sicher.
Mich hatten doch schon so viele Menschen auf meine Augenfarbe angesprochen.
Oft hielten sie sie für böse, weil es für sie so ein seltsames Blau gewesen war.
Doch jeder von ihnen hatte immer gesagt, dass es blau war.
Nicht grau oder gar bunt.
„Ist etwas Schicksalhaftes mit Euch passiert?“, fragte Bruchas dann.
Ich war mir nicht sicher.
Was war denn etwas Schicksalhaftes?
Und war es etwas Gutes oder etwas Schlechtes?
„Runen haben mir Dagaz gegeben. Dagaz für Gegenwart.“, erklärte ich leise.
Ich wollte es einfach nicht glauben. Was hatte Odin mit mir vor?
„Könnt Ihr mir zeigen, wie Ihr die Runen legt?“, fragte Bruchas. „Das interessiert mich.“
Ich nickte und nahm den Runenbeutel in die Hand.
„Nicht anfassen bitte.“, bat ich ihn.
„Werde ich nicht.“, erwiderte er und beobachtete mich genau.
„Heil dir Odin, der du so viele Masken trägst. Kannst du sagen, was das Schicksal bereit hält?“
Meine Hand ging in den Runenbeutel.
„Erste Rune, die ich ziehe, steht für Vergangenheit. Zweite Rune ist Gegenwart. Dritte Rune ist Zukunft. Die vierte Rune wird über die zweite gelegt und zeigt Grund für Frage. Darüber ist fünfte Rune. Zeigt Problem, was Fragesteller hat. Darunter ist sechste Rune. Sechste Rune zeigt mögliches Ergebnis oder Ausgang.“
Ich legte beispielhaft ein paar Runen in der Form des Kreuzes und erklärte ihre Bedeutung.
Diesmal zog ich bei der Gegenwart Kenaz, das Feuer. Ich erstarrte und warf Lynx einen Seitenblick zu.
„Kenaz. Feuer und Erkenntnis. Weißt du noch. Feuer. Breeg?“, fragte ich sie und sie nickte.
Wieso zeigte mir Odin das?
Ich ließ die Runen noch einen Moment liegen, dann sammelte ich sie wieder ein und bat Lynx, einen Knoten in den Beutel zu machen. Mit nur einer Hand dauerte es einfach viel zu lange.
Seufzend betrachtete ich die Finger meiner linken Hand.
Sie waren bereits etwas nachgewachsen, taten aber noch immer weh.
„Geht es ihr besser?“, hörte ich neben mir eine vertraute Stimme.
„Ja, schon.“, erwiderte Batras. Ich hob den Blick.
Conner war neben mir aufgetaucht und hielt mir einen Krug hin.
„Es ist zwar ein schwacher Trost, aber ich möchte mich noch für die Heilung bedanken…“, erklärte er und gab mir den Krug.
„Habt Dank.“, gab ich zurück und nahm den Krug an mich.
Es roch gleichermaßen nach Bier und Honig.
Conner und ich stießen an und tranken.
Es schmeckte lecker, schmeckte genau, wie es roch. Nach Bier und Honig.
„Setzt Euch doch.“, schlug ich Conner vor.
„Da sage ich nicht ‚Nein‘“, erwiderte er und setzte sich zu uns auf das Holzgestell.
Wir tranken gemeinsam das Bier.
Was war jetzt überhaupt mit meinen Augen? Wieso hatten sie davon gesprochen?
Ich wollte es ihnen nicht glauben.
Ich konnte es ihnen nicht glauben.
Kurz sah ich zu Conner.
„Augen sind blau, da?“, fragte ich ihn.
Er sah mir kurz in die Augen.
„Ja.“, gab er zurück.
Ich nickte und sah zu den Anderen.
„Seht ihr? Habt ihr zu viel getrunken!“, erwiderte ich.
Ich wusste doch, dass meine Augen blau waren.
Nicht bunt.
„Nein!“, protestierte Lynx und sah zu Conner.
Er wirkte verwirrt und sah mir erneut in die Augen.
„Hm. Wobei. Es ist wirklich eher grau. Nicht dunkelblau. Grau mit braun und…. Etwas rötlich? Vielleicht sogar grün dabei?“
Ich blickte ihn fragend an.
Wie kam er darauf?
„Ich habe es gerade nicht richtig erkennen können in dem schlechten Licht.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Njet! Wechselt man nicht einfach Augenfarbe!“, protestierte ich.
Das konnten sie doch nicht ernst meinen!
„Kann ich den Dolch sehen?“, fragte Bruchas Lynx und sie überreichte ihm den Dolch.
Bruchas drehte und wog ihn in der Hand. Dann nahm er eine seltsame Kette aus einem schimmernden Metallgeflecht aus seiner Tasche.
Ein solches Material hatte ich noch nie zuvor gesehen.
Er legte die Kette um den Dolch.
„Was macht Ihr da?“, fragte Conner.
Bruchas erzählte etwas von einer Mithrilkette und davon, dass er seine Kraft damit auf einen Bereich beschränken kann.
„Ist das bei den Runen nicht ähnlich?“, fragte Conner und blickte mich an.
Ich zögerte einen Augenblick und dachte darüber nach.
Mit den Runen konzentrierte ich meine Kraft ebenfalls, nur… war es dennoch anders.
„Da. Aber… Denke ich, stellen Runen Verbindung zu Göttern her. Deswegen ist etwas anders…“, gab ich zurück. Ganz sicher war ich mir nicht.
»Anastasya, du musst Kirren töten!«
Wieder erschauderte mein Körper. Ich trank noch einen Schluck Metka, bat dann auch Conner etwas an. Was war nur mit dieser Stimme? Wieso klang sie so wie meine?
„Was tut er da?“, hörte ich Conner sagen und schreckte aus meinen Gedanken.
Ich sah auf.
Hatte Bruchas da gerade an dem Dolch geleckt und gerochen? Wieso?
Verwirrt sah ich ihn an, doch ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen.
»Töte ihn!«
Ich hörte, wie sie von Zwergen sprachen und von Nebel und von Eis.
Was meinten sie? Ich verstand sie kaum noch.
Es verschwand alles im Hintergrund.
»Anastasya. Du willst doch nach Walhalla, oder nicht? Du enttäuschst mich mit deinen Taten, Anastasya. Ich dachte, dass du meine Tochter seist. Aber es gibt einen Weg. Töte Kirren, dann ist der Weg nach Walhalla sicher für dich.«
Ich sprang auf, nahm meine Axt in die rechte Hand und lief los.
Ohne groß darüber nachzudenken, rannte ich über den Platz.
Ich hörte, wie sie meinen Namen riefen, hörte sie hinter mir.
Es war mir egal.
Kirren. Er musste sterben.
Odin hatte es befohlen.
Er wollte, dass er stirbt.
Kirren hatte mich an den Göttern zweifeln lassen und jetzt sollte ich beweisen, dass ich Odin trotzdem treu war.
Dass ich nicht mehr zweifelte.
Die Heilung von Breeg war nur der erste Schritt gewesen.
Jetzt musste ich es zu Ende bringen.
Thurisaz. Ich hatte doch Thurisaz gezogen. Ich musste den Dorn loswerden, der mir Schmerzen bereitet hatte.
Und dieser Dorn trug einen Namen.
Kirren.
Ich rannte dorthin, wo ich her gekommen war, rannte den Weg entlang an dem Feld vorbei.
Doch ich sah keinen Kirren.
Ich musste. Ich musste ihn doch finden!
Vollkommen außer Atem rannte ich weiter.
„Anastasya! Was ist denn los?“, hörte ich eine bekannte Stimme hinter mir.
Es war Lynx.
„Ich muss ihn töten!“, rief ich ihr zu und rannte an ihr vorbei.
„Wen? Kirren? Er ist gar nicht hier! Warte, Anastasya!“
Ich rannte zurück, die Treppen hinunter und zum Rat der freien Völker.
Auch hier war kein Kirren zu sehen.
Aber er musste doch hier sein! Wieso hätte Odin mir diesen Auftrag sonst gegeben?
„Hee, was rennst du denn so panisch hier rum?“
Eine vertraute Stimme, doch es musste länger her gewesen sein.
„Kennst du mich noch, oder?“, fragte er.
Ich zögerte und sah mich um.
„Avares?“, murmelte ich leise. Er fasste mich am Arm.
Ja, das musste Avares sein. Der, der Breeg und mich hinter den Sümpfen vom Sumpffieber geheilt hatte.
„Ich muss ihn töten…“, murmelte ich immer wieder.
„Nein, du musst niemanden töten. Ich habe etwas, was dir helfen kann.“, erklärte er und führte mich zu einer Treppe.
Die Treppe, auf der ich vor einem Mond bereits gesessen hatte.
Er drückte mir die Statue seiner Gottheit in die Hand.
Ich kannte diese Statue. Ich hatte sie schon einmal in der Hand gehalten.
Nur wieso?
Wieso gab er sie mir?
Ich glaubte nicht an seinen Gott.
»Anastasya, das ist ein fremder Gott. Wendest du dich von uns ab, Anastasya? Denk daran. Töte Kirren!«
Mein Körper zitterte.
Ich musste Kirren töten.
Ich gab ihm die Statue zurück.
„Ich muss ihn töten!“, wiederholte ich mich.
Avares wirkte verwirrt, doch das war mir egal.
Conner kam zu mir.
„Anastasya. Setz dich.“, forderte er mich auf und zusammen mit Lynx drückte er mich sanft auf die Treppenstufe.
Ich wollte nicht.
Ich wollte doch Kirren finden.
Ich musste ihn töten.
Ich musste einen Weg nach Walhalla finden.
„Was ist los, Anastasya?“, fragten sie mich erneut.
„Ich muss Kirren töten! Komme ich nach Walhalla, wenn ich ihn töte. Ist Befehl von Odin!“
Meine Stimme zitterte und wurde unruhig.
Wieso wollten sie nicht, dass ich ihn tötete?
„Anastasya, das ist nicht der richtige Weg.“, gab Conner zurück.
Ich blickte ihn an.
„Aber ich muss ihn töten!“
Wieso ließen sie mich nicht?
„Ist er hier?“, fragte Conner.
„Ich weiß nicht.“, gab ich zurück. „Aber… Wenn Odin gesagt hat… Er sagt es immer noch. Diese Stimme. Sie ist… ich kann nicht warten!“
„Du solltest abwarten. Du weißt doch gar nicht, ob er hier ist. Außerdem ist es nie gut, kopflos eine Sache anzugehen.“, versuchte er mir zu erklären.
»Hör nicht auf ihn! Was weiß er schon?! Töte Kirren!«
Ich starrte den Boden an. Den trockenen Staub, der von jeder noch so kleinen Bewegung aufgewirbelt wurde.
Der Süden war einfach kein Ort für mich.
„Anastasya.“, hörte ich eine weitere vertraute Stimme.
Ich brauchte den Kopf nicht zu heben, um zu erkennen, wem sie gehörte.
Es musste der Mann mit dem Hammer sein.
Er war also auch hier?
„Ich muss ihn töten.“, sprach ich zum wiederholten Male.
Es fühlte sich an, als sei ich mir noch nie so sicher gewesen.
Odin wollte es so. Ich wollte es so.
Er musste sterben.
„Anastasya, schau mich an.“, forderte mich der Mann mit dem Hammer auf.
Ich zögerte. Wieso? Was wollte er? Wieso durfte ich Kirren nicht einfach töten?
„Schau mich an.“
Ich hob den Kopf und sah zu ihm auf.
„Was ist los? Hast du Kirren gesehen?“, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf.
„Ich muss ihn töten…“
„Wieso musst du ihn töten?“
„Hat Odin gesagt… Komme ich nach Walhalla, wenn ich Kirren töte.“
„Also musst du ihn töten?“, fragte der Mann mit dem Hammer.
Ich war mir nicht sicher.
Musste ich? Oder sollte er einfach sterben?
Vermutlich sollte ich es tun.
Und ich wollte es auch.
„Anastasya, lass uns mal zu dieser Hütte dort hinten gehen. Da sind Freunde von mir. Die können uns auch helfen.“, schlug der Mann mit dem Hammer vor.
Ich zögerte einen Augenblick.
Wobei wollten sie helfen? Ich musste doch nur Kirren töten. Nicht sie, sondern ich. Ich musste es tun.
Doch ich gab nach.
„Da. Können wir gehen.“, erwiderte ich leise und erhob mich.
Lynx, Conner und ich folgten ihm zu der Hütte.
Die Menschen, die darin saßen, sahen aus, als kämen sie aus dem Norden – genau wie ich.
Sie musterten mich und baten mich dann, mich in die Hütte zu setzen.
Ich sah kurz zu dem Mann mit dem Hammer.
Er nickte.
Ich konnte diesen Menschen also vertrauen?
Ich betrat die Hütte und setzte mich auf einen Baumstumpf.
Ein Mann, der mir bekannt vorkam, setzte sich zu mir und sprach mich an.
„Erinnert Ihr Euch noch an mich? Hinter den Sümpfen. Ihr habt mir das Knie geheilt.“
Ich erinnerte mich. Der Mann, der von einem seltsamen Bogenschützen getroffen wurde.
„Ich schulde Euch also einen Gefallen. Ihr genießt hier das Gastrecht. Ihr könnt her kommen, wann immer Ihr wollt und wenn Ihr Hilfe braucht, dann lasst es mich wissen.“
Langsam nickte ich.
„Habt Dank.“
Sie konnten mir wohl nicht dabei helfen, Kirren zu töten.
Doch immerhin war es gut zu wissen, einen Ort zu kennen, an dem man sicher war.
Auch Conner und Lynx setzten sich zu mir.
Ein paar andere Männer fragten mich interessiert, was denn los sei.
„Ich muss ihn töten.“, gab ich ihnen lediglich als Antwort.
Wieso interessierte es sie überhaupt?
„Wen und warum?“, fragte einer von ihnen.
„Heißt Kirren… Hat… Schlimmes getan.“, erwiderte ich knapp.
Ich wollte ihnen nicht alles erzählen.
Außerdem schmerzte mein Kopf.
Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Wie sieht er aus?“, fragte mich einer der Männer.
„Haar ist dunkelblond. Hat rot-schwarze Rüstung…“, erklärte ich seufzend.
Was sollte es ihnen helfen?
„Und Ihr musst ihn töten?“, fragte er.
Ich nickte.
Ich war mir mittlerweile ziemlich sicher, dass ich ihn töten musste.
Lynx und ich verließen die Hütte wieder.
Auf einmal sah ich ihn.
Kirren.
Er stand dort.
Ich rieb über meine Augen.
Konnte ich ihnen trauen?
War er dort wirklich?
Er lief über den Platz. Genau dort. Er war dort. Ich verstand es nicht.
»Töte ihn.«
Es war, als würde mein Körper sagen „Iss.“ oder „Trink.
Ich musste es tun.
Ich rannte los.
Im Bruchteil eines Augenblickes wurde ich festgehalten.
Lynx hatte den anderen Personen mitgeteilt, dass es sich um Kirren handelte.
Jemand hielt mich fest.
Ich wollte weg.
Ich wollte zu Kirren.
Ich musste ihn töten.
»Töte Kirren!«
Verzweifelt versuchte ich mich loszureißen.
Ich schrie und tobte und wand mich, doch sie hielten mich fest.
Ich versuchte, mich zu Boden fallen zu lassen, damit sie mich losließen.
Es gelang mir und für einen ganz kurzen Moment war ich frei.
Dann hatten sie mich wieder.
„Bitte lasst mich gehen!“, flehte ich. „Ich muss ihn töten. Bitte!“
Doch sie ließen nicht locker.
„Bitte!“
Ich wand mich, versuchte, mich über den Boden zu ziehen, versuchte, ihren eisernen Griffen zu entfliehen.
Es gelang mir einfach nicht.
Ich schrie und tobte weiter.
„Kirren! Lasst mich Kirren töten! Bitte! Ich will nach Walhalla!“
Sie ließen mich nicht.
Conner und ein weiterer Mann, dessen Name ich nicht kannte, hielten mich an den Armen fest. Sie zogen mich wieder auf die Beine und brachten mich in die Hütte.
Mein Schreien und Strampeln interessierte sie nicht. Wieso war ich nur so schwach?
„Schau mich an.“
Eine vertraute Stimme. Aber ich wollte doch nur weg von hier. Wieso? Wieso ließen sie mich nicht? Wieso wollten sie Kirren beschützen?
„Anastasya, hör auf meine Stimme.“
Der Mann mit dem Hammer. Ich erkannte seine Stimme.
»Anastasya. Worauf wartest du? Willst du nicht für mich, Odin, kämpfen? Töte Kirren!«
Plötzlich verstummte die Stimme in meinem Kopf.
Dafür erklang etwas anderes.
Es klang fremdländisch und ich verstand keines der Worte, obwohl mir die Stimme bekannt vorkam.
Allahumma antas-salamu wa minkas-salam
tabarakta jadsa-l-dschalali wa-l-ikram…….
subhan-allah…….
al-hamdu-lilah…….
Allahu akbar…….Allahumma a‘inni ‘ala dsikrika
wa schukrika wa husni ‘ibadatik
Meine Augen fielen zu.
Als ich erwachte, hörte ich, wie zwei Personen miteinander sprachen.
Ihre Stimmen waren vertraut.
Ich blinzelte und schlug langsam die Augen auf.
Ein seltsames Gefühl der Ruhe durchströmte meinen Körper.
Langsam setzte ich mich auf.
Als ich den Blick hob, sah ich Conner und den Mann mit dem Hammer. Zwar hatte ich sie bereits an ihren Stimmen erkannt, doch nun hatte ich Gewissheit.
Ich starrte auf den staubigen Boden.
Wie fremdgesteuert nahm ich einen kleinen Stein in die Hand und malte eine Sanduhr in den Staub. Dagaz.
Danach malte ich Algiz, die Rune des Schutzes darunter.
Ich blickte sie einen Augenblick an.
»Schutz? Du musst dich selbst schützen, Anastasya.«
Es geschah nichts.
Es sah nicht richtig aus.
»Nimm es selbst in die Hand. Töte Kirren!«
Ich wischte so lange über den staubigen Boden, bis Algiz nicht mehr zu sehen war.
Langsam erhob ich mich.
Ich sah zu Conner und dem Mann mit dem Hammer.
„Wo ist er?“, fragte ich.
„Mach dir keine Sorgen, du bist hier sicher. Er ist nicht hier.“, erwiderte der Mann mit dem Hammer.
Ich verstand nicht, wieso er es mir nicht verraten wollte.
Wieso durfte ich ihn denn nicht töten?
Wieso waren sie auf seiner Seite?
Bald kam Lynx wieder zu mir. Sie setzte sich rechts neben mich.
„Gebt auf sie Acht, ich muss nochmal kurz los.“, hörte ich den Mann mit dem Hammer sagen. Dann verschwand er.
Conner setzte sich links neben mich. Direkt vor den Ausgang der Hütte.
Das war mit Sicherheit Absicht.
„Will ich zu ihm. Will ich nur reden mit ihm. Was ist, wenn ich Waffen abgebe? Darf ich dann zu ihm?“, fragte ich und sah von Conner zu Lynx.
Ohne eine Antwort abzuwarten drückte ich ihnen mein Schwert in die Hand. Die Axt hatte mir scheinbar schon jemand Anderes abgenommen.
Ich erhob mich und die beiden taten es mir gleich.
„Was ist mit dem Dolch? Und den Runen?“, fragte mich Lynx.
Ich seufzte und holte meinen Dolch aus der Tasche. Sie nahm ihn an sich.
Die Runen. Sollte ich ihr wirklich die Runen geben?
„Ich fasse sie nicht an.“, versicherte Lynx mir. „Gib mir einfach nur den Beutel.“
»Du brauchst keine Waffen, um ihn zu töten!«
Nach kurzem Zögern überreichte ich ihr den Beutel.
Der Mann mit dem Hammer kam wieder und lief an uns vorbei.
Irgendwie wirkte er erschöpft.
„Anastasya. Kirren töten zu wollen ist nicht der richtige Weg.“, erklärte Lynx. „Es war nicht Odin, der das zu dir gesagt hat. Das weißt du doch, oder?“
Ich wusste es nicht. Ich war mir nicht sicher.
»Sie hat Unrecht. Sie weiß nicht, was du gehört hast!«
Auch Conner versuchte mich davon zu überzeugen, dass ich auf den richtigen Zeitpunkt warten solle.
„Es ist nie gut, etwas kopflos anzugehen.“, erklärte er mir.
„Ist nicht kopflos.“, erwiderte ich leise.
„Aber ich denke, es ist besser, wenn du dich etwas ausruhst.“, schlug er vor. „Kirren wird dir nichts mehr tun.“
»Auch er war nicht dabei! Er weiß nicht, was Kirren dir angetan hat!«
Wo war der Mann mit dem Hammer eigentlich hingegangen?
Ich blickte an Conner vorbei. Dann sah ich ihn. Er lag auf dem Boden der Hütte.
Wieso hatte ich das erst jetzt bemerkt?
Wie lange lag er schon dort?
„W-Was ist mit Mann mit Hammer?“, fragte ich schockiert und lief zu ihm rüber.
Lynx und Conner folgten mir.
Conner kniete sich zu ihm, sah aber nach wenigen Augenblicken fragend zu mir.
„Wie erkennt man, ob der Mann noch lebt?“, fragte er mich und kam auf mich zu.
„Lass mich schauen.“, gab ich zurück und kniete mich neben den reglosen Körper.
Ich strecke meine Hand aus, um den Puls des Mannes zu erfühlen.
Nichts.
Ich spürte nichts.
Kein Herzschlag.
Nichts regte sich.
Panisch blickte ich zu Lynx.
Ich musste etwas falsch gemacht haben.
Erneut streckte ich meine Hand aus.
Es erinnerte mich viel zu stark an die Geschehnisse am Turm.
Als ich versucht hatte, den Puls von Gin zu erfühlen.
Als ich feststellen musste, dass er tot war.
Auch beim zweiten Versuch konnte ich seinen Puls nicht fühlen.
„Ich merke nichts.“, flüsterte ich.
„Wieso?“, rief ich dann lauter, verzweifelter.
Ich sah hilfesuchend zu Conner.
„Vielleicht ist er ein Vampir.“, überlegte Conner.
Ein was?
Wovon sprach er?
„Was ist Vampir?“, fragte ich verwirrt.
Aber war das überhaupt wichtig?
„Ein Wesen der Nacht.“, gab Conner zurück.
„Aber ist nicht Nacht! Ist Tag! Scheint Sonne! Kann nicht Wesen von Nacht sein!“, erwiderte ich panisch. „Braucht jeder Mensch Puls! Wir müssen etwas machen! Können ihn nicht einfach liegen lassen! Braucht er Puls! Muss Herz schlagen!“
Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Was war nur mit ihm passiert?
„Ist wie bei Gin…“, flüsterte ich leise und wieder stiegen Tränen in meine Augen.
Nein! Ich durfte das nicht zulassen!
„Kannst du ihn mit den Runen helfen?“, fragte Lynx mich. Sie hielt mir den Runenbeutel hin und ich nahm ihn wieder an mich.
Doch war es eine gute Idee?
Ich wusste, dass dieser Mann nicht an Odin glaubte.
Und ich wollte ihm nicht noch mehr schaden.
Er musste einfach überleben.
Ich sah mich um und erblickte den Schädel, den er bei sich trug. Er lag auf einem der hölzernen Tische.
„Und wenn wir Schädel zu ihm legen? Mag er Schädel. Vielleicht kann Schädel helfen!“
Conner lief zu dem Schädel und nahm ihn die Hand.
Dann hielt er inne. Seine Gesichtszüge entspannten sich zunehmend und er blieb einfach dort stehen.
Wieso?
Wieso brachte er den Schädel nicht zu ihm?
„Conner! Musst du Schädel geben! Braucht er Schädel!“, schrie ich ihn verzweifelt an. Meine Stimme zitterte. Ich hatte Angst, dass er sterben würde. Oder bereits tot war.
Wie lange konnte man überhaupt überleben, wenn das Herz nicht mehr schlug?
„Conner? Was ist?“, fragte Lynx nun auch.
Er wirkte so ruhig. Wie konnte er in einem solchen Moment ruhig bleiben?
„Der Schädel spricht… in fremder Sprache zu mir.“, erklärte Conner, doch er wirkte gar nicht überrascht oder verwirrt.
„Conner!“, rief ich. „Was sagt Schädel?“
„Ich weiß nicht.“, gab er zurück. „Aber ich denke, dass alles gut sein wird.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Njet!“, rief ich und nahm ihm den Schädel aus der Hand.
Dann hörte ich es auch.
Sechs Worte.
Ich konnte keines davon verstehen.
Und doch war es, als wüsste ich, was die Worte vermitteln wollten.
„Ich verstehe nicht und verstehe doch.“, murmelte ich.
Ein Gefühl der Ruhe durchfloss meinen Körper wie das Wasser eines langsam fließenden, kühlen Baches.
Es war so erholsam, vor allem an diesem überhitzten Tag.
„Ist gute Schädel.“, hörte ich mich sagen.
Lynx sah mich verwirrt an und nahm mir dann den Schädel aus der Hand.
Auch ihre Gesichtszüge entspannten sich sichtbar.
„War sein Bein schon immer so angewinkelt?“, fragte Conner auf einmal.
Ich sah zu dem Mann mit dem Hammer.
„Njet.“, erwiderte ich.
Er musste sich bewegt haben.
Vorsichtig kniete ich mich wieder neben seinen Körper und tastete nach seinem Puls.
Es dauerte etwas, doch dann glaubte ich, einen Herzschlag zu spüren.
Ein schwaches, aber stetiges Pochen.
„Ich fühle etwas. Er lebt!“. Ein Gefühl von Erleichterung und Freude durchflutete meinen Körper. Es war so seltsam. Irgendwie surreal. Und doch war die Freude echt.
Ich erhob mich wieder und hoffte, dass er bald aufwachen würde.
Als ich mich umsah, erkannte ich, dass Lynx den Schädel wieder auf den hölzernen Tisch gestellt hatte.
Es dauerte nicht lange, bis der Mann mit dem Hammer seine Augen öffnete und sich erhob.
Ich beobachtete, wie er zu dem hölzernen Tisch lief.
Er blickte zu dem Schädel, dann sah er wieder zu uns. Und grinste.
„Ihr solltet Gegenstände, die euch nicht gehören, nicht in die Hand nehmen.“, erklärte er und sah dann zu mir. „Vor allem du nicht!“
Ich blickte betreten zu Boden und wusste nicht recht, was ich antworten sollte.
„Du weißt doch, was mit dem Schädel ist.“, fügte er hinzu und ich nickte.
„Dachte ich, kann Schädel helfen.“, erwiderte ich leise.
Er grinste noch immer, ging dann zu dem Schädel und nahm ihn an sich.
Lynx blickte zu ihm.
„Geh ruhig.“, sagte er zu ihr.
Dann lief sie los und war fort.
Wo wollte sie hin?
Etwa zu Kirren?
Es verwirrte mich so sehr.
Wieso ließen sie mich denn nicht zu ihm.
Ich hatte doch schon meine Waffen abgegeben.
„Wollt ihr auch etwas trinken?“, fragte der Mann mit dem Hammer und blickte zu uns.
„Ja, bitte.“, erwiderte Conner.
Auch ich nickte zögernd.
„Gut. Bis gleich.“, erwiderte er und lief los.
Conner und ich waren nun alleine.
„Hm. Also. Was ist das eigentlich mit den Runen?“, fragte er mich.
Ich sah ihn fragend an.
„Was ist mit Odin? Mit den Göttern, von denen du redest? Es interessiert mich.“
Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte.
Doch dieses ruhige, entspannte Gefühl durchströmte noch immer meinen Körper.
„Odin ist Gott. Vater aller Götter. Ist Allvater und… hat Menschen auch erschaffen. Sorgt sich um Menschen. Will er, dass sie dienen ihm und anderen Göttern. Sollen wir kämpfen in seinem Namen. Und wenn du stirbst ehrenhaft, also in Kampf, dann du kommst nach Walhalla.“
Conner sah mich fragend an. Vermutlich wusste er nicht, was Walhalla war.
„Walhalla ist… schöne Ort. Stell dir große Halle vor. In der kannst du sitzen bei Göttern und trinken. Und alle anderen Freunde sind dort, die gefallen sind in Kampf. Kannst du alle wiedersehen. Kannst du auch kämpfen gemeinsam mit Göttern und Freunden.“, erklärte ich ihm. Er hörte interessiert zu.
Nun musste ich ihm auch von Helheim erzählen.
„Aber… wenn du nicht ehrenhaft stirbst, sondern… durch Krankheit oder weil du warst böse, dann kommst du nach Helheim. Ist kalte und dunkle Ort. Und dort lebt Frau, die halb tot ist.“
„Warte. Halb tot? Ist sie ein Vampir?“, fragte Conner.
Da war es schon wieder.
Vampir.
„Njet. Musst du dir vorstellen… Wenn du rechte Hälfte von Hel siehst, siehst du hübsche Mädchen. Aber linke Hälfte ist dunkel. Dunkle Haut und tote Augen und… schaut böse an dich.“, erklärte ich.
So sah sie auch in all den Träumen aus, in denen ich sie bereits erblicken musste.
Was Odin mir damit sagen wollte, wusste ich bis heute nicht.
Conner nickte.
Er schien zu verstehen.
„Und was ist mit den Runen? Hat Odin dich zu ihnen gebracht?“, fragte Conner mich dann.
Ich nickte langsam.
„Da. Irgendwie schon. Weißt du. Irgendwie habe ich über Runen nachgedacht und… Eltern erzählt, dass ich Gefühl hatte, Odin würde antworten. Ist erst vier Monde her. Haben sie mich verwirrt angeschaut. Mir dann aber etwas gegeben. Buch von Runen. Haben gesagt, hat Verwandter geschrieben. Vater von Vater von Vater… bis in siebte Ebene. Hat er aber Angst vor Macht gehabt und verschlüsselt. Schlüssel in alle Welt verstreut. Sie haben nie geschafft oder getraut, zu entschlüsseln. Ich habe Schlüssel gefunden und angefangen. Und Runen haben gewirkt dann. Habe ich an Begleiter ausprobiert. Und hat geheilt.“, erklärte ich ihm. Ich wusste nicht, wie weit ich ausholen sollte. Ich wusste nicht, was er wissen wollte. Und ich wollte ihn auch nicht langweilen.
Conner nickte und sah mich an. Es war fast, als würden seine Augen leuchten.
„Ich beneide dich. Ich würde auch gerne Leben retten können, anstatt sie nur zu nehmen.“, sprach er.
Es klang so ehrlich. Er meinte es ernst.
„Glaubst du, dass ich das auch lernen kann?“
Ich blickte ihn nachdenklich an.
„Ich weiß nicht. Glaubst du an Odin?“, fragte ich ihn.
„Odin hat mir schon bei den Sümpfen geholfen. Wegen ihm und wegen dir lebe ich noch. Wieso sollte ich einem solchen Gott nicht vertrauen.“, erwiderte er. „Ich… habe zwar noch einen anderen Gott. Aber wer verbietet es mir denn, mehrere Götter zu haben?“
Ich nickte. Es klang irgendwie vernünftig.
Und er hatte Recht. Odin hatte ihm das Leben geschenkt.
Wieso sollte er also nicht auf seiner Seite sein?
Der Mann mit dem Hammer kam wieder und reichte uns die Krüge.
„Danke.“, erwiderte ich und trank langsam. Met. Es war so lecker. Ich fühlte mich gut.
Ein paar andere Menschen setzten sich wieder in die Hütte. Es waren die Nordleute. Vermutlich gehörte ihnen diese Hütte sogar.
„Ihr genießt Gastrecht. Trinkt.“, sprach einer von ihnen und reichte mir einen Krug. Darin war ebenfalls Met. Aber Met, der etwas anders schmeckte. Und er war rot. Aber es war dennoch sehr lecker. Ich bedankte mich und reichte den Krug weiter.
Bald kam der Mann mit dem Hammer wieder auf mich zu.
„Anastasya. Wir können zu ihm.“, sprach er und nahm meine rechte Hand.
Es beruhigte mich zunehmend. Aber genau das verwirrte mich auch.
Wieso war mein Körper und mein Geist plötzlich so ruhig.
Wollte er mich nicht zu Kirren bringen?
Zu Kirren.
Zu dem, den ich töten musste.
Für Odin.
Er führte mich an der Hütte vorbei bis zu dem Hügel. Dort saßen Batras, Bruchas und Lynx. Und. Kirren.
Ich starrte ihn an.
»Töte ihn! Das ist deine Möglichkeit, Anastasya! Du bist meine Tochter! Nutze diese Möglichkeit, die ich dir gebe und bring es zu Ende!«
Wir kamen näher.
Ich löste mich von dem Mann mit dem Hammer und stürzte mich auf Kirren.
„Was hast du gemacht? Kirren!!!“, schrie ich ihn an. Doch ehe ich mich ganz auf ihn stürzen konnte, wurde ich zurück gehalten.
Sie hielten mich mit eisernem Griff fest.
Ich wand mich, schrie und wollte nur zu Kirren.
»Wehr dich, Anastasya! Du musst ihn töten! Er muss sterben! Sonst wartet Helheim auf dich!«
„Kirren! Lasst mich zu ihm!“, schrie ich. „Bitte! Ich muss ihn töten! Lasst mich zu ihm!“
Sie hielten mich von ihm entfernt.
Wieso?
„Wieso schützt ihr ihn?! Wieso? Er hat mir das angetan! Er ist Schuld! Kirren!“, schrie ich weiter. Ich versuchte, mich zu wehren, doch sie waren zu stark. Ich schaffte es nicht.
Sie drückten mich zurück, zogen mich außer Reichweite von Kirren.
Es war, als würde etwas fehlen. Ganz so, als hätte man unendlich starken Durst. Und sie hielten mich davon ab, ihn zu stillen.
Mein Schreien wurde lauter. Ich schrie einfach nur, wollte, dass sie mich los ließen. Ich riss mich ihren Griffen entgegen und tobte weiter. Es half nicht.
„Anastasya!“. Eine vertraute Stimme. Ich hielt kurz inne. „Gib mir deine Hand.“
Ich zögerte. Der Mann mit dem Hammer.
»Hör nicht auf den Mann! Du kennst ihn doch nicht einmal!«
„Vertraust du ihm?“, erklang eine weitere Stimme.
»Wie willst du Jemandem trauen, der dir seinen Namen nicht verrät?!«
„Welche Hand?“, erwiderte ich schwach.
„Die Linke.“, gab er zurück.
„Ist kaputte Hand.“, murmelte ich leise. Es versetzte mir einen Stich ins Herz. Ich war so unbrauchbar.
„Ist nicht schlimm.“
Ich streckte meine Hand aus.
Er nahm sie und legte etwas in meine Hand.
Ich brauchte einen Augenblick, bis ich erkannte, was es war.
Der Schädel, der bereits mit mir gesprochen hatte.
Zwar hatte ich die Sprache nicht verstanden, doch irgendwie hatte ich dennoch verstanden, was er sagen wollte.
Und auch dieses Mal durchfloss diese Ruhe mich plötzlich.
Die andere Stimme entwich aus meinem Kopf und ich konnte mich etwas entspannen.
„Anastasya.“, ertönte neben mir die Stimme von Bruchas.
Ich drehte den Kopf und sah zu ihm.
„Anastasya. Wir wissen vielleicht einen Weg, mit dem wir helfen können.“, begann er zu erklären.
Ich versuchte, ihm zuzuhören, doch irgendwie verwirrte mich jedes Wort von ihm nur.
Er sagte etwas von Batras, dem Alchemisten.
Sprach von etwas, was mich beruhigen würde. Was die Stimme aus meinem Kopf verbannen würde.
Und dann würde ich trainieren müssen, sagte er.
»Trainieren? Nein, Anastasya. Du kannst ihnen beweisen, wie stark du bist. Du kannst ihn töten!«
Ich schüttelte den Kopf.
»Siehst du nicht deine Möglichkeit? Wieso ergreifst du sie nicht? Du willst doch meine Dienerin sein, oder nicht? Oder willst du in die Arme von Hel?«
Vor mir lag die Hand von Bruchas.
Was hatte er gesagt?
Was wollte er?
Ich erwiderte nichts.
Ich gab ihm nicht meine Hand.
Ich konnte keinen Pakt eingehen, ohne zu wissen, was passieren würde.
»Heute kannst du es beenden. Dann bist du für immer frei!«
Ich sah mich um.
Direkt vor Kirren stand Conner. Er war im Weg.
Neben mir lag der Mann mit dem Hammer. Er hatte die Augen geschlossen und sein Körper regte sich nicht.
»Jetzt!«
Wie fremdgesteuert kniete ich mich neben den Mann mit dem Hammer.
Die Idee. Ich wusste, was ich tun musste. Auf einmal war alles klar.
Wieder fasste ich an seinen Hals. Ich fühlte seinen Puls. Doch das sollte niemand sonst wissen.
„Ist Puls wieder weg!“, schrie ich und versuchte, panisch zu wirken.
Doch Conner nahm es ganz gelassen.
„Das wird gleich wieder.“, gab er zurück.
„Njet! Kann nicht gut sein! Was ist nur mit ihm?! Der Herzschlag! Jeder braucht Herzschlag!?“
Jetzt wurden auch die anderen aufmerksam.
Endlich.
Als sie sich zu mir umdrehten, sah ich, was ich tun musste.
Lynx hatte ihren Dolch in der rechten Hand.
Ich stürzte auf sie los, wollte den Dolch greifen und mich dann mit Schwung auf Kirren stürzen.
Doch es kam anders.
Kirren hielt meine Hand fest.
Ich schaffte es nicht, nach dem Dolch zu greifen.
Lynx hielt mich fest.
„Nein, Anastasya! Das lasse ich dich nicht tun!“, erwiderte sie und drückte mich zurück.
Ich wand mich los und stürzte mich erneut auf Kirren.
„Was hast du getan?!“, schrie ich ihm entgegen. „Wieso ist Stimme im Kopf? Was hast du gemacht?“
„Ich habe nichts getan. Lass die Stimme nicht gewinnen!“, erwiderte er ruhig.
Wie konnte er so ruhig sein?
Conner kam zu mir und zog mich zurück, hielt mich fest.
„Lasst mich zu ihm! Wieso schützt ihr ihn?! Was habt ihr gegen mich? Wieso wollt ihr, dass es mich umbringt?“, wütete ich weiter und wollte mich wieder losreißen.
Ich warf mich zu Boden und wollte mich von Conner wegrollen, doch er ließ nicht los und so kugelten wir gemeinsam den Hügel hinunter. Ich lag am Boden und wollte mich wieder hinauf zu Kirren ziehen, doch Conner stürzte sich auf mich.
Es kamen noch andere Personen dazu. Ganz viele fremde Stimmen.
»Wehr dich! Sei einmal in deinem Leben stark, Anastasya!«
Und ich wehrte mich. Wand mich. Gab alles.
Dann hörte ich Jemanden sprechen.
Ich erwachte. Es war dunkel und kalt. Und es kam mir erschreckend bekannt vor. Das hatte ich schon einmal gesehen. Ich blinzelte. Meine Sicht wurde bald klarer.
Und sie war direkt vor mir. Hel. Sie stand dort. Eine Hälfte lebendig, die andere tot. Tot und kalt.
Ich starrte sie an. Sie grinste. Grinste mit diesem teuflischen Lächeln. Und sie schloss mich in ihre Arme. Eisige Kälte durchfuhr meinen gesamten Körper.
Ich schrie auf, brüllte, kreischte mir die Seele aus dem Leib. Mein gesamter Körper schmerzte.
Als ich erwachte, hörte ich zwei Personen, die miteinander sprachen.
Sie sprachen über mich.
Doch eine andere Stimme übertönte sie.
Sie kam mir bekannt vor.
Der Schädel?
Er sprach in dieser fremden Sprache und dennoch wusste ich, was er mir sagen wollte.
Ich blinzelte etwas.
Zum Glück war es bereits dunkel geworden.
Sie achteten gerade nicht auf mich.
Ich merkte, dass ich nicht alleine auf dem Boden lag.
Wo war ich überhaupt?
Es dauerte einen Augenblick, dann erkannte ich, dass ich in die Hütte gelegt wurde.
Ich versuchte, den Kopf ganz leicht zu drehen.
Sie bemerkten es nicht.
Der Mann mit dem Hammer lag direkt neben mir.
War er wieder ohnmächtig?
Ich wusste es nicht.
Ich musste in jedem Fall so tun, als sei ich noch immer bewusstlos.
Langsam bewegte ich meinen linken Arm.
Es war die kaputte Hand, doch das tat nichts zur Sache.
Dies würde vielleicht meine letzte Möglichkeit sein.
Ich durfte Odin nicht enttäuschen.
Langsam ertastete ich die Armschiene des Mannes neben mir.
Hoffentlich erwachte er nicht.
Hoffentlich tötete er mich nicht, wenn er es bemerkte.
Doch ich musste es einfach tun.
»Gute Idee, Anastasya.«
Ich fasste in die Armschiene hinein.
Langsam bewegte ich die Hand weiter, hoffte, dass Conner und Patrissia es nicht bemerken würden.
Und bald ertastete ich die Klinge.
Der Schädel hatte Recht behalten.
Irgendwie hatte ich verstanden, dass er mir genau das sagen wollte. ‚Nimm dir die Klingen aus den Armschienen.‘
Aber eine musste reichen. An die andere würde ich nicht heran kommen.
Vorsichtig umschloss ich den Griff der Klinge mit der linken Hand.
Dann wartete ich auf den geeigneten Moment.
Er kam schneller, als ich erwartet hatte.
„Kannst du mir noch etwas Wasser geben?“, bat Conner Patrissia.
„Klar.“, erwiderte sie und überreichte die Feldflasche.
Als er sie gerade entgegen nahm, sprang ich auf.
Das Metall der Klinge fühlte sich so warm und sicher an in meiner Hand.
Es musste der richtige Weg sein.
Ich rannte los, rannte aus der Hütte, rannte zwischen den anderen Hütten vorbei bis zum Hügel.
Mir war schwindelig, doch ich ignorierte es.
Aus dem Augenwinkel sah ich etwas.
Dann riss es mich auch schon zu Boden.
Conner.
Er war mir gefolgt. Er war schnell gewesen. Zu schnell.
„Kirren ist nicht mehr hier!“, rief Lynx vom Hügel aus herunter.
Conner hielt mich am Boden gedrückt.
„Ich muss ihn finden!“, schrie ich Conner entgegen.
„Nein, Anastasya!“, erwiderte er. „Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen!“
Ich riss mich von ihm los und rannte zu Lynx und Batras den Hügel hinauf.
Kirren war nicht hier.
„Lynx! Wo ist er?! Wieso beschützt ihr ihn? Was habt ihr gegen mich?“
„Ich weiß nicht, wo er ist.“, gab sie zurück.
„Ich glaube dir nicht!“, schrie ich sie an.
Dann wand ich mich an Batras.
„Wo ist er?!“
„Er ist mit Bruchas unterwegs. Ich weiß aber nicht, wo sie hingegangen sind.“, antwortete er ruhig.
Ich schrie vor Verzweiflung auf. Wieso? Ich musste ihn doch finden!
Ich rannte los, wollte ihn einfach finden, wollte ihn töten.
Doch Conner hielt mich fest.
Wieder rollten wir den Hügel hinab.
Er ließ mich nicht los.
»Töte ihn!«
Ich schrie auf und wollte mich los reißen.
»Töte ihn!«
Ich drehte mich über den Boden, zog mich trotz der Schmerzen mit beiden Händen über den Boden, schrie auf und tobte.
Ohne Erfolg.
»TÖTE IHN!«
Wieder murmelte jemand.
Starke Schmerzen zogen durch meinen Körper.
Ich schrie auf, schrie den Schmerz heraus, wand mich. Dann blieb ich liegen.
Für einen kurzen Augenblick konnte ich keinen einzigen Muskel mehr rühren.
»Tu es. Befrei dich! Lös die Ketten! Du musst ihn töten! Ich, Odin, befehle es Dir!«
Ich konnte mich wieder bewegen.
»Töte ihn!«
Es machte mich wahnsinnig.
»Töte ihn! Du kannst das!«
Es war wie ein lebenswichtiges Bedürfnis. Wie Essen, Trinken oder Schlafen.
»Töte ihn!«
Die Stimme wurde immer lauter.
Ich verlor fast den Verstand.
„Conner! Ich möchte Freunden nicht wehtun! Ich möchte dir nicht wehtun!“, schrie ich ihn an. „Lass mich los!“
„Du kannst mir nicht wehtun!“, gab er zurück und hielt mich weiterhin fest. „Ich werde dich nicht loslassen.“
»Er unterschätzt dich. Zeig ihm, dass er dich nicht unterschätzen darf!«
Ich spürte noch immer die Wärme des Stahls in meiner linken Hand. Es fühlte sich vertraut und richtig an.
Ich befreite meinen linken Arm und rammte Conner die Klinge in seinen rechten Arm, kurz hinter dem Handgelenk.
„LASS MICH LOS!“, schrie ich.
Auch er schrie auf und sah mich verwirrt an.
Er hatte mich wirklich unterschätzt.
Plötzlich passierte alles auf einmal.
„Die Klinge ist vergiftet! Hat sie Jemanden damit geschnitten?!“
Auf einmal schrien alle herum.
Ich verstand nicht, was los war.
Ich wusste nur, dass Conner mich nicht losgelassen hatte.
Also schnitt ich ihn nochmal an der gleichen Stelle und versuchte mich von ihm wegzurollen. Es gelang mir, doch dann stürzte sich jemand Anderes auf mich.
Als ich wieder erwachte spürte ich, wie mein gesamter Körper schmerzte.
»Du hast es ja immer noch nicht geschafft, Anastasya.«
Ich blinzelte.
Jemand saß auf mir, hielt mich am Boden gedrückt.
Ich versuchte, mich zu befreien, doch es gelang mir nicht.
„Wer seid Ihr?!“, schrie ich.
„Mein Name ist Yan. Der, der euch eigentlich festhalten sollte, hätte fast seinen Arm verloren.“
Für einen kurzen Augenblich erstarrte ich.
Seinen Arm verloren?
Conner?
Wieso?
„An der Klinge war starkes Gift.“, erklärte er mir.
Gift?
Wieso?
Wieso trug der Mann mit dem Hammer vergiftete Klingen bei sich?
»Tut es dir etwa Leid, Anastasya? Der Mann hat dich davon abgehalten, deine Aufgabe zu erfüllen. Das tut dir Leid? Was bist du nur für ein schwacher Mensch!«
Als ich den Blick etwas hob, sah ich, dass Kirren dort stand. Nur wenige Schritte entfernt.
Ich traute meinen Augen nicht.
Es war bereits dunkel geworden.
War er es wirklich?
Ich blinzelte.
Dann erkannte ich es. Ja. Er musste es sein.
„KIRREN!“
Ich riss mich los und wollte mich auf ihn stürzen.
Wieder wurde ich zu Boden gedrückt.
„Lass mich ihn töten!“
Zuerst flehte ich, dann schrie ich sie an.
Wieso hatten alle etwas gegen mich.
„Er hat mich gefoltert!“, schrie ich. „Er ist schuldig! Er hat Böses getan. Er hat mich gequält!“
„Was davon ist wahr?“, fragte der Mann, der mich am Boden gedrückt hielt.
„Alles! Ist alles wahr!“, schrie ich und versuchte, mich zu lösen.
Der Mann wand sich an Batras.
„Was von dem ist wahr?“, fragte er ihn nun.
„Sehr viel.“, gab er zu.
„Da! Lass mich ihn töten! Bitte!“, schrie ich weiter und wütete.
Ich wand mich, drehte mich zur Seite und er drehte sich mit.
Ich versuchte, mich über den Boden zu ziehen, versuchte, den Mann von mir zu werfen.
Es gelang mir nicht wirklich.
„Ist es ihr freier Wille, ihn töten zu wollen?“, fragte er dann.
„Da!“, schrie ich.
„Nein, ist es nicht.“, antwortete Batras. „Und Kirren hat es auch nicht selbst entschieden, sie zu foltern.“
„Doch, hat er!“, protestierte ich wütend. „Ihr wart nicht dabei! Niemand war dabei! Ihr wisst es nicht! Er hat mich in Wald geschleppt! Er wollte mich töten!“
Irgendwann brüllte ich einfach nur, schrie meine Wut, meinen Hass, meine Pein aus meinem Körper. Und versuchte, mich dabei von den eisernen Griffen zu lösen.
Doch sein Griff wurde dadurch nur umso fester.
Ich bekam kaum noch Luft.
Angestrengt keuche ich, rang nach Luft und versuchte, mich dennoch zu befreien. Es musste doch eine Möglichkeit geben.
„Sie hat Bärenkräfte.“, keuchte der Mann, der mich festhielt. „Ich glaube, ich kann sie nicht mehr allzu lange halten.“
Es kamen andere Personen dazu.
Ich spürte, wie zwei von ihnen meine Beine hielten. Andere fassten an meine Schultern und an meine Arme.
Doch ich sah Kirren, er saß dort. In direkter Nähe.
Wieso?
Wieso ließen sie mich denn nicht.
»Töte ihn!«
Die Stimme ließ nicht nach.
Es musste doch einen Weg geben, mich zu befreien.
Wieder wand ich mich, schrie meine Wut heraus, versuchte, Energie und Kraft aus meinen Schreien zu bündeln.
Sie hielten mich, setzten sich auf meine Beine und hielten meine Arme mit festem Griff.
Es kamen immer mehr Personen dazu.
Und ich spürte, wie meine Kräfte schwanden.
Wieder war dort dieser dunkle Raum.
Und ich… wieder stand ich dieser Frau gegenüber, die wie ich aussah. Nur, dass ihre Augen rot waren. Und sie lachte. Lachte bösartig.
Auf einmal hörte ich eine weitere Stimme. Eine andere Gestalt.
„Du hast kein Recht!“, brüllte sie.
Das, was fast aussah wie ich, wand sich um.
Und dann sah ich, wer dort brüllte.
Kirren.
Es sah aus wie Kirren.
Ich versuchte, mich zu bewegen, doch ich konnte nicht.
Kein einziger Muskel gehorchte mir.
Und ich sah, wie sie kämpfen.
Und das, was aussah wie ich, veränderte wieder seine Gestalt.
Oder bildete ich es mir nur ein?
Es war, als sah es nach und nach wieder aus wie Kirren.
Doch wie konnte es sein?
Und wieso hatte gerade er dagegen angekämpft?
Als ich langsam wieder erwachte, bemerkte ich, dass mir alles weh tat.
„Anastasya.“
Wieder eine vertraute Stimme.
Ich blinzelte.
„Da?“
Es war Bruchas.
Meine Stimme klang so brüchig, so kaputt.
„Ich glaube ich weiß, wie ich dir helfen kann.“, erklärte er.
Ich sah ihn fragend an.
Was war nur passiert?
Hatte ich das nur geträumt?
Und wo kam dieser Traum her?
„Du brauchst einen Ort. Einen Zufluchtsort. Dort, wo dich die Stimme nicht finden kann. Einen Ort, an den du immer zurückkehren kannst. An dem du für dich alleine bist.“, setzte er fort. „Wollen wir das versuchen? Auch Kirren hat es geschafft, die Stimme so auszusperren.“
Ich zögerte.
Was blieb mir anderes übrig?
Vielleicht konnte es mir helfen.
„Auch du kennst einen solchen Ort. Einen Ort, an dem du zufrieden warst. Vielleicht einen Ort aus deiner Kindheit. Schließ die Augen. Wo bist du?“
Ich schloss meine Augen.
Der Wald. Es war Falkenhain.
„Ist Falkenhain.“, erklärte ich. Ich versuchte, ihm zu erzählen, was ich sah. „Ist Heimat. Meine Heimat. Dort gibt es viele Wälder. Ich bin in einem Wald dort. Ich laufe durch den Wald. Kleiner Fluss läuft durch Wald. Plätschert ruhig vor sich hin. Hier habe ich Bogen von Vater bekommen. Er hat mir beigebracht, zu jagen. Es ist kalt. Schnee. Überall ist Schnee. Doch dort ist Hirsch. Ich spanne den Bogen. Nähere mich. Und schieße. Ich treffe Hirsch. Ich bin frei. In Wald kann ich jagen, kann ich frei sein. Niemand hat gestört hier.“
Bruchas ließ mich sprechen, er unterbrach mich nicht.
Als ich nicht weiter redete, übernahm er wieder.
„Behalte dir diesen Ort. Vergiss ihn nie. Hier kannst du immer hin, wenn du dich vor etwas fürchtest. Hier kann es dich nicht bekommen. Versuche, immer wieder an diesen Ort zurück zu kehren. Du musst es üben, aber dann kann es dir gelingen.“
Während er redete, bemerkte ich, wie meine Lider immer schwerer wurden.
Ich versank in der Dunkelheit.
Und ich sah den Wald in Falkenhain im Traum.
Als ich erwachte, sah ich mich verwirrt um.
„Ist alles gut bei dir, Anastasya?“, fragte mich Jemand.
Ich blinzelte.
„Was ist passiert? Wo bin ich…?“
Erinnerungen kamen, schossen durch meinen Kopf.
Träume? Waren es Träume?
Kurz schloss ich meine Augen wieder und ließ es auf mich wirken.
„Du bist in Anrea. Bei einer Taverne.“, erklärte mir eine bekannte Stimme.
Ich schlug die Augen wieder auf.
Conner. Es war Conner.
Und es war doch kein Traum gewesen.
Ich sah mich um.
Dort lag Kirren. Lag auf dem Boden. Wieso?
„Es war… kein Traum?“, fragte ich langsam.
Doch die Antwort ergab sich schon aus dem, was ich sah.
„Hörst du noch Stimmen? Also… Stimmen, die nicht von hier kommen? Stimmen, obwohl es still ist?“, fragte er.
Aber es redeten so viele Menschen.
Ich war mir nicht sicher, was ich antworten sollte.
„Conner. Was… was ist mit Arm?“, fragte ich.
Irgendeine Erinnerung tauchte in meinem Kopf auf.
Ich hoffte, dass es nicht wirklich passiert war.
„Sie… haben ihn nachwachsen lassen.“, erklärte er.
Ich seufzte.
„Es tut mir Leid! Ich wollte nicht…. Ich wollte doch Freunden nicht wehtun!“
Er schüttelte den Kopf.
„Du bist stark. Stärker als fünf Plattenträger zusammen. Ich möchte nicht gegen dich kämpfen müssen.“
Ich sah ihn überrascht an.
Meinte er das ernst?
Conner half mir, mich auf eine Bank zu setzen, die in der Nähe war.
Er erzählte mir von Kämpfen und Schlachten, in denen er gekämpft hatte.
Ich fühlte mich erschöpft, obwohl ich ihm weiter zuhören wollte.
Es war, als wäre jegliche Kraft aus meinem Körper gewichen.
Und es tat alles weh.
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