Nachdem wir die Waldlichtung um den seltsamen Turm herum wieder verlassen hatten, zogen wir einige Tage durch die Wälder. Bjorn war wie immer auf der Suche nach einer weiteren Taverne, doch alles, was wir fanden, war Wald. Bäume verschiedenster Art.

Ich wollte mir ein Waldstück etwas näher anschauen und so beschloss Bjorn, schon weiter zu gehen. Eigentlich suchte ich vor allem einen guten Ort für meine Falle, die ich wieder bei mir trug. Und ich wusste, dass wir früher oder später wieder aufeinander treffen würden.

Doch je weiter ich durch dieses Waldstück lief, desto bekannter kam es mir vor.
Hier musste ich schon gewesen sein.
Als ich an einem Steinbruch vorbei lief, fiel es mir ein.
„Nein. Nein. Nicht diese Ort. Odin. Wieso?“, murmelte ich vor mich hin.
Das Phönixnest.
Ich hasste diesen Ort.
Immer passierte etwas Schlimmes.
Doch was sollte ich tun.
Außerdem wollten wir diesen Mann finden.
Den Mann, der Bjorn verflucht hatte.

Ich folgte also dem Weg, der mich zum Phönixnest bringen sollte.
„Anastasya?“, hörte ich auf einmal meinen Namen.
Zwischen den Bäumen rechts von mir kam eine bekannte Person hervor.
Es war Lynx.
Ich hatte sie in Moordorf kennengelernt.
„Ah. Hallo Lynx!“, begrüßte ich sie. „Wo kommst du her?“
„Ich war im Wald unterwegs… Leider hab ich Rhea im Wald verloren. Wo sind wir hier?“
„Ist Phönixnest. Kein guter Ort. Immer passiert Schlimmes.“, erklärte ich. „Kannst du mit mir kommen, wenn du möchtest.“
In der Ferne erblickte ich weitere Personen, die ich kannte.
Cato und Runa, die beiden Heiler.
Einerseits freute ich mich, sie zu sehen. Auf der anderen Seite wusste ich, dass wieder etwas Schlimmes passieren konnte. Das wollte ich nicht.
Doch was blieb mir anderes übrig?
Auch Cato und Runa bemerkten mich bald und blieben stehen.
„Ah. Die kennen wir doch. Hallo Anastasya.“, begrüßten sie mich, kamen auf mich zu und umarmten mich. Lynx stellte sich bei ihnen vor. Sie hatte einen langen Nachnamen.
„Ich hasse diesen Ort.“, murmelte ich unzufrieden und Cato lachte.
„Nach den Falkenlanden ist das hier wie Urlaub.“, erklärte er grinsend während wir weiter zum Tor des Dorfes liefen.
„Falkenlande?“, fragte ich direkt nach und die beiden erzählten von großen Dämonenarmeen.
Ich schüttelte mich. Dämonen waren furchtbar.
„Aber ihr habt überlebt. Ist gut.“
Die beiden nickten.
„War schlimmer als hier?“, fragte ich sie.
„Ja. Auf jeden Fall.“
„Ist Cato guter Heiler. Hat mir schon oft Leben gerettet.“, erklärte ich Lynx dann.
Der Weg führte uns durch die beiden hölzernen Tore.
Wir konnten schon den Geruch des Räucherwerks riechen, also musste die Alchemistin auch schon da sein.
Unser Überleben schien gesichert, egal, was passieren würde.

Cato und Runa erzählten mir von ihren Erlebnissen in den Falkenlanden.
Ich hörte ihnen interessiert zu, trennte mich aber sehr schnell von meinem Mantel. Hier im Süden war es einfach viel zu warm.
Dann redeten wir auch über die Heimat von Cato.
Er erzählte von einer Ordensburg, deren Türme wie Engel aussehen.
Diese Engel waren gleichzeitig auch eine Art Gott für sie.
Ich fand es sehr interessant, dass es so viele unterschiedliche Götterbilder gab.
Und am Ende war es doch immer nur Odin…

Bald sah ich weitere bekannte Gesichter.
Kirren und Jin.
Sie kamen auch zu uns und begrüßten uns.
Doch sie hatten noch jemand anderes bei sich.
Er stellte sich mir als „Tarek“ vor.

Bald vernahmen wir die ersten unheilvollen Geräusche.
Ein Keuchen. Ein Knurren. Es wurde immer lauter. Immer mehr. Kam immer näher.
Und es kam vom Weg, der ins Dorf führte.
Es dauerte nicht lange, bis wir den Ursprung der Geräusche sehen konnten.
Seltsame Gestalten mit verzerrten, knöchrig-weißen Fratzen. Sie steuerten direkt auf das Dorf zu. Und sie hatten Waffen.
Wir stellten uns in den Eingangsbereich und begannen zu kämpfen.
Ich stellte mich etwas in den erhöhten Bereich zwischen ein paar Bäume und schoss von dort aus auf die Angreifer.
Fast jeder Schuss traf.
Doch die Angreifer waren nicht dumm.
Ich erblickte ihn zu spät – sie hatten einen Bogenschützen in ihren Reihen.
Er schoss – er traf.
Ich ging zu Boden.
Runa kam sofort zu mir und trug mich aus dem Sichtbereich der Angreifer heraus.
Der Pfeil steckte noch, steckte knapp unter meinem Hals. Ich hatte Glück gehabt. Ich konnte noch atmen. Der Pfeil hatte nichts Lebenswichtiges zerstört.
Sie sah sich um.
„Der Pfeil steckt noch und Cato hat leider die Pfeilsonde. Aber wir schaffen das auch so.“, erklärte sie mir und kippte Alkohol auf die Wunde. Ich schrie auf. Das kam unerwartet.
Ich hasste den Schmerz vom Alkohol.
Sie zog den Pfeil heraus.
Wieder schrie ich auf.
Ich spürte, wie das Blut aus der Wunde herausschoss.
Die Schmerzen waren unbeschreiblich.
Schnell schnappte sie sich eine Pinzette und versuchte, die Widerhaken der Pfeilspitzen aus der offenen Wunde heraus zu bekommen.
Ich hoffte einfach, dass es schnell vorbei sein würde.
Als sie fertig war, vernähte sie die Wunde noch.
Ich glaube, dass es egal ist, wie oft man verwundet wurde. Das Vernähen würde immer schmerzen.

Ich bedankte mich bei ihr und stürzte mich wieder in den Kampf, denn die Angreifer durften einfach nicht in das Dorf gelangen. Wieder schoss ich auf ein paar der Angreifer. Doch diesmal sah ich den Bogenschützen. Er hatte sich ebenfalls auf eine Anhöhe gestellt.
Und er zielte auf mich.
Ich lief los und wollte schnell aus seinem Sichtfeld heraus.
Ich hörte, wie er den Pfeil los ließ.
Dann spürte ich es – er bohrte sich durch meine rechte Ferse.
Ich ging sofort zu Boden.
Doch der Pfeil blieb zum Glück nicht stecken.
Runa sah mich bald und lief zu mir.
Sie reinigte die Wunde wieder mit Alkohol.
Wie gerne ich den Alkohol getrunken hätte anstatt ihn in der Wunde zu haben. Das wäre weniger schmerzhaft gewesen.
Wieder vernähte sie die Wunde gewissenhaft und ich bedankte mich.
Sie brachten mich nach oben zum Gasthaus, damit ich mich ausruhen konnte.
Lynx folgte mir und schien auf mich aufpassen zu wollen.
Ich redete ein wenig mit ihr und erblickte bald eine Frau, die weiter hinten auf einer Wiese saß. Sie hatte einige Decken und Tücher ausgebreitet.
Solche Personen hatte ich schon öfter gesehen. Sie wurden oft „Wahrsager“ genannt. Ob sie auch mit den Göttern sprechen konnte?
„Was ist mit dieser Frau?“, fragte ich Lynx, doch sie wusste auch nichts über diese Frau.
„Will ich zu ihr… Darf Cato nur nicht sehen.“
Lynx drehte sich zu Cato um, der gerade beschäftigt zu sein schien.
Dann stützte sie mich und wollte mir helfen, zur Wahrsagerin zu kommen.

Während wir hinüber liefen, warf ich immer wieder einen Seitenblick zu Cato.
Leider entdeckte er mich bald.
„Was soll man nicht?“, rief er zu mir.
Ich wusste keine Antwort. Ich wollte doch nur zur Wahrsagerin.
Da drehte sich auch Runa um und sie riefen gemeinsam: „Was soll man nicht?“
„Wollte ich nur zur Wahrsagerin.“, erwiderte ich kleinlaut und deutete in die Richtung.
„Was soll man nicht?“, wiederholten beide wieder gemeinsam.
Ich hatte das Gefühl, dass mich in diesem Moment jeder anstarrte.
„Aber…ich.“, versuchte ich es erneut.
Cato kam zu mir.
„Wenn auch nur eine Naht aufreißt, ich schwöre dir, dann reiße ich dir die gesamte Wunde wieder auf.“, drohte er leise.
Ich starrte ihn an.
„Da. Ich passe auf…“, murmelte ich zur Antwort.
Ich hatte ihn noch nie zuvor wütend erlebt.
Es war interessant und gleichzeitig furchterregend.
In meinem Kopf tauchten sofort Bilder auf, wie Cato die Wunde mit einem stumpfen Messer ganz langsam aufreißt…
Nein, das durfte nicht passieren. Ich musste vorsichtig sein.

Gemeinsam mit Lynx gingen wir also langsam zu der Wahrsagerin.
Ich hoffte, dass sie auch wirklich harmlos war und mich nicht angreifen würde.
Mit einer kürzlich genähten Wunde zu kämpfen würde auf jeden Fall dazu führen, dass sie aufriss.
„Hallo. Darf ich mich setzen?“, fragte ich als wir angekommen waren.
Überall lagen Decken und Kissen.
Und da war noch etwas.
Runen.
Sie hatte Runen neben sich liegen.
„Ja, setzt Euch.“, antwortete sie und ich setzte mich auf eines der Kissen.
So konnte ich meinen Fuß ausruhen.
Ich stellte mich vor und auch sie nannte mir ihren Namen.
Madame Jovanka war ihr Name.
Sie hielt mir auch direkt einen kleinen Zettel hin, auf dem ihr Name stand.
Ich nahm den Zettel entgegen und las den Inhalt.
Es stand darauf, dass sie Karten legen, aus Händen lesen und Runen legen konnte.
Ich fragte sofort nach den Runen, die ich ja bereits erblickt hatte.
Sie hatte noch viele andere Dinge auf ihren Decken liegen: Kerzen, eine Glaskugel, Karten; ich konnte gar nicht alles zuordnen.
Doch die Runen interessierten mich am meisten.
„Ah, kannst du auch mit Odin reden?“, fragte ich sie, doch sie sah mich nur verständnislos an. Das hieß wohl ‚Nein‘.
„Habe ich auch Runen.“, erklärte ich und nahm den Beutel mit den Runen heraus, um ihn ihr zu zeigen.
Ich nahm ein paar Runen in die Hand und hielt sie ihr hin.
„Darfst du aber nicht in Hand nehmen.“, erklärte ich ihr. „Sonst muss ich wieder reinigen und aufladen.“
„Aufladen?“, fragte sie. „Habt Ihr Magie in den Runen?“
Ich nickte.
Irgendwie stimmte es ja.

Während wir über Runen, Odin und andere Götter redeten, entdeckte ich von Weitem ein bekanntes Gesicht. Ein sehr bekanntes Gesicht.
Bjorn.
Er sah mich auch bald und kam zu mir.
„Bjorn. Musst du mir helfen!“, bat ich ihn. „Darf Cato mich nicht sehen. Gehst du vor, folge ich dir, da?“
Bjorn sah mich an, blickte zu meinem Fuß und dann rüber zu Cato.
„Hm. Sieht er dich trotzdem, eh?“
„Njet!“, erwiderte ich schnell und erhob mich.
Ich wollte mich weiter umsehen und nicht ewig herumsitzen.
„Siehst du? Kann ich laufen!“, sagte ich, während ich hinter Bjorn her humpelte.
Er sagte nichts und lief einfach vor. Ich versuchte, so gut wie möglich hinter ihm zu bleiben.
Doch als wir an Cato und Runa vorbei gingen, flogen wir auf.
„Ich sehe dich trotzdem.“, rief Runa grinsend. Doch es war ein verurteilendes Grinsen.

Bald kamen ein paar Männer zum Tor herein, die ich nicht kannte.
„Wir haben eine Frau tot aufgefunden. Sie hat sich vermutlich umgebracht!“, rief einer von diesen.
„Was für eine Frau?“, fragte ich sofort, doch er meinte nur, dass er sie nicht kenne. Beschreiben konnte er sie auch nicht.
Es schien, als kenne niemand diese Frau.
Ein paar der Krieger liefen raus, um zu schauen, was los war, doch Runa und Cato verboten mir, mitzugehen. Ich sollte mich noch ausruhen.

Bald erfuhr ich, dass sie einen Abschiedsbrief bei der toten Frau gefunden hatten. Also hatte sie tatsächlich Selbstmord begangen. Nur wieso?
Ich wollte diesen Brief sehen!
Doch ich musste mich noch ausruhen.
Grummelnd saß ich auf einer Mauer und wartete ab.
Wieso musste eine Wunde auch so langsam verheilen?

Ich hörte Schreie von draußen.
Es wurde wohl wieder gekämpft.
Bjorn war auch mit raus gelaufen.
Ich hoffte, dass ihm nichts passieren würde und es nervte mich, dass ich nicht helfen konnte.
Bald kamen einige der Krieger wieder rein.
Auch Bjorn.
Er war verletzt. Zwei andere Männer stützten ihn.
Sie brachten ihn zu einer Bank in die Nähe der Heiler.
Ich ging direkt zu ihm.
Cato war gerade mit einem anderen Heiler beschäftigt, aber Runa kam dazu.
„Bjorn, was hast du gemacht?“, fragte ich sofort.
„Haben sie mich getroffen.“, erwiderte er.
Ich suchte nach sichtbaren Verletzungen. Beide Beine bluteten. Offene Wunden.
„Runa, kümmerst du dich um rechtes Bein. Ich mache linkes Bein.“
Sie stimmte zu.
Ich gab Bjorn zwei meiner Runen in die Hand.
„Festhalten.“, befahl ich ihm. „Und nicht kratzen. Kann jetzt etwas wehtun. Du kennst das.“
Ich nahm meine Flasche Metka vom Gürtel und schüttete etwas auf die Wunde. Er schrie auf. Dann verband ich die Verletzung.
Runa gab ihm etwas anderes. Eine Art Kraut. Er sollte es kauen und herunterschlucken.
Ich nahm die Farbe aus einer meiner Taschen und wollte anfangen.
Bjorn grinste auf einmal und betonte, wie schön es doch alles sei. Er sah in den Himmel und freute sich.
Ich konnte es nicht verstehen, schließlich war er doch verletzt.
Runa grinste nur. Das Kraut war mit Sicherheit Schuld.
Aber es war mir egal.
Ich fing an.
Während ich Isa, Algiz und Laguz auf den Verband der Verletzung schrieb, schrie Bjorn auf. Dabei war es ihm zuvor doch so gut ergangen?
„Warum machst du das? Ging es mir gerade noch gut, jetzt habe ich wieder Schmerzen!“, murrte er. Dann wollte er an der Wunde kratzen.
Ich hielt seine Hände fest.
„Njet! Nicht kratzen!“, schrie ich ihn an. Er wusste doch Bescheid, wieso tat er es trotzdem immer?

Bald konnte ich aufhören, seine Hände festzuhalten. Das Jucken hatte größtenteils aufgehört.
Ich ging noch einmal in Richtung der Wahrsagerin. Ein paar Personen erzählten, dass sie bei der toten Frau einen dieser Zettel gefunden hatten, den die Wahrsagerin auch mir gegeben hatte.
Hatte sie etwas mit den Toten zu tun? Gut möglich.
An einem Baum in der Nähe der Wahrsagerin entdeckte ich Aushänge.
Ich näherte mich und begann, sie zu lesen.
Es handelte um frühere Ereignisse, die in diesem Dorf passiert waren.
Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich von einem Geschehnis las, was mir noch allzu gut bekannt war: Als junge Frauen ermordet wurden. Dreizehn Stück. Und ich sollte die Vierzehnte sein.
Schnell schüttelte ich den Kopf; darüber wollte ich gar nicht nachdenken.

Schreie von draußen.
Wir wurden wieder angegriffen.
Ich ging zu Runa.
„Darf ich wieder kämpfen?“, fragte ich sie.
Sie seufzte und nickte dann.
„Na schön.“, erwiderte sie.
Es schien ihr nicht ganz recht zu sein, aber das war mir egal.

Also lief ich mit raus.
An den Gräbern hatten sich schon viele Krieger versammelt.
Doch auch die Untoten standen noch.
Wir kämpften gegen sie und ich nutzte meine Pfeile, um auf sie zu schießen.

Bald hatten wir sie besiegt. Fürs Erste.
Dort stand auch ein Priester. Er sagte, er wolle die Gräber segnen, damit keine Untoten mehr heraus kommen würden.
Ich zuckte mit den Schultern.
Damit kannte ich mich nicht aus, doch wenn es helfen würde, sollte es mir recht sein.

Mehr und mehr kamen Gerüchte auf, dass die Wahrsagerin der toten Frau die Karten gelegt haben soll.
Ich lief also noch einmal zu ihr.
„Habt Ihr einer Frau mit schwarzem Haar Karten gelegt? War groß, schlank.“, fragte ich sie.
Sie schien einen Moment zu überlegen.
„Ja. Das habe ich.“
Ich knurrte.
Sie konnte also wirklich Schuld sein.
„Was habt Ihr ihr gesagt? Frau ist jetzt tot. Selbst umgebracht.“
Madame Jovanka sah mich schockiert an.
„Ich… Ich habe ein dunkles Schicksal für sie gesehen.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Hört auf, den Leuten Karten zu legen!“, befahl ich ihr.
Dann lief ich wieder raus zu den anderen Kriegern. Der Priester versuchte noch immer, die Gräber zu segnen.
Bald hörten wir ein Schreien von drinnen.
Jemand brüllte etwas, doch ich konnte ihn nicht verstehen.
Ich lief rein.
Ein Toter, mitten im Dorf.
„Wie ist das passiert?“, fragte ich die Umstehenden.
Ich erfuhr, dass auch dieser sich umgebracht hat.
Auch hier wurde ein Abschiedsbrief gefunden.
Dieser Mann hatte geschlafen während er Nachtwache halten sollte und so wurde sein Lager von Orks überrannt. Dafür gab er sich die Schuld.
Hatte er sich deswegen umgebracht?
Ich blickte kurz zu der Leiche.
Dann lief ich wieder zur Wahrsagerin. Ich war wütend.
„Habt Ihr auch einem Mann Karten gelegt?“, fragte ich laut.
Sie zuckte zurück.
Ich beschrieb den Mann, dessen Leiche noch immer mitten im Dorf lag.
Die Wahrsagerin nickte zögerlich.
Ich packte mir die Karten.
„Ihr bringt niemanden mehr um! Wem habt Ihr noch Karten gelegt?“
Sie beschrieb mir eine weitere Frau…
Und leider wusste ich, wen sie meinte.
Corra…
Sofort lief ich zu Cato.
„Cato. Menschen haben sich umgebracht, weil Wahrsagerin ihnen Karten gelegt hat!“, erzählte ich ihm schnell. „Hat sie auch Corra Karten gelegt. Kannst du aufpassen, dass sie sich nicht umbringt?“
Cato brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, was ich ihm erzählt habe.
„Habe ich ihr schon Karten weggenommen.“, fügte ich hinzu und zeigte ihm die Karten in meiner Hand.
Cato nickte. Er würde auf Corra aufpassen.

Ich wand mich an Bjorn.
„Wo ist Wotan? Wollen wir Wotan fragen, was wir mit Frau tun sollen? Töten?“, fragte ich ihn. Er nickte.
„Wotan ist draußen. Wollen sie Leiche begraben ich denke.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Leiche verbrennen hilft besser. Dann kommt nicht neuer Untoter.“
Wir liefen raus.
Sie wollten die Leiche tatsächlich vergraben.

„Wotan. Was macht ihr da?“, fragte ich und lief zu der Gruppe, die bei der Leiche stand.
Auch Kirren und Gin waren dort.
„Wir wollen die Leiche vergraben.“, erwiderte Wotan.
„Warum nicht verbrennen?“, fragte ich direkt.
„Dürfen wir nicht. Uns wurde verboten, die Leiche zu schänden oder zu verbrennen.“
„Aber dann kann er wiederkommen als Untoter!“, antwortete ich.
Er war doch jetzt der Verantwortliche. Wieso konnte er nicht selbst entscheiden?
Wir entschieden uns dafür, das Loch zu buddeln und ihn dann zu verbrennen. Anschließend würden wir das Loch wieder schließen und niemand würde bemerken, dass wir ihn verbrannt hatten.
Ich lief los, um Holz und Rinde zu sammeln.
Kirren, Gin, Bjorn und Lynx folgten mir und sammelten ebenfalls Äste und Rinde.
Dann schlug Bjorn mit seiner Axt auf die Erde ein, um ein Loch auszuheben.
Ich beobachtete ihn. Er war einfach stark, das konnte man nicht leugnen.

Als das Loch tief genug war, legten wir den Leichnam vorsichtig hinein und stapelten dann die Äste möglichst locker darauf. Die Rinde kam zum Schluss.
Ich entfachte ein kleines Feuer und pustete eine Weile, um es zu vergrößern.
Bald fingen alle Äste Feuer und die Leiche begann zu brennen.
Ich trat einige Schritte zurück und zog das Mundtuch über mein Gesicht.
Der Geruch von verbranntem Fleisch war furchtbar unangenehm.

Als die Leiche einigermaßen verbrannt war, schütteten wir das Loch wieder zu.
So würde daraus kein Untoter mehr entstehen.
„Wotan?“, fragte ich, als wir zurück in das Dorf gehen wollten. „Wahrsagerin ist Schuld an Menschen, die sich umbringen. Sollen wir sie töten?“
Er dachte einen Augenblick nach.
Ich erzählte ihm von den Karten, die sie den besagten Personen gelegt hatte.
„Nein. Ihr könnt sie aber fesseln und zu mir bringen.“, erwiderte er.
Ich ärgerte mich darüber, dass er das Sagen hatte, doch es sollte mir egal sein. Solange keiner meiner Freunde wegen der Wahrsagerin sterben würde…
Also nahm ich mein Tau aus der Tasche und lief zu der Wahrsagerin.
„Tut mir Leid. Aber kann ich nicht zulassen, dass noch mehr sterben.“, murmelte ich und packte sie.
„Was? Was habt Ihr vor?“, fragte sie sofort, doch da hatte ich sie schon gefesselt.
„Mitkommen.“, befahl ich ihr und brachte sie hoch zur Hütte, an der Wotan stand.
Die Personen, die den ganzen Tag auf einer Bank gesessen hatten und sich nicht um die Untoten geschert hatten, meckerten plötzlich los.
Ich schüttelte den Kopf. Sie sollten mir besser nicht in die Quere kommen.

Der Krieger mit der schwarzen Rüstung – Mantis – kam zu ihr und berührte sie.
Sofort schrie die Wahrsagerin auf und sackte dann in der Wiese zusammen.
Einige Personen standen von der Bank auf und kamen zu mir.
Sie fragten mich, warum ich diese unschuldige Frau fesselte.
Ich erklärte ihnen, dass sie an den Selbstmorden Schuld sein könnte, doch sie hörten mir nicht richtig zu. Stattdessen wandten sie sich Wotan zu und wollten die Frau freikaufen.
Ich protestierte. Ich wollte nicht, dass noch weitere Menschen starben und uns dann als Untote angreifen würden.
Ein Mann kramte eine handvoll Kupfer aus seiner Tasche und hielt sie Wotan hin.
Wieso nicht mir?
Immerhin hatte ich sie gefesselt. Es waren meine Taue. Ich hatte herausgefunden, dass sie an den Selbstmorden Schuld war.
Wütend beobachtete ich, wie Wotan das Geld ablehnte.
Ich konnte es nicht fassen.
Er lehnte es ab.
Kupfer. Eine handvoll.
Er war der Verantwortliche.
Wieso nahm er es nicht?
Fassungslos schüttelte ich den Kopf.
„Da. Dann sterbt alle. Mir egal.“, knurrte ich und stapfte aus dem Dorf.
Mit diesen Leuten wollte ich nichts zu tun haben.
Ich wünschte mir, dass sie sich die Karten legen lassen würden, damit sie sich auch umbrachten. Ihre Leichen würde ich bis auf den letzten Fetzen Fleisch verbrennen.

Bei dem Friedhof blieb ich stehen.
Bald kam Bjorn zu mir und ich verlieh meinem Unmut lautstark Ausdruck.
Erst kämpften diese Leute nicht mit gegen die Untoten und dann sorgten sie noch für mehr Tote. Sie mussten böse sein, anders konnte ich es mir nicht erklären.
Und als hätten sie meine Gedanken gelesen, tauchten die Untoten wieder auf.
Wir liefen schnell zum Eingang des Dorfes und riefen nach mehr Kämpfern, die uns unterstützen konnten.
Wieder einmal hielt ich mich im Hintergrund, um in Ruhe auf die Untoten schießen zu können.
Es dauerte nicht allzu lange, dann hatten wir es geschafft.

Als wir wieder zurück ins Dorf gingen, hatte ein Prieser mit einem Seil ein Dreieck gespannt. Mitten auf die Wiese.
Ich fragte ihn, was er vorhabe und er erwiderte nur, dass er der Frau das Mal entfernen wollte. Es dauerte einen Augenblick, bis ich verstand, dass er Corra meinte.
„Dann kann sie uns nicht mehr als Untote angreifen?“, fragte ich.
„Ja, das ist der Plan.“, erwiderte der Priester.
„Da. Dann darfst du machen.“
Der Priester grinste. „Das ist gut.“

Ich wollte noch einmal nach den Gräbern schauen und traf draußen auf zwei Männer, die ich vorher noch nie in diesem Dorf gesehen hatte.
Einer von ihnen stellte sich als Händler vor, der andere schien Jäger zu sein.
Mit dem Händler sprachen wir über die Preise von Wild. Er wollte Fleisch haben und fragte mich, ob ich für ihn arbeiten wolle. Ich erwiderte, es mir noch einmal zu überlegen.
Dadurch, dass er lediglich das Fleisch haben wollte, erschienen mir die Preise zu niedrig. Ausweiden war harte Arbeit.

Die Untoten verfolgten uns bis in das Dorf hinein. Dort kämpften wir gegen sie, doch sie verwundeten uns.
Ein Schwert-Hieb traf mich am Bein, Kirren und Bjorn wurden ebenfalls verletzt.
Cato kümmerte sich um Kirrens Wunde und so wollte ich erst einmal Bjorns Wunde versorgen.
Wieder reinigte ich die Wunde mit Alkohol, wickelte einen Verband darum und gab ihm zwei Runen in die Hand.
Isa. Algiz. Laguz…

Als ich fertig war, sackte ich zusammen. Ich hatte Kopfschmerzen. Alles drehte sich.
Ich hörte, wie jemand zu mir trat. Sie murmelte etwas.
Eine tote Fratze tauchte vor mir auf. Ich hörte etwas rufen. „Vierzehn. Vierzehn, ich komme dich holen. Ich töte dich!“
Ich schrie auf und wollte wegrennen.
Etwas warf sich auf mich. Ich lag am Boden. Ich grub meine Finger in die Erde, wollte weg. Einfach weg. Ich schrie. Ich wimmerte. Ich wollte weg von hier.
Ich keuchte.
Die Bilder und Stimmen verschwanden langsam. Ich blieb am Boden liegen und atmete schwer. Doch die Verletzung spürte ich nicht mehr.
Später bemerkte ich, dass eine Frau mich geheilt hatte. Sie sah etwas furchterregend aus. War sie überhaupt menschlich? Und was waren das für Stimmen gewesen? Was für Bilder?
„Du hast gerade sehr starke Angst überstanden. Du bist mutig.“, erklärte mir die Frau grinsend. „Jetzt steh auf.“
Langsam erhob ich mich.
Mir war noch immer schwindelig, doch die Wunde war geschlossen.

Mir fiel auf, dass Kirren noch immer humpelte.
„Kirren. Ist alles in Ordnung?“, fragte ich ihn sofort.
„Mein Bein wurde mir zerfetzt.“, knurrte er.
„Hat Cato sich nicht darum gekümmert?“
„Doch, aber es tut trotzdem weh!“
Ich seufzte.
„Ich… ich kann versuchen, es zu heilen. Dann kannst du ohne Schmerzen laufen.“, schlug ich vor.
Er starrte mich an.
Das letzte Mal, als ich versucht hatte, ihn zu heilen, hatte er furchtbare Schmerzen gehabt.
Doch keinem anderen war es so ergangen…
„Wieso solltest Du das tun?“, fragte er. Natürlich vertraute er mir nicht.
„Ich… Ich will nur helfen. Dann kannst du weiter kämpfen.“, versuchte ich zu erklären.
Einen Augenblick schwieg er. Er schien mit sich zu hadern.
„Habe ich schon zwei andere Personen geheilt. Beide hatten keine Schmerzen. Weißt du noch. Am Turm? Habt ich andere Bjorn geheilt. Ist Wunde auch zu gegangen, hatte er keine Schmerzen.“, erklärte ich weiter.
Kirren nickte langsam.
Er setzte sich an eine Hütte. Lynx kam zu uns.
Ich gab ihm zwei Runen in die Hand.
„Darfst du nicht kratzen, da?“, ermahnte ich ihn.
Er nickte.
Also fing ich an.

Das nächste, an das ich mich erinnere, ist, dass ich auf einer Wiese lag.
Ich blinzelte und erkannte Bjorn, Gin, die Wahrsagerin, Cato und eine seiner Begleiterinnen.
Was war passiert.
„W-Was… Wo bin ich?“, fragte ich verwirrt. „Was ist passiert?“
Bjorn schüttelte den Kopf.
„Komm mit. Wir gehen rein, dann erkläre ich dir.“
Sie stützten mich und halfen mir rein.
Am Tor kam Kirren mir entgegen.
Hatte ich ihn nicht heilen wollen?
Lynx war hinter ihm und schien ihn beruhigen zu wollen.
„Wo ist Tarek? WO IST ER?“, schrie er und wirkte, als hätte er den Verstand verloren.
Er stürmte hinaus und Lynx folgte ihm.
Was war mit ihm passiert?
Hatte die Heilung funktioniert?

Wir setzten uns und Bjorn erklärte mir, was passiert war.
Verwirrt hörte ich zu.
Ich hatte Kirren geheilt.
Ich war zusammengebrochen.
Bjorn fand mich auf der Wiese und ich hatte ihnen etwas von Helheim erzählt.
Ungläubig schüttelte ich den Kopf.
„Nein. Das kann nicht sein, ich… ich weiß davon gar nichts mehr!“, protestierte ich.
Was erzählten sie nur für seltsame Dinge?
Verwirrt ging ich zu dem Lager der Wahrsagerin.
Ich entschuldigte mich schwach dafür, dass ich sie gefesselt hatte.
Ich wollte nur die anderen vor ihr schützen.
Zum Glück verstand sie es.
Bald kam Lynx dazu und ich fragte sofort nach Kirrens Zustand.
Die Heilung hatte gewirkt, doch er hatte wohl Schmerzen gehabt.
„Hasst er mich jetzt?“, fragte ich leise.
Die anderen schüttelten ihre Köpfe.
„Ach nein, wird er schon nicht.“
Doch ich zweifelte daran.

Nachdem ich mich eine Weile ausgeruht hatte, wollte ich Bjorn suchen.
Ich fand ihn in der Taverne.
Doch dort saß auch Kirren, mit dem Rücken zu mir.
Unschlüssig blieb ich in der Tür der Taverne stehen.
Sie spielten Othila.
Ich hatte ein ungutes Gefühl im Bauch.
Bjorn dreht sich irgendwann um und sah mich.
Kurz überlegte ich, ob ich schnell wieder gehen sollte.
Doch es war zu spät.
„Anastasya! Spiele wir Othila, setz dich doch!“, forderte er mich auf.
Unsicher ging ich ein paar Schritte.
Dann bemerkte mich auch Kirren.
Er erhob sich und starrte mich hasserfüllt an.
Ich wich einen Schritt zurück, doch er kam näher.
„Wolltest du mich umbringen?!“, schrie er mich an. „Warum hast du nicht aufgehört?“
„Aufgehört?“, wiederholte ich fragend.
„Ich hab gesagt, dass du aufhören sollst!! Folterst du gerne Menschen?!“, schrie er weiter.
Ich starrte ihn an.
„Njet…“, gab ich leise zurück.
Schnell verließ ich die Taverne wieder.
Was war nur passiert?
Warum hast du nicht aufgehört?
Wieso erinnerte ich mich nicht?
Was war passiert?
Ich lief durch das Dorf, über die Wiese, vorbei an Cato und Runa, dann zu der Wahrsagerin, Lynx und Gin. Dann wieder zurück. Ich war unruhig. Ich zitterte.
Was war nur los? Was hatte ich getan? Wieso hatte ich es noch einmal versucht?
„Odin.“, murmelte ich. „Odin, wieso?“
Doch ich bekam keine Antwort.
Ich blickte noch einmal zum Gasthaus.
Nein.
Ich konnte nicht.
Er würde mich vielleicht töten.
Es hatte keinen Zweck.
Ich schnappte mir meinen Mantel und verließ das Dorf.
Schlafen konnte ich ohnehin nicht. Und so würde ich Abstand von Kirren gewinnen.
Ich schlug mich ohne Nachzudenken durch den Wald, vorbei an Ästen und Dornen.
Sie rissen sich in meine Haut, doch ich merkte es kaum.
Weg.
Einfach nur weg von hier.

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