Nachdem Lynx sich in Bärenfels Metka gekauft hatte, näherten wir uns dem Marktplatz.
Wie immer gab es hier Ware aus Nah und Fern zu kaufen, doch es interessierte mich kaum.
Ich brauchte nichts.

„Rhea.“, hörte ich auf einmal Lynx rufen. „Wir haben dich gefunden! Wo ist Bjorn?“
Ich schreckte auf. Bjorn? Vorsichtig hob ich den Kopf.
Es war Rhea. Bjorn war nicht zu sehen.
„Ich…Ich weiß nicht, wo Bjorn ist.“, erklärte Rhea. „Das letzte Mal als ich ihn gesehen habe, war er bei seinem Vater in Ostwald.“
Ich senkte den Blick wieder.
In Ostwald? Was wollte er denn bei seinem Vater?

Sie wollten Bärenfels wieder verlassen und so machten wir uns auf den Weg.
Ich folgte ihnen, doch ich wusste nicht, wohin.

Wir durchquerten einige Wälder. Ich war müde.
Lynx und Rhea sprachen über Gin. Über seinen Tod. Darüber, dass ihn niemand bestattet hatte.
Ich war so schnell geflohen, weil ich mich vor Kirren gefürchtet hatte.
Ob Gins Leiche noch immer in dem Fass war?
Rhea, Lynx und Breeg schienen es herausfinden zu wollen.
Bald erreichten wir das Ufer des Sees. Ein paar hölzerne Boote waren dort aneinandergereiht und so beschlossen sie, eines davon zu nehmen, um auf die Insel überzusetzen, auf der sich der Turm befand.
Ich folgte ihnen. Lynx steuerte das Boot und brachte uns ans andere Ufer.
Ich weigerte mich nicht. Ich lief ihnen einfach hinterher.

Wir kamen an einem Waldstück an, das mir bekannt vorkam.
Der Turm war bereits zu sehen.
„Wo genau haben sie das Fass stehen lassen?“
„Ich denke, wir schauen einfach, ob wir es finden.“
Ich lief ihnen hinterher.
Breeg fragte mich, ob alles in Ordnung sei.
Ich nickte nur.
Gin.
Was hatten sie vor?
Ich hielt meinen Kopf weiterhin gesenkt und sah nur, dass der Waldboden bald zu einer Wiese wurde. Wir näherten uns also dem tatsächlichen Turm. Und den Katakomben.
Zwischen ein paar Zelten fanden sie dann das Eichenfass.
„Lynx, hilfst du mir?“, bat Rhea. Gemeinsam hoben sie das Fass an und liefen wieder zurück zum Wald. Ich folgte ihnen. Wollten sie ihn bestatten?
Ab der Hälfte des Weges übernahm Breeg das Fass. Es schien zu schwer für die beiden zu sein.

Breeg stellte das Fass im Wald ab.
Sie wollten ein Grab für Gin ausheben, um ihn zu bestatten.
Doch auf einmal hörte ich Stimmen von weiter weg.
Schreien. Brüllen.
Bjorn.
Es klang wie Bjorn.
Dann erst verstand ich den Namen, den er brüllte.
Kirren.
Mir wurde schwindelig.
Ich machte ein paar Schritte rückwärts, dann rannte ich.
Kirren.
Wieso? Wieso war Kirren hier? Was wollte er nur?
Vor meinen Augen tauchten die Bilder auf. Aus dem Wald. Im Phönixnest.
Ich hörte meinen Namen.
Sie wollten mich aufhalten.
Ich rannte weiter.
Die Dornen rissen sich in meine Haut, doch ich rannte einfach weiter, sprang über ein paar kleinere Büsche.
Doch ich wurde langsamer. Ich konnte nicht. Ich war müde. Meine Kehle brannte.
„Anastasya!“, brüllte Bjorn.
Nein. Ich wollte weg. Wieso war er hier? Was wollte er denn nur?
Ich lief weiter, wollte weg von ihm. Fürchtete mich vor ihm.
Auf einmal fand ich mich auf dem Waldboden wieder.
Was war passiert?
War ich gestolpert?
Hingefallen?
„Anastasya! Nicht rennen! Bleib ich stehen. Tut mir Leid. War ich dumm!“
Ich erhob mich keuchend. Mir tat alles weh.
„Rhea! Musst du auf sie aufpassen!“, hörte ich Bjorn rufen.
Er folgte mir nicht mehr.
Stattdessen kam Rhea auf mich zu.
Sie erklärte mir, dass es Bjorn wirklich leidtat.
Ich glaubte ihr nicht.
Wieso hatte er sich so verhalten?
Er war sauer wegen der Götter, da war ich mir sicher.

„Anastasya, wir können nicht hier im Wald bleiben. Außerdem muss deine Hand neu verbunden werden.“, erklärte Rhea mir.
Es klang einleuchtend. Wenn ich jemals wieder Jagen wollte, mussten meine Fingernägel nachwachsen. Das würden sie nicht, wenn sie so dreckig waren.
Ich seufzte und stimmte ihr zu.
Breeg kam auf mich zu.
„Wie geht es dir, Anastasya?“
Ich zuckte mit den Schultern. Was sollte ich sagen?
Kirren war hier. Wie sollte es mir gehen?
Breeg stützte mich etwas und wir liefen den Weg entlang.
Wieso war Kirren hier?
Die Frage, die ich mir immer wieder stellte.
Mein Körper zitterte, doch ich ging mit Breeg mit.
Er versicherte mir, dass sie Kirren gefangen genommen hatten.
Doch das half mir nicht.

Während wir hinein gingen, hielt ich den Kopf gesenkt.
Die Stimmen waren überall, doch ich konnte keine davon zuordnen.
Breeg war hier. Breeg stützte mich. Breeg brachte mich in Richtung des Turms.
Wollte ich überhaupt hierher?
„Bringt sie zu Aikikia.“, hörte ich Jemanden rufen.
Aikikia. Der Name kam mir bekannt vor. Nur wieso?

Breeg führte mich noch ein paar Schritte weiter. Sie wollten also meine Hand neu verbinden?
Eine Stufe. Wir blieben stehen. Jemand half Breeg hinein.

Ich stehe in eisiger Kälte. Es ist dunkel. Nichts. Wo bin ich? Wie war ich hierhergekommen? Nichts? Doch. Jetzt sehe ich es. Rote Augen.
Es ist direkt vor mir. Garm. Der Hund aus Helheim.
Helheim. Ich blinzle. Seine roten Augen fixieren mich. Ich sehe die riesigen, spitzen Zähne. Schlimmer als jeder Dolch. Sie schnellen auf mich zu. Ich kann mich nicht bewegen. Er packt mich. Ich schreie. Er heult auf. Wir heulen auf. Eine grässliche Symphonie des Schmerzes.

Ich erwachte. Es war nicht Helheim. Ich befand mich auf dem Boden. Jemand hielt meine linke Hand. Die verletzte Hand. Ich spürte, wie der Verband abgewickelt wurde. Es schmerzte. Ich biss mir auf die Zunge.
„Oh je, das müssen wir auf jeden Fall reinigen.“, erklärte er kurz. Die Kapuze war noch immer tief in meinem Gesicht. Ich erkannte nicht, wer es war. Ich konnte auch seine Stimme nicht zuordnen.
Plötzlich brannten meine Finger. Wie angekündigt wusch er die Wunden aus.
Ich schrie auf und wand mich am Boden. Die Schmerzen waren furchtbar, obwohl ich schon wusste, was passieren würde. Eine Verbesserung gab es bisher nicht.
Als er fertig war und die Schmerzen langsam abklangen, spürte ich ein Piksen, gefolgt von stechenden Schmerzen an den Fingern.
Ich schrie und wand mich und wollte, dass es aufhörte.
Doch er machte gnadenlos weiter.
„Der Dreck muss raus.“,  erwiderte er nur.
Er hatte Recht, doch das half mir nicht.

Zum Glück war er bald fertig.
Er verband meine Hand wieder. Doch er entdeckte noch eine andere Wunde. Die Wunde an meinem Schlüsselbein. Ich war froh, dass er meine Stirn nicht sah. Zwar konnte ich auch nichts sehen außer den dunklen Stoff der Gugel, doch das war es mir wert.
„Das wird wehtun. Haltet sie bitte fest.“, sprach der, der sich um meine Wunden kümmerte.
Ich spürte, wie meine Beine und Arme gehalten wurden.
Das verhieß nichts Gutes.
Sie zogen meine Gugel etwas zur Seite. Ich sah in die Gesichter verschiedener Personen.
Die meisten waren mir fremd, doch Breeg erkannte ich. Er hielt meine Beine und meinen Arm fest.
Mehr Zeit bekam ich nicht, um darüber nachzudenken, denn plötzlich durchzuckte ein stechender Schmerz meinen gesamten Körper. Darauf folgte ein Brennen. Ein gnadenloses, nicht enden wollendes brennen.
Ich schrie und wand mich und wollte weg von diesen Menschen, doch es gelang mir nicht. Sie hielten mich weiter fest und ich brüllte einfach nur meinen Schmerz in die Welt.

Als sie endlich fertig waren, lockerten sie ihren Griff und leisteten mir Gesellschaft.
Die Schmerzen waren nicht fort, aber immerhin raubten sie mir nicht mehr den Verstand.
„Anastasya.  Diesmal hole ich dich.“
Die Stimme kam mir viel zu bekannt vor.
Dann erklang ein Lachen. Es schallte über den gesamten Platz, hallte von den Bäumen wieder.
Alles drehte sich.
Ich fing an zu schreien, sprang auf, rannte los.
Die Panik jagte mich. Es jagte mich. Ich hatte keine Zeit, mich umzusehen. Ich hatte keine Zeit, auf den Weg zu achten.
Es hörte nicht auf. Ein Lachen. Viele Schreie. Diese Stimme. Er rief nach mir. Die Stimme. Seine Stimme.
„Wo willst du hin, Anastasya?“, fragte diese Stimme. „Es gibt kein Entkommen! Du gehörst zu mir.“
Meine Beine gaben nach. Ich rutschte über kleine Steine und drückte meinen Kopf auf den kühlen Boden. Ich musste weg von hier.
„Anastasya!“
Das war nicht Kirrens Stimme. Keine Stimme aus der Sanduhr.
Breeg. Er kam zu mir. Er hielt mich fest.
Wieso? Ich musste doch fort von hier!
Ich konnte mein eigenes Herz schmerzhaft schlagen hören.
„Anastasya, wo willst du denn hin?“.
Wieder Breeg.
„Die Stimmen!“
Ich krallte meine Hände in die Steine.
„Die Stimmen… Wieso. Wieso ist er hier? Ich habe sie gehört!“
Ich schluchzte. Vermutlich verstanden sie mich kaum.
Vor Tränen war meine Sicht ganz verschwommen.
Was passierte hier nur?
Wieso konnte ich es schon wieder hören?
Wie im Wald. Es war wie im Wald.
Nur waren die Schreie lauter. Die Stimmen.
Es wollte mich.
Ich musste fort.
Doch er ließ mich nicht.

Plötzlich wurde es kälter. Es war, als wäre der Wind gestorben.
Weiße Gestalten tauchten auf. Gestalten, die uns letzten Mond bereits töten wollten.
Doch diese Stimme in meinem Kopf. Wieder dieses Lachen.
Die Gestalten waren mir egal.
„Wir müssen sie hier weg bringen!“, hörte ich jemanden sagen.
Sie zogen mich auf die Beine und zurück zu der Bank.
In Sicherheit, wie sie es nannten.
Sicher. Auf dieser Insel konnte ich nicht sicher sein.
Nicht, solange Kirren hier war.
„Anastasya. Ist es nicht gut, dass Kirren hier ist?“, fragte Breeg. „Wir können es zu Ende bringen. Und dann kann es zum Anfang von deinem Tag werden. Weißt du noch?“
„Njet.“, erwiderte ich.
Das würde es nicht.
Es konnte nicht mein Sonnenaufgang sein.
„Wir sind doch hier, um Gin zu beerdigen. Deswegen sind wie hergekommen. Lass es nicht zu deiner Sanduhr werden.“, fügte Breeg hinzu.
Ich erstarrte.
Sanduhr.
Dagaz.
Breeg erhob sich und ging weg.

Bjorn kam zu mir.
Ich zögerte, doch ich ließ ihn.
„Anastasya.“, sagte er ruhig.
„Ich habe die Stimme gehört.“, erwiderte ich.
„Welche Stimme?“
„Kirren. Wie in Wald.“
Bjorn starrte mich an.
Ich senkte den Blick.
Sie sollten die Sanduhr nicht sehen.
Wie hatte diese Stimme es geschafft, in meinen Kopf zu gelangen?
Wieso hörte nur ich die Stimmen der Sanduhr?

„Anastasya. Es gibt kein Entrinnen! Du brauchst es gar nicht versuchen! Und sie können dich nicht beschützen.“
Das Lachen ertönte wieder. Untermalt von tausend Schreien.
Ich musste weg. Ich wollte los. Sie hielten mich fest. Ich stürzte.
Jemand packte meine beiden Arme, jemand Anderes hielt meine Beine fest.
Ich schrie und wütete.
„Lasst mich! Ich muss Ort verlassen! Ist Kirren hinter mir her!“
„Kirren ist gefesselt, er kann dir nichts mehr tun!“, redete jemand anderes auf mich ein.
„Njet! Die Stimmen! Ich höre die Stimmen!“, schrie ich und schlug um mich. Sie gaben nicht nach. Mit aller Kraft versuchte ich mich loszureißen, doch es gelang mir nicht.
Wer immer mich da festhielt war stark.
Immer mehr Personen sammelten sich um mich.
„Bitte! Lasst mich! Lasst mich gehen!“, flehte ich. „Warum wollt ihr mich töten?!“
Tränen stiegen in meine Augen.
Das Lachen wurde immer lauter und ich konnte es kaum noch ertragen.
„Bitte! Ich flehe euch an! Lasst mich gehen! Ich muss weg von diesem Ort, sonst tötet es mich!“
Wieder schlug ich um mich.
Wieder versuchte ich, von diesen Leuten los zu kommen.
Dann eine bekannte Gestalt.
Bjorn.
„Anastasya. Wir gehen zusammen. Lass uns zusammen gehen!“, schlug er vor.
Ich wurde etwas ruhiger.
„Da.“, erwiderte ich.
Würden sie mich loslassen?
„Gehen wir zusammen von diesem Ort. Aber langsam.“
Sie zögerten, dann ließen sie von mir ab.
Bjorn reichte mir die Hand.
„Langsam.“, kam es von allen Seiten.
Er half mir auf.
Und ich rannte.

Ich rannte den Weg entlang, einfach weiter, immer weiter.
Hinter mir hörte ich sie rufen. Das Rufen wurde leiser. Ich preschte weiter, sah mich nicht um. Dichtes Unterholz drohte mich zu Fall zu bringen, also sprang ich über einzelne Sträucher des Waldes.
Die Bäume verdichteten sich, fanden näher zueinander und ich rannte weiter.
Der Stoff meiner Hose blieb in einzelnen Dornen hängen. Sie rissen sich in meine Haut, doch ich blieb nicht stehen.
Ich musste fort von hier.
Dies war meine einzige Möglichkeit.
Doch hinter mir hörte ich Bjorn.
Er schnaufte und schrie und rief meinen Namen.
Er verfolgte mich.
Und mir war so schwindelig.
Ich wurde langsamer.
Mein Herz drohte zu zerplatzen, so schnell schlug es.
„Euer Freund kann nicht mehr. Wartet.“, rief eine weibliche Stimme. Sie war mir fremd, doch sie klang freundlich.
Keuchend drehte ich mich um.
Ich rang nach Atem, bekam kaum Luft.
„Es ist aussichtslos“, lachte die Stimme in meinem Kopf. „Du kannst nicht entkommen, Anastasya.“
Meine Augen weiteten sich, doch ich schaffte es nicht, weiter zu laufen.
Mein Körper war schwach. Ich sank zu Boden.

Bjorn näherte sich uns.
„Anastasya. Wieso rennst du weg?“. Er wirkte wütend, aber besorgt.
„Die Stimmen.“, keuchte ich atemlos. „Muss ich weg.“
„Kann er nichts tun. Bleibst du bei mir, kann ich dich beschützen.“
„Njet. Kannst du mich nicht vor Stimme beschützen.“, gab ich zurück.
„Kommt. Wir verlassen diesen Wald.“, schlug die Frau vor. Sie kam mir bekannt vor, aber ich war mir nicht ganz sicher.
Bjorn half mir auf.
Wieder einmal war alles vernebelt in meinem Kopf.
Mein Atem ging schnell und mein Herz schlug schwer in meiner Brust, doch mehr spürte ich nicht.
Die Stimmen wurden wieder leiser.

„Hier, stützt Euch auf meinen Stab.“, schlug mir die Frau vor. Ich nickte und sie überreichte ihn mir.
Auch Bjorn versuchte, mir beim Laufen zu helfen.
Gemeinsam verließen wir den Wald.
Waren die Stimmen nun fort?

Wir näherten uns dem Waldrand, doch dort blieb ich stehen.
Wollte ich wirklich wieder zurück dahin, wo Kirren festgehalten wurde?
Würden die Stimmen dort wieder auftauchen?
Durfte ich vielleicht einfach nicht in seine Nähe?

„Gibt es denn schon etwas Neues von dem Mann?“, fragte die Frau.
„Njet.“, gab Bjorn zurück. „Will ich schauen was ist. Komme ich wieder. Passt du auf sie auf, da?“
„Ja.“, erwiderte die Frau und Bjorn lief los.
„Wollen wir uns hier hinsetzen?“, fragte sie dann und setzte sich nieder ins Gras.
Ich tat es ihr gleich.

Sie redete mit mir über die Stimmen, die ich hörte.
Ich versuchte es ihr zu erklären.
Ich versuchte ihr zu erklären, was passiert war.
Doch ich wusste ja selbst nicht genau, warum diese Stimmen auf einmal da waren.
Es musste an Kirren liegen.
An seiner Anwesenheit.
Oder an der Anwesenheit der Sanduhr?
„Keine Angst, er kann Euch nicht kriegen, dazu seid Ihr zu flink.“, versuchte sie mich aufzuheitern.
Ich lächelte schwach, doch es beruhigte mich nicht.
Wenn es wirklich er war, der mich jagte, dann konnte ich nicht entkommen. Dann war egal, wie flink ich sein mochte. Dann war ich verloren.

Ich fragte sie nach ihrem Namen.
„Sophia.“, gab sie zurück und lächelte.
Sie wirkte so freundlich. So unschuldig.
„Ist schöne Name.“
„Danke!“. Sie lächelte wieder.
Wir unterhielten uns weiter. Sie erzählte von sich. Von ihren Eltern.
Ich fragte mich, wo sie wohl herkam. Von weiter weg. So klang es jedenfalls.
Doch ihre Geschichten waren interessant. Ich versuchte, weiter aufmerksam zuzuhören, auch wenn sich in meinem Kopf immer die gleichen Fragen sammelten.
Wieso ist Kirren hier?
Wo kommen die Stimmen her?
Wieso verlangte die Stimme nach mir?
Wieso rief sie mich?

Sie blickte mich an. Sah mir in die Augen.
„Was ist denn mit Euren Augen?“, fragte sie interessiert.
„Mit Augen?“, wiederholte ich. Sie war nicht die Erste, die mich danach fragte.
„Ja… Was hat das zu bedeuten?“, fragte sie weiter.
„Zu bedeuten? Habe ich schon immer blaue Augen…“, gab ich verwirrt zurück.
„Na ja. Die sehen irgendwie…. Also. Versteht mich nicht falsch, die sind schön, aber die sehen so… anders aus.“, versuchte sie zu erklären.
Ich schüttelte verwirrt den Kopf, doch sie sagte nichts weiter dazu.

Wir kamen ins Gespräch über ihre Hände. Es war sehr warm, doch sie konnte ihre ledernen Handschuhe nicht ausziehen. Sie erklärte, dass ihre Hände sonst alles einfrieren würden.
Wieder wirkte es ganz so, als käme sie von weit her.
So etwas hatte ich noch nie gehört.

„Mein Vater kann auf den Mann aufpassen, der böse ist.“, erklärte Sophia dann.
Ihr Vater war hier?
„Wer ist denn Vater?“, fragte ich neugierig.
„Na, Galador.“
Es klang wie selbstverständlich.
„G-Galador?“, wiederholte ich verwirrt.
Wie konnte Galador ihr Vater sein?
Er wirkte doch gar nicht so alt?
„Aber… Wie alt ist Galador?“, fragte ich weiter.
„Hm. Ich weiß gar nicht.“, gab sie nachdenklich zurück.
Sie schienen wirklich von weit weg zu kommen.

Irgendwann erwähnte sie die Götter des Chaos.
Davon hatte ich schon gehört.
Der Mann mit dem Hammer hatte damals versucht, es mir zu erklären.
Und bei der letzten Taverne waren doch auch diese… Nurgle?
„Kenne ich nicht viele von Chaos.“, gab ich zurück. „Weiß ich nur, dass es diese… Nurgle gibt.“
„Nurgle, ja. Sie stehen für Krankheit.“, erwiderte Sophia.
„Krankheit? Da. Sahen auch aus wie Krankheit.“, überlegte ich.
Wir redeten noch eine Weile über die verschiedenen Chaos Gottheiten und sie versuchte mir zu erklären, worum es dabei ging.
Ich konnte es mir nicht vorstellen.
Ich kannte nur meine Götter. Die Götter, die alle zusammen gehörten. Die sich gemeinsam um die Menschen kümmerten oder sie vor Herausforderungen stellten.
Bei ihren Gottheiten schien es etwas ganz anderes zu sein.
„Galador!“, rief sie, als sie ihn in der Ferne erblickte. Doch er hörte sie nicht.

„Hm. Euer Freund  kommt nicht zurück… Er wollte uns doch sagen, was er herausgefunden hat.“
Ich versuchte, in der Ferne etwas zu erkennen, doch ich sah Bjorn nicht.
Wieso wartete ich überhaupt?
Wieso war ich nicht einfach von der Insel geflohen?
„Wollen wir ein Stück weiter gehen? Sagen wir bis zu dem Baum dort?“. Sophia zeigte zu einem Baum, der einige Schritte weit entfernt stand.
„Da… Können wir machen.“, gab ich zurück.
„Ja. Von da aus können wir auch viel besser sehen, was dort passiert.“
Ich nickte. Wieder gab sie mir ihren Stab zum Stützen und wir liefen ein Stück.
Galador kam auf uns zu und unterhielt sich mit Sophia.
Ich hörte den beiden zu, doch jeder Schritt in Richtung des Turmes lenkte mich mehr ab.
Kirren war in diesem Zelt.
Kirren wollte meine Seele.
Nein.
Es wollte meine Seele.

Breeg kam auf uns zu.
„Wer seid Ihr?“, fragte Sophia und stellte sich etwas vor mich.
„Ich bin ein Begleiter von ihr.“, antwortete er.
Sophia sah zu mir.
„Ist er ein Begleiter von Euch?“, fragte sie mich.
Breeg sah sie verwirrt an.
„Da. Ist er Begleiter.“, gab ich zurück.
„Schaut mich nicht so an.“. Sophia sah zu Breeg. „Ich habe versprochen, auf sie aufzupassen.“
„Sie wollen Gin beerdigen.“, erklärte Breeg mir.
Ich nickte.
„Ihr solltet hin gehen. Er war doch ein Freund von Euch.“
Wieder nickte ich.
Es versetzte mir einen erneuten Stich ins Herz.
Gin. Er war hier gestorben. In den Katakomben.

Hektisch kniete ich mich zu Gin.
Ich fasste an seinen Hals, versuchte, den Puls zu finden.
Ich fand nichts.
War ich so schlecht darin?
Schnell nahm ich seine Hand. Dort war es einfacher, den Puls zu fühlen.
Ich hielt sein Handgelenk fest.
Nichts.
Gar nichts.
Ich schüttelte den Kopf.
Hielt das Handgelenk noch immer.

Sophia und Breeg begleiteten mich in den Wald.
An die Stelle, an der wir ihn bestatten wollten.
Rhea, Lynx und Bjorn standen bereits dort, mitten im Wald.
Zwei weitere Personen.
Ich kannte sie.
Der Paladin mit der weiß-roten Kleidung. Sein Name war Alistair.
Und Bruchas, der Schmied. Ich hatte schon öfter mit ihnen gesprochen.
Jetzt sollten sie meinen Freund beerdigen.

„Anastasya. Kommt näher. Erzählt uns von Gin.“, forderte Bruchas mich auf.
Sophia stand direkt hinter mir und legte mir die Hand sanft auf die Schulter.
Sie gab mir Mut.
Ich trat einen Schritt nach vorne. Sank auf die Knie.
Genau vor mir war die Leiche. Gins Leiche.
Umgeben von Holz.
Verbrennen. Wir wollten ihn verbrennen. Er musste nach Walhalla.
„Gin hatte… keinen Gott. Doch er hat gekämpft. Er hat ein ehrenhaftes Leben geführt. Er hat es verdient, nach Walhalla zu kommen. Odin… Odin hört nicht mehr auf mich, doch… dieses eine Mal. Odin. Erhöre mich. Ich habe so lange für dich gekämpft. Nimm Gin auf nach Walhalla. Lass ihn dort mit den Göttern trinken und kämpfen. Er gehört an diesen Ort. Er ist gestorben mit Waffe in Hand… Odin. Ich bitte dich.“
Tränen rollten über meine Wangen. Ich schluchzte. Ich konnte es nicht kontrollieren.
Sophia strich mit den Lederhandschuhen über meinen Rücken.
Es beruhigte mich.
„Tut mir Leid, dass ich Euch nur mit den Handschuhen berühren kann.“, flüsterte sie in mein Ohr.
„Wenn er nach Walhalla kommt… Was geschieht mit Euch?“, fragte Bruchas mich.
Ich sah auf.
„Ist nicht wichtig. Will Odin mich nicht… Soll er zumindest Gin mitnehmen.“
Meine Stimme klang so dünn. So zerbrochen.
„Das klären wir später.“, erwiderte Bruchas.
Bjorn trat vor. Er schnitt sich in die Hand und gab sein Blut.
Rhea und Lynx taten es ihm gleich.
Bruchas kam zu mir.
„Anastasya. Wollt Ihr auch Euer Blut für Euren gefallenen Freund geben.“
Ich schüttelte schluchzend den Kopf.
Mein Körper begann zu zittern.
„Njet. Will Odin mein Blut nicht.“, gab ich zurück.
Ein erneutes Stechen in meiner Brust.
„Sie hat in letzter Zeit schon viel Blut verloren.“, fügte Sophia hinzu und strich weiter über meinen Rücken.
Es beruhigte mich. Das Zittern hörte langsam auf.
Bruchas kam auf mich zu und fing meine Tränen in einer Phiole auf.
„Nehmen wir die Tränen und den Atem für Euren gefallenen Freund.“

Alistair stellte sich direkt hinter Gins Leiche.
„Wir werden die Leiche verbrennen. Dazu werde ich zu meinem Gott, dem Feuergott Ignis beten.“, erklärte er und nahm ein Buch in die Hand.
Seine Worte waren ergreifend und je mehr er erzählte, desto mehr begann ich zu schluchzen.
Wieso hatten wir Gin nicht retten können?
Je mehr ich schluchzte, desto mehr versuchte Sophia, mich zu beruhigen.
Ich war ihr sehr dankbar dafür.
Wieder einmal war da nur dieser unfassbare Schmerz.
Ich konnte nichts tun.
Es war, als würde es auf der Welt keine Freude mehr geben.
Zumindest nicht für mich.

Alistair entzündete das Feuer.
Ich hörte ein Heulen.
Das Heulen von Wölfen.
Geri?
Freki?
Hatte Odin mich erhört?
Ich hob den Blick.
Die Flammen tanzten, kämpften. Diese stolzen Flammen verbrannten das Holz, verbrannten die Leiche. Verbrannten Gin.
Bjorn, Rhea und Lynx hatten den Blick ebenfalls gehoben.
Hatten sie es auch gehört.
„Odin!“, rief Bjorn.
Rhea kam näher zu mir. Sie lachte.
„Hast du es gehört, Anastasya? Die Wölfe. Odin hat ihn zu sich geholt! Gin ist jetzt in Walhalla!“
Ich konnte es kaum glauben.
Doch ich hatte sie gehört.
Das Heulen von Geri und Freki.
„Wacht ihr über das Feuer?“, fragte Bruchas.
Wir nickten.
Natürlich würden wir über das Feuer wachen.

Die Flammen wärmten mich.
Es war ein seltsames Gefühl.
Ein anderes Gefühl als Schmerz.
War das ein Zeichen?
Nur wofür?
Hatte das Feuer den Kokon niedergebrannt?
Ich war mir nicht sicher.
Die Tränen rannen weiterhin meine Wangen hinab.
Ich konnte einfach nicht aufhören.
„Anastasya. Es wird langsam kalt. Wir sollten zurück.“
Ich kniete noch immer auf dem Waldboden.

Sophia und Rhea halfen mir auf.
Sie überredeten mich, zurück zu gehen und den Wald zu verlassen.
Ich folgte ihnen.
„Tut mir Leid, ich gehe jetzt wieder zu meinem Vater. Kommt Ihr zurecht?“, fragte Sophia mich.
Ich nickte.
„Habt Dank.“
Damit wand sie sich von uns ab und ging wieder zurück zu Galador.
Sie hatte mir schon sehr geholfen.
Und das, obwohl ich sie überhaupt nicht kannte.

Rhea geleitete mich wieder zu der hölzernen Bank, auf der ich zuvor bereits gesessen hatte.
Die Tränen rannen noch immer meine Wangen hinab.
Es war einfach zu viel.
Gins Bestattung.
Kirren.
Diese Stimmen.

Auf einmal hörte ich wieder Schreie.
Reale Schreie.
Sie kämpften, kämpften wieder gegen diese seltsamen Gestalten.
Auch Rhea lief los, um zu kämpfen.
„Na, Anastasya? Hast du mich vermisst? Keine Sorge. Ich gehe nicht weg.“
Hektisch sah ich mich um.
Die Schreie. Die Stimme.
Doch niemand war hier.
Ich musste fort.
Ich rannte los.
Wieder führte mich mein Weg blindlinks durch den Wald.
Ich hatte keine Zeit, mich umzusehen.
Die Dornen rissen sich erneut in meine Haut.
Ich rannte. Rannte einfach weiter.
„Lauf! Lauf ruhig, Anastasya! Glaubst du wirklich, dass du mir entkommen kannst? Versuch dein Glück!“
Die Stimme wurde nicht leiser. Eher lauter.
Auch die Schreie wurden schlimmer.
Die Sicht vor mir verschwamm.
„Odin… Wieso… Kirren… Ich habe… nichts…Wieso?“

Ich erwachte. Es war bereits dunkel geworden.
„Du machst deinen Freunden ganz schöne Sorgen.“
Eine vertraute Stimme.
Ich blinzelte.
Batras, der Alchemist.
Dann erblickte ich Rhea, Lynx und einen Fremden.
Er trug zerschundene, helle Kleidung und sah ebenfalls aus, als käme er von weit her.
„Anastasya, wieso bist du weg gelaufen?“, fragte Rhea mich.
Ich zuckte zusammen.
„Stimmen. Höre ich diese Stimmen. Muss ich fort!“, rief ich verzweifelt.
Sie waren so laut in meinem Kopf.
Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Es ist zu dunkel, Lynx kann das Boot heute nicht mehr steuern.“, erwiderte Rhea. „Komm einfach mit und wir fahren morgen früh fort von hier.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Njet. Ich muss weg! Bitte!“, flehte ich. „Bitte. Will ich euch nicht mehr in Gefahr bringen.“
„Aber wenn du ständig wegläufst, dann bringst du deine Freunde noch mehr in Gefahr.“, gab Batras zu Bedenken.
Ich schüttelte den Kopf.
„Dürft ihr… nicht folgen.“, erwiderte ich.
Mir war schwindelig.
Alles drehte sich.
„Anastasya. Es gibt kein Entrinnen.“
Ein ohrenbetäubendes Lachen erfüllte meine Ohren.
Ich hielt mir die Ohren zu. Es war unerträglich, doch es half nicht.
„Die Stimmen…“, murmelte ich schwach.
„Komm Anastasya, wir gehen zurück. Irgendwas stimmt doch nicht. Wir müssen einen Weg finden, dir zu helfen. Vielleicht kann jemand etwas herausfinden.“, überlegte Rhea.
Sie ließen mir keine Wahl und brachten mich zurück zur Bank.
Batras setzte sich neben mich.
Wir sprachen noch etwas über die Stimmen, die mich so quälten.
Ich merkte, dass er versuchte, mich zu beruhigen.
Doch die Stimmen waren noch immer nicht gänzlich verschwunden.
Ich gab mich ihnen hin und schwieg.

Irgendwann stand Batras von der hölzernen Bank auf.
Der Fremde kam zu mir und stellte sich vor mich.
Ich hielt meinen Kopf gesenkt.
„Verzeiht mir. Ich kenne Euch nicht, aber darf ich mich setzen?“, fragte er.
Ich nickte. „Da.“
„Was meint Ihr?“
„Da.“, gab ich zurück und nickte etwas.
Vermutlich wieder einer von diesen Fremden, die unsere Sprache nicht ganz verstanden.
Doch es war nicht schlimm.
Er schien es zu begreifen und setzte sich neben mich auf die Bank.
Er fragte vorsichtig nach den Stimmen, von denen ich im Wald gesprochen hatte.
Ich erzählte davon.
Ich erzählte, was sie sagten. Erzählte von den Schreien und von Odin.
„Odin?“, fragte der Fremde.
Ich sprach von meinen Göttern. Und davon, dass sie mich nicht mehr erhörten. Dass die Götter mit mir nichts mehr zu tun haben wollten.
„Wie ist Euer Name?“, fragte ich ihn.
Er sagte, dass er keinen Namen habe.
Wie seltsam.
Dann erfuhr ich, dass er ein Sklave gewesen war und Schiffsbruch erlitten hatte.
Nur durch Glück – wie er es nannte – hatte er überlebt.
Odin musste seine Finger im Spiel gehabt haben.
„Du brauchst Name.“, sagte ich ihm und er stimmte mir zu.
Er fragte mich nach Namen aus meiner Heimat und ich schlug ihm ein paar Namen vor, die häufig vorkamen.
Doch sie schienen ihm alle nicht zu gefallen.
Er sagte, dass es seltsam für ihn sei, Entscheidungen zu treffen.
Ich dachte darüber nach. Ich konnte es mir gar nicht vorstellen.

Bald erhob ich mich. Ich wollte nicht mehr dort sitzen.
Ich wollte fort. Ich wollte, dass diese Stimme endlich verstarb.
Wann würde das passieren? Musste ich mich von Kirren entfernen?
„Hey! Nicht!“, rief der Fremde mir nach, doch er hielt mich nicht fest.
Er trug keine Schuhe und war deswegen langsamer als ich.
Nach ein paar Schritten blieb ich stehen.
Rhea und Lynx kamen mir entgegen.
Sie schienen verletzt zu sein, doch sie tauchten so schnell auf wie sie wieder verschwanden.
Ich verstand die Welt nicht mehr.
Wenn ich sie überhaupt jemals verstanden hatte.

Rhea kam zurück zu mir.
Sie wirkte total verwirrt und verzweifelt.
„Kirren ist entkommen!“
Ich erstarrte.
Entkommen?
Ich sah mich um. Panisch.
Wo war er?
Suchte er mich?
Ich wollte schon wieder loslaufen.
„Sie haben ihn wieder gefangen.“, fügte Rhea hinzu. „Doch er hat irgendwas gemacht. Irgendwas stimmt nicht. Er hat mich im Wald gefunden.“
Ich verstand noch immer nicht.
Er hatte sie gefunden?
Etwas stimmte nicht?
„Es ist in Ordnung. Ich fühle mich normal. Aber mit dir ist etwas nicht richtig.“, erklärte sie mir.
Was? Was war denn nicht richtig? Woher wusste sie das?
„Ich hole Jemanden.“
Damit war sie wieder verschwunden.
Ich blieb einfach stehen. Ich wusste nicht, was los war.
Wen wollte sie holen?
Was war denn nur geschehen?

Rhea kam zurück.
„Ich habe Jemanden gefunden.“, erwiderte sie und drehte mich etwas um.
Vor mir stand die Magierin mit den weißen Haaren.
Ich glaube, dass ihr Name Athera lautete.
Ich hatte sie schon oft gesehen.
„Komm mit mir, Liebes.“
Ich wusste nicht, wieso, doch ich folgte ihr.
Wir liefen über die Wiese zwischen den Bäumen.
„Stell dich hier hin.“, bat sie mich und stellte ein paar Kerzen auf. „Etwas stimmt also nicht mit dir, ja? Ich werde jetzt herausfinden, was mit dir ist. Es wird nicht wehtun.“
Die Kerzen flackerten, doch es war nicht die Farbe normaler Kerzen. Kein normales Feuer.

Plötzlich war alles dunkel.
Ich saß auf dem Boden.
Der Boden war kalt, ich erschauderte.
Vor mir stand diese Frau.
Obwohl ich sie nicht kannte, wusste ich, wer sie war.
Hel. Die Göttin des Todes. Die Herrscherin der Unterwelt.
Ihr totes Auge fixierte mich.
Dann sprang Garm, ihr Hund, ihr Haustier auf mich zu.
Er sah seine spitzen Zähne aufblitzen, dann erst spürte ich den Schmerz durch meinen gesamten Körper ziehen.
Ich schrie auf. Es hörte nicht auf.
Es war, als würde mich der Hund von Hel lebendig auffressen.
Doch ich sah kein Blut, spürte kein Blut.
Nur den puren, reinen Schmerz.
Hel stand vor mir und starrte mich weiterhin an.
Sie sagte nichts.
Sie tat nichts.
Zur Hälfte sah sie aus wie ein unschuldiges Mädchen, doch die andere Hälfte…

„Ich weiß, was dir fehlt.“
Das Bild verschwamm und wo Hel gerade noch stand, sah ich jetzt Athera vor mir stehen.
Sie lächelte.
„Es sieht ganz so aus, als wäre ein Stück von deiner Seele verloren gegangen.“, erklärte sie mir. „Wir können es ersetzen, wenn du möchtest. Oder wir versuchen es aus der Sanduhr zurück in deinen Körper zu bekommen. Ich kann dir aber nichts versprechen.“
Ich fühlte mich so schwach.
Ich wusste nicht, was sie von mir hören wollte.
Was sollte ich sagen?
Wieso war meine Seele… kaputt gegangen?
Und wie?
Ich wollte doch nur meine Seele.
Sie schlug weitere Möglichkeiten vor.
Das Einfügen des Stücks einer anderen Seele.
Einer fremden Seele.
Es erinnerte mich an die Nurgle-Priester.
Wie sollte ich mich entscheiden?
„Will ich… Seele.“, keuchte ich angestrengt.
Mir war schlecht.
Alles tat weh, der gesamte Körper schmerzte.
Athera nickte.
„Ich werde die nötigen Vorbereitungen treffen.“
Bei ihr stand noch eine andere Frau.
Ich hatte sie schon öfter gesehen, doch ich kannte ihren Namen nicht.
Ob sie auch eine Magierin war?
Bjorn half mir auf und brachte mich zurück zur Bank.
Ich war so müde.

Als ich die Augen aufschlug, war wieder alles dunkel.
Vor mir, ganz weit in der Ferne erblickte ich eine Gestalt.
Sie kam näher. Schritt für Schritt.
Die Augen leuchteten rot.
Dann erkannte ich es.
Kirren.
Er kam auf mich zu.
Er kam näher.
Ich wollte fliehen, doch ich konnte mich nicht bewegen.
Doch es war seltsam.
Je näher er kam, desto mehr veränderte er sich.
Ich konnte ihn immer besser erkennen.
Und ich wollte meinen Augen nicht trauen.
Denn plötzlich stand ich vor mir selbst.
Nur, dass ich rote Augen hatte.
Ich grinste mich selbst an.
Ich… stand mir selbst gegenüber.
„Wie viel Schmerz kann deine Seele ertragen?

Wie laut dein Herz in fremder Brust schlagen?

Wie viel Realität deine Augen betrachten?

Wie viel der Wahrheit dein Geist verkraften?“

Es war nicht mehr Kirrens Stimme.
Es war meine.
Ich schrie.
Ich schrie mir mein Leben aus dem Leib.
Die Finsternis verschwand.
Es wirkte alles anders.
Ich hörte die Stimmen der anderen Menschen klar und deutlich.
Sie redeten, redeten über mich.
Es wirkte nicht mehr so beklemmend, doch trotzdem fürchtete ich mich.
Wovor?
„Es wird dir bald besser gehen.“, erklärte Athera. „Am Besten ruhst du dich jetzt aus und trinkst etwas. Das hilft immer.“
Ich nickte und taumelte aus dem Kreis heraus.
Was war nur passiert?
Wieso fühlte sich alles so seltsam an?
Bjorn lief mit mir zu einem der Zelte und wir holten Metka.
Das brauchte ich.

Ich gesellte mich zu Lynx. Erst jetzt bemerkte ich, dass ihr Auge komplett weiß war.
Was war nur passiert?
„Lynx? Was ist mit Auge?!“, fragte ich schockiert.
„Kirren.“, erwiderte sie. „Er… hat es herausgedrückt.“
Ich sah sie mit weit aufgerissenen Augen an.
Kirren.
Immer Kirren.
„Die Heiler haben versucht, es zu retten, doch der Sehnerv ist wohl beschädigt.“, erklärte sie weiter.
Ich nickte langsam.
Würde sie nun für immer auf diesem Auge blind sein?

Wir redeten und tranken noch eine Weile.
Es war anders. Es fühlte sich nicht mehr an wie zuvor.
Sollte mich das freuen?
War das ein gutes Zeichen?
Ich war mir nicht sicher.
Doch es tat gut, mal wieder Met und Metka zu trinken.

Bald kam Bjorn zu uns.
„Ist Kirren weg. Kommt er nicht wieder.“, knurrte er. „Haben wir ihn ausgesetzt. Ohne Rüstung und Waffe.“
Dann nahm er sich ebenfalls Met und setzte sich.
Kirren?
Sie hatten ihn ausgesetzt?
Sie hatten ihm seine Rüstung und die Waffen genommen?
War er nun unschädlich?
Ich war mir nicht sicher.

Auf einmal kam uns Breeg entgegen.
Ich hatte ihn schon eine ganze Weile nicht gesehen.
Doch er war nicht allein.
Hinter ihm… tauchte ein riesengroßes… Etwas auf.
Die Krallen waren fast so lang wie mein gesamter Arm.
Es sah durch und durch böse aus.
Und es steuerte direkt auf uns zu.
Ich nahm die Axt in meine rechte Hand und hoffte, dass ich auch einhändig gut genug kämpfen konnte.
Doch das konnte ich mir nicht aussuchen.
Ich musste einfach helfen.
Wir liefen auf die Gestalt zu.
Bjorn und Lynx kamen mit.
Auch die anderen Kämpfer versammelten sich.
Sie griffen es an, trafen es immer und immer wieder, doch es schien nichts zu bringen.
Die furchteinflößende Gestalt erwischte Breeg und er ging zu Boden.
Schnell rannte ich zu ihm und half ihm auf, schickte ihn zu den Heilern.
Hoffentlich war ihm nichts passiert.

Der Boden erbebte und ich verlor den Halt.
Ich fand mich auf der Wiese wieder. Das Wesen in meiner unmittelbaren Nähe.
Andere Krieger halfen mir auf.
Es passierte erneut.
Der Boden.
Es war, als würde er sich bewegen.
Ich schaffte es wieder nicht, mich auf den Beinen zu halten. Ich lag und blieb liegen.
Ich war erschöpft.
Zwei Krieger halfen mir auf und brachten mich nach vorne zu der hölzernen Bank.
Es brachte nichts, zu kämpfen. Ich konnte nichts ausrichten.

Doch die anderen Krieger kamen bald auch wieder zu uns.
Hatten sie es geschafft?
Hatten sie das Wesen in die Flucht geschlagen?
Es wirkte nicht, als hätten sie es besiegt.
Doch sowohl Lynx als auch Breeg waren wohlauf.
Rhea war mit dem Fremden unterwegs.
Hoffentlich ging es ihr gut.
Doch ich hatte an dem Fremden keine Waffen gesehen.
Vermutlich zeigte sie ihm lediglich die Insel.
Als ehemaliger Sklave war er sicherlich froh, etwas Freiheit zu erfahren.

Wir tranken gemeinsam etwas Met und Metka.
Am nächsten Morgen würden wir diese Insel verlassen.
Rhea, Lynx, Bjorn und ich legten uns in eines der Zelte.
Wo Breeg hin gelaufen war, wusste ich nicht.
Seit dem Kampf hatte ich ihn nicht mehr gesehen.

Ich legte mich auf den Boden im Zelt und schlief sofort ein.

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