Am nächsten Morgen erwachte ich in der Taverne auf der Insel Melekahrt.
In der Nacht hatte uns tatsächlich niemand angegriffen – irgendwie hatten die Dämmerungsalben also doch ihr Wort gehalten und uns eine ruhige Nacht beschert.
Immerhin etwas.
Ich erhob mich von dem Stroh und dem Schaffell und überlegte, was ich nun tun wollte.
Nachdenklich zählte ich meine Kupfer- und Silbermünzen.
Es war ausreichend, aber ich wusste nicht, ob ich ohne weitere Aufträge durch den Winter kommen würde.
Die drei Kupfer, die ich vom Baron erhalten hatte, würden mir zwar ein bisschen weiterhelfen, aber auch nicht ewig.
Es musste etwas mehr Geld her.

Lynx und Breeg waren ebenfalls noch nicht abgereist und kamen zu mir.
Wo Tahn allerdings schon wieder abgeblieben war, wussten wir nicht.
Es lag lediglich ein Apfel auf dem Strohplatz, auf dem er geschlafen hatte.
Warum eigentlich immer Äpfel?

Vermutlich würde ich am besten über die Runden kommen, wenn ich von nun an jeden Auftrag annahm, den ich finden konnte.
Ich sollte wieder verstärkt auf Anschlagtafeln achten.
Und genau das tat ich auch als wir beschlossen, das Inselreich wieder zu verlassen.
Im nächstgrößeren Ort befand sich der Zugang zum See, über den wir zurück kommen konnten.
Zum Glück hatten wir Lynx dabei – sie kannte sich immerhin am besten von uns mit Booten und der See aus.
Doch hier in dieser Handelsprovinz, die Fralas genannt wurde, gab es natürlich noch etwas: Handel.
Handel und Aufträge.
Bald erreichten wir die erste Anschlagtafel – direkt vor einer Taverne.
Ich steuerte direkt darauf zu – Lynx und Breeg folgten mir.
Vielleicht gab es hier auch Aufträge außerhalb.
Aufträge, die wir annehmen konnten und an denen wir uns bereichern konnten.

Ein Zettel übertraf die anderen in Größe und Erscheinung.
Das Papier sah edel und sehr teuer aus.
Die Schrift war geschwungen und irgendwie hübsch. Fast so, als würde allein dieser beschriftete Zettel schon ein Bild darstellen.
Ich las die Worte, verstand die Nachricht, die sich hinter den Buchstaben befand.
Die Belohnung war im wahrsten Sinne des Wortes „goldwert“.
Eine feindliche Gruppe namens „Die schwarze Hand“ sollte bekämpft werden. Die Belohnung dafür: Gold, ein Adelstitel und kostenfreie Verpflegung.
Zwar sagte mir der Name des Ortes nichts, doch eine Karte war beigefügt.
Schnell zeichnete ich sie ab. Dann wand ich mich an Breeg und Lynx.
„Belohnung klingt gut. Gehen wir zu diesem Ort?“, fragte ich sie.
Lynx schien von der Idee ganz begeistert zu sein.
Breeg blieb stumm, doch er folgte uns dennoch.

Wir verließen die Insel-Region und kamen bald am Festland an.
Dort stiegen wir aus dem Boot und Breeg verließ uns.
Er sagte kein Wort. Er war schon seit Längerem so schweigsam gewesen.
Ich machte mir zwar Sorgen, doch ich wollte nicht nachfragen.
Immerhin war es sein gutes Recht, seinen eigenen Weg zu gehen.
Mir musste niemand folgen, wenn er nicht wollte.

Lynx und ich reisten also zu zweit weiter. Wir wollten den Ort finden.
Und wir fanden den Ort.
Auf einem sehr breiten Weg trafen wir auch unzählige Personen verschiedenster Art und Gattung.
Neben Menschen sah ich auch ein paar Tierwesen. Vermutlich waren unter den Personen auch Elfen.
Hatten sie alle das gleiche Ziel im Sinn?
Wollte jeder von ihnen „Die schwarze Hand“ bekämpfen, um das Gold, den Adelstitel und das Essen zu bekommen?
Es schien ganz so.

Ich fragte mich, wie viele dieser Aushänge es wohl gegeben hatte und wer sich die Arbeit gemacht hatte, all diese Aushänge aufzuhängen.
War diese Gruppierung, die „Die schwarze Hand“ genannt wurde etwa so mächtig?

„Brauche ich nicht Adelstitel.“, erklärte ich Lynx. „Reicht Gold schon.“
„Die Frage ist, ob jeder oder nur einer das alles bekommt, was als Belohnung ausgeschrieben ist.“, gab Lynx zu Bedenken.
Ich nickte. Sie hatte Recht.
Was, wenn es nur einem überreicht wurde?
Vielleicht dem, der die meisten tötete?
Dann würde ich mich anstrengen müssen.

Wir folgten der großen Personen-Gruppe auf ein großes Gelände, auf dem mehrere Hütten und auch Zelte standen.
Wir blieben ganz hinten. Die Fremden waren mir nicht geheuer. Es war nicht klug, ihnen den Rücken zuzudrehen.

„Ah. Sind hier Zelte. Dauert länger, schwarze Hand zu besiegen?“, überlegte ich laut und blickte Lynx fragend an.
Waren die Zelte leer oder hätten wir selbst für eine Übernachtungsmöglichkeit sorgen müssen?
Wir beschlossen, uns die Zelte genauer anzusehen.
„Wenn wir leeres Zelt finden, nehmen wir, da?“
„Ja. Ich hoffe, dass es hier noch ein freies Zelt gibt.“

„Hey, ich kenne euch doch.“. Ein Mann in grüner Kleidung hielt uns auf. Direkt neben ihm stand eine hübsche Frau.
Sie kamen mir bekannt vor, aber mir wollte nicht einfallen, woher.
„Hallo.“, begrüßte ich sie dennoch.
Lynx tat es mir gleich.
„Wie geht es Eurem Begleiter?“, fragte die Frau sofort.
„Begleiter?“, wiederholte ich verwirrt. Wen meinte sie denn?
„Breeg.“, erwiderte Lynx. „Es scheint ihm besser zu gehen. Zumindest etwas. Er wirkt noch immer sehr… verwirrt zu sein.“
Dann fiel es mir ein.
Melekahrt.
Auf dieser Insel hatten wir sie getroffen. Der Mann war zu uns gekommen, als wir mit Luzius verhandelt hatten.
Luzius.
Bis heute war ich mir nicht sicher, was ich von diesem Mann halten sollte.
„Weiß ich eure Namen gar nicht.“, gab ich zu. Hatten wir uns überhaupt einander vorgestellt?
„Ich bin Marek und das ist Amalia.“, stellte er uns vor. „Und du bist Anastasya, richtig?“
Ich nickte. Wieso kannte er meinen Namen?
Mir gefiel es nicht, wenn so viele Menschen meinen Namen einfach so kannten.
Wir sprachen noch kurz mit ihnen.
„Wir sehen uns dann.“
Und so gingen wir wieder getrennte Wege.

Auf dem Weg hielt uns ein seltsames Wesen auf.
Allem Anschein nach ein Tierwesen.
Es hatte Hörner, braunes Fell und sogar Hufe.
Es sah aber nicht wirklich aus wie ein Reh oder Hirsch.
Und genau wie die Katzenwesen, denen ich schon begegnet war, lief es auf zwei Beinen.

Er stellte sich uns als ‚Faun‘ vor.
Das war kein mir bekanntes Tier, aber ich nahm es so hin.
Faun also.
Die Stimme klang männlich, also ging ich davon aus, dass es ein Mann war.
Er wand sich an Lynx.
„Was ist mit deinem Auge geschehen?“, fragte er.
Lynx zögerte.
„Es wurde mir heraus gedrückt.“, antwortete sie und blickte zu Boden.
Keine besonders schöne Erinnerung.
„Ich kann es wieder heil machen.“, erklärte der Faun. „Natürlich nur, wenn du das möchtest.“
Lynx dachte darüber nach.
War der Faun wirklich dazu in der Lage?
Ich hoffte nur, dass er nichts Böses im Schilde führte.
„Ich werde eine Nacht darüber schlafen. Dann melde ich mich noch einmal. Habt Dank.“, antwortete Lynx schließlich.
Der Faun nickte und verschwand in Richtung Taverne.

 

Am Rande der Wiese, direkt unter ein paar Eichen standen drei Zelte. Die Eingänge waren einander zugewandt.
Alle schienen leer zu sein.
Wir entschieden uns für das erste dieser Zelte.
Ich legte meinen Bogen und den Köcher ab.
In der ganzen Zeit ohne Bogen und Köcher hatte ich mich schon fast an die Leichtigkeit gewöhnt.
Es war seltsam, sie jetzt wieder bei mir zu haben.
Der Gedanke machte mich traurig.
Hatte ich mich so verändert?
War ich am Ende vielleicht gar keine Jägerin mehr?

Es dauerte nicht lange, bis es unter den angereisten Personen zu Aufruhr kam.
Eine weibliche Stimme zeterte und schien ziemlich aufgebracht zu sein.
Vorsichtig näherten wir uns dem Geschehen.
Die meisten der Anwesenden hatten sich schon nah um die zwei Wesen versammelt, die sich dort stritten.
Wesen? Es waren auf jeden Fall keine Menschen.
Das Wesen, von dem die weibliche Stimme ausging, zeterte und wütete immer lauter bis plötzlich ein Blitz vom Himmel hinab kam und das andere, am Boden liegende Wesen traf.
Dann verschwand das weibliche Wesen plötzlich.

Ich blickte zum Himmel.
Thor?
Das musste Thors Werk gewesen sein.
Doch wie hatte dieses Wesen es geschafft, Thor einen Befehl zu erteilen?
Das war doch undenkbar…

Ich nahm Abstand von dem Geschehen, denn ich traute der Sache nicht.
Außerdem wurde ich von den anderen Personen äußerst misstrauisch gemustert.
Sie taten so, als würde ich sie gleich von hinten abstechen.
Das war aber nicht meine Art.
Wieso sollte ich auch?

Von Weitem erblickte ich plötzlich eine bekannte Gestalt.
Ich blinzelte.
Das konnte doch nicht sein?
Doch als ich erneut hinsah, war es der gleiche Gedanke.
Breeg.
Es war Breeg.
Wie war er uns hierher gefolgt?
Wieso war er nicht sofort mit uns gereist?

Wie schon seit Längerem wirkte er äußerst unruhig.
Er lief etwas abseits, lief im Kreis, schien so, als wüsste er nichts mit sich anzufangen.

„Da ist Breeg.“, teilte ich Lynx mit. Sie nickte. Scheinbar hatte sie ihn auch schon bemerkt.
Gemeinsam liefen wir auf ihn zu.
Doch wieder einmal verhielt er sich seltsam.
Er sprach nicht wirklich mit uns und schien irgendwas verheimlichen zu wollen.
Vielleicht fühlte er sich auch einfach fehl am Platze.
Irgendwie wirkte es so, als wüsste er nichts mit sich anzufangen.

Als sich die meisten der Personen wieder einigermaßen beruhigt hatten, stellten wir fest, dass auch das angegriffene Wesen verschwunden war. Lediglich etwas Blut bedeckte noch den Boden.

Doch die Ruhe hielt nicht lange an.
Eine große Gruppe bewaffneter Männer versammelte sich auf einmal auf der Wiese.
Sofort veränderte sich die allgemeine Stimmung.
Irgendwie konnte man die Anspannung schon beinahe in der Luft schmecken.
Es war seltsam.
War das etwa die schwarze Hand?

„Wir geben Euch vierundzwanzig Stunden Zeit, diesen Ort zu verlassen. Seid ihr dann nicht weg, töten wir euch.“
Mit diesen Worten zog die Truppe wieder ab.

Verwirrt blickte ich zu Lynx.
„Sind wir gerade erst angekommen, wollen sie, dass wir wieder gehen.“
Wir trafen auf Marek und Amalia.
„Erinnert an Dämmerungsalben.“, überlegte ich laut.
Sowohl Lynx als auch Marek und Amalia stimmten mir zu.
Was sollten wir nun also tun?
Der Besitzer dieser Lande bot uns eine gute Belohnung.
Meine Entscheidung stand also eigentlich bereits fest.
Ich würde gegen diese schwarze Hand kämpfen.
Ich wollte das Gold erhalten.
Und ich würde mich nach der langen Reise nicht mitten in der Nacht fortjagen lassen.
Nicht von solchen Leuten.

Ein Mann kam auf uns zu. Er trug sehr viel Fell an seinem Körper und es wirkte nicht so, als würde er uns etwas Böses wollen.
Er schien eher freundlich.
„Grüße“
„Hallo“
„Mein Name ist Hobbes und wer seid ihr?“
„Ich bin Anastasya.“
„Mein Name ist Lynx.“
Er lächelte leicht und ich tat es ihm gleich.
„Ihr seht aus, als würdet ihr auch aus dem Norden kommen.“
Wir beide nickten.
„Ich komme aus Falkenhain. Ist in Nord-Osten.“, erklärte ich ihm.
Er schien zu überlegen, ob er diesen Ort kannte, doch er schüttelte den Kopf.
Es hätte mich auch sehr erstaunt, wenn ihm Falkenhain ein Begriff gewesen wäre.
Er wirkte eher so, als würde er aus dem direkten Norden kommen.
Dorther, wo auch Lynx und Rhea her stammten.

„Wir sollen also die schwarze Hand finden. Das habt ihr auch mitbekommen, oder?“, fragte Hobbes uns.
Lynx und ich nickten.
„Sollten wir aber nicht warten, bis sie uns töten, eh?“, gab ich zu Bedenken. Diese vierundzwanzig Stunden abwarten, war kein besonders kluger Plan.
War es nicht besser, ihnen zuvor zu kommen?
Eigentlich schon.
„Hm. Wir könnten ja gemeinsam versuchen, sie zu finden, bevor sie kommen um uns zu töten.“, schlug Hobbes vor.
Damit waren wir beide einverstanden.
„Ich versuche, noch ein paar andere Personen dazu zu holen.“, erklärte Hobbes und verabschiedete sich damit von uns.

Mir fiel eine Frau auf, die an uns vorbei lief.
Sie trug einen roten Mantel und schien weder Waffe, noch Begleitung zu haben.
Und das, obwohl die schwarze Hand doch vorhin noch an uns vorbei gelaufen war.
War es nicht ein wenig gefährlich, hier alleine herum zu laufen?
Ich beschloss, der Frau zu folgen.
Sie bemerkte bald, dass ich ihr hinterher lief.
So beschleunigte sie ihren Schritt. Doch ich ließ sie nicht aus den Augen.
Sie lief zu einem breiten Fluss, an dem eine kleine Bootsanlegestelle war.
„Hey!“, rief ich ihr hinterher.
„Was wollt Ihr von mir? Wieso lauft Ihr mir nach?“, fragte sie mich, blieb stehen und drehte sich um.
Sie hatte ein sehr hübsches Gesicht. Das erkannte ich trotz der Dunkelheit.
„Wer seid Ihr?“, fragte ich sie.
„Morokk.“, erwiderte sie.
Ein seltsamer Name. Vor allem für eine Frau.
Aber ich wollte niemanden wegen seines Namens verurteilen.
„Was machst du hier? Warum hast du keine Waffe, um dich zu verteidigen?“, fragte ich sie.
Sie zog wortlos einen Dolch hervor.
Sah sie das etwa als Waffe an?
Das war doch nur ein… Dolch.
Doch noch während ich das dachte, fiel mir ein, wie viel Schmerz Kirren mit seinem Dolch hatte verursachen können. Also sagte ich nichts dazu.
Zu meiner ersten Frage äußerte sie sich nicht.

„Ihr müsst vorsichtig sein.“, riet ich ihr.
„Warum? Es ist doch sowieso schon alles verloren…“, erwiderte sie.
„Wieso ist alles verloren?“, fragte ich sofort nach. Was meinte sie nur?
„Meine Familie ist tot. Ich habe niemanden mehr.“, sprach sie beinahe tonlos.
„Oh.“
Mir fiel nichts Besseres ein.
Was antwortete man auf so eine Aussage?
„Kommt mit mir. Ich kann Euch beschützen.“, schlug ich ihr vor.
Auch Lynx gesellte sich zu uns.
„Ich auch.“, fügte Lynx hinzu und ich nickte.

Bald trafen wir auf ein weiteres bekanntes Gesicht – Ares.
Ich hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen, doch als ich ihn erblickte, brannte eine ganz andere Frage auf meiner Seele.
„Ares. Wo ist Rhea?“, fragte ich deshalb sofort.
Ich hatte sie wirklich lange nicht mehr gesehen.
Und das bereitete mir Sorgen.
„Ich weiß nicht.“, erwiderte er nur.
Es ließ ihn kalt.
„Du weißt nicht?!“, wiederholte ich fassungslos. „Warum weißt du nicht?“
„Ich habe sie vor ein paar Tagen zuletzt gesehen… Keine Ahnung, wo sie jetzt ist.“
Ich konnte es kaum glauben…

Ares wand sich zu Lynx und Morokk.
„Wollen wir zur Taverne, etwas trinken?“, fragte er uns.
Die beiden stimmten zu.
Ich schüttelte allerdings den Kopf.
„Ich muss Rune neu machen und aufladen.“, erklärte ich und seufzte. „Dagaz…“

Damit ging ich ins Zelt und schnappte mir alles, was ich dafür benötigte: Eine Kerze, Räucherwerk und etwas Meersalz. Das Quellwasser würde ich am Fluss vorfinden.
Also lief ich los.
Am Flussbett fand ich ein paar passende Schiefersteine und suchte mir den kleinsten von ihnen aus.
Mit einem anderen, spitzen Stein ritzte ich die Rune „Dagaz“ in den Schieferstein.
Irgendwie fühlte es sich seltsam an. Fast so, als würde ich einen Fehler begehen.
Dabei war Dagaz an sich doch gar keine bösartige Rune.

Ich stellte die brennende Kerze unter das Räucherwerk und nahm die Rune in meine Hand.
Kurz hob ich den Kopf.
Und erstarrte.
Ich wollte meinen Augen nicht trauen.
Es lief eiskalt meinen Rücken hinab und zuerst konnte ich mich nicht rühren.
Dann aber durchflutete mich ein Strudel von Gefühlen – Furcht, Wut, Hass.
Ich sprang auf, trat einen Schritt rückwärts. Dann den nächsten. Und den nächsten.
Ich zog meine Waffen.
Mein Herz schlug so stark, dass ich fast nichts anderes hören konnte.
Kirren.
Er stand dort… Nur ein paar Schritte entfernt.
Wieso war er hier?
Wieso hatte ich ihn nicht schon längst getötet?

Kirren griff nach seinem Schwert.
Ich umklammerte meine Axt fester.
Doch dann ließ er sein Schwert einfach fallen.
Wieso?
Wieso ließ er es fallen?
Nein.
Ich werde ihn nicht noch einmal entkommen lassen.
„Was willst du?!“, schrie ich ihn an. „Was hast du mir angetan?“
Ich rannte auf ihn zu, wollte mich auf ihn stürzen, wollte ihn zu Boden werfen.
Doch es gelang mir nicht.
Ich rannte gegen ihn.
Und er rührte sich nicht.

Schnell sprang ich wieder zurück.
‚Warum hast du ihn nicht getötet?‘, fragte ich mich.
Ich konnte mir die Frage nicht beantworten.
Ich wusste es nicht.
Irgendwie ging es nicht.
Ich wollte noch zu viel wissen.
Ich wollte wissen, warum er das getan hatte.
Ich wollte wissen, ob er wirklich besessen oder einfach nur abgrundtief böse war.
Ich wollte alles wissen.
Und wenn ich ihn getötet hätte, hätte ich es nicht erfahren.

„Kann man Unfassbares begreifen?“, fragte er auf einmal.
Die Frage verwirrte mich. Es kam so unerwartet.
Er kam auf mich zu.
Ich lief rückwärts, lief im Kreis.
Wir blieben immer im gleichen Abstand zueinander.
Ich wusste nicht, was passieren würde, wenn er näher kam.
Ich wollte es gar nicht herausfinden.

Auf einmal hörte ich eine Stimme.
„Anastasya, ist alles in Ordnung?“.
Ich warf einen schnellen Blick in die Richtung, aus der die Stimme kam.
Hobbes.
„Njet.“, erwiderte ich, wusste aber nicht so recht, ob mir überhaupt jemand helfen konnte.
Kirren wirkte irgendwie… seltsam.
Ich fürchtete mich vor ihm, aber er wirkte nicht so, als würde er mich sofort töten wollen.
‚Vielleicht noch nicht‘ , ging es mir durch den Kopf.
Ich musste auf jeden Fall vorsichtig sein.

„Unfassbares…?“, wiederholte ich unsicher, um an seine Frage anzuknüpfen.
Ich verstand nicht ganz, was er von mir wollte.

„Anastasya!“. Lynx kam auf uns zu.
Sie hielt sich in gebührendem Abstand von Kirren.
Sie erkannte die Gefahr.
Ich dachte über Kirrens Frage nach.
Kann man Unfassbares begreifen?
Was war überhaupt unfassbar?
„Kann nicht ‚unfassbar‘ sein, wenn du begreifen kannst.“, erwiderte ich leise.
Das war die Antwort, die mir am Sinnvollsten erschien.
Der Kreis, den wir liefen, verschob sich etwas.
Ich musste aufpassen, nicht über die Holzstämme zu stolpern, die am Boden lagen.
Es war seltsam.
Ich wollte nicht, dass Kirren weiterzog.
Ich wollte nicht, dass er noch mehr Menschen etwas Schlimmes antun konnte.
Und doch wünschte ich mir, dass er mich in Ruhe ließ.
Ich wollte, dass diese Angst und diese Schmerzen verschwanden.
Doch jetzt und hier, wo er beinahe greifbar nah war, spürte ich das alles wieder ganz genau.

Es war fast, als wäre ich wieder in diesem Wald.
Ich lief weiterhin rückwärts, weiterhin im Kreis, aber ich blendete alles aus.
Der Wald.
Bis heute hatte ich nicht verstanden, wieso.
Ich hatte Kirren nichts getan.
Doch er schien da ganz anderer Meinung zu sein.

Ich blinzelte und warf einen kurzen Blick zu Lynx.
Ares stand auch dort.
Lynx hatte ihr Schwert in der Hand, doch sie wartete.
Worauf?
Ich wusste es nicht.
Nicht einmal ich hatte es geschafft, Kirren zu töten.
Doch ich hatte die Möglichkeit.
Ich hätte ihn töten können.

Dann sah ich Breeg.
Breeg stand an der Seite, am Abhang, nahe den Bäumen.
Er hatte einen Pfeil aufgespannt.
Keine besonders gute Idee.
Ich hatte Angst, dass er mich treffen würde, immerhin waren wir die ganze Zeit in Bewegung.
Ich wusste nicht, wie oft wir diesen Kreis nun wiederholt hatten.
Doch ich fürchtete mich davor, stehenzubleiben.
Also lief ich einfach weiter rückwärts.

Auf einmal erkannte ich aus dem Augenwinkel eine weitere Person.
Es war Morokk.
Sie starrte zu uns herüber.
Zu uns?
Irgendwas stimmt hier nicht.
Ich hatte ein komisches Gefühl.
Was? Was übersehe ich?
Dann fiel es mir auf: Sie starrte nicht uns an, sondern ihn.
Ich blieb stehen.

„Warum? Es ist doch sowieso schon alles verloren…“, erwiderte sie.
„Wieso ist alles verloren?“, fragte ich sofort nach. Was meinte sie nur?
„Meine Familie ist tot. Ich habe niemanden mehr.“, sprach sie beinahe tonlos.

Iesena.
Es fiel mir ein, als es schon zu spät war.
Kirren war schon los gelaufen.
„Haltet ihn auf! Das ist Schwester von ihm!“, rief ich.
Ich konnte es kaum fassen.
Morokk.
Sie hatte sich doch mit ‚Morokk‘ vorgestellt.

Lynx, Ares und Breeg hatten Kirren aufgehalten. Er war nun am Boden und ich fesselte ihn mit einem meiner Taue.
Ich wollte nicht, dass er seiner Schwester etwas Schlimmes antun würde.
Mir kam der Moment in den Sinn, an dem er ihren Namen ausgesprochen hatte.
Damals, im Wald.
Und danach war er noch viel schlimmer geworden.
Danach war er noch viel böser geworden.
Er durfte dieser Frau nichts tun.

Die Frau, Iesena, wirkte ängstlich.
Sie war ein paar Schritte zurückgetreten.
Doch jetzt, wo er gefesselt war, kam sie langsam näher.

„Warum hast du unsere Familie getötet?“, fragte sie vorwurfsvoll. Man konnte spüren, dass ihr Schmerz sehr tief saß. Ihre Stimme zitterte beim Sprechen.
„Ich musste sie töten.“, erwiderte er. Er senkte den Blick etwas. Irgendwie wirkte er beinahe verzweifelt.
Ich konnte nicht wirklich glauben, was ich sah.
War das wirklich Kirren?
„Ich hätte… auch dich töten müssen, Iesena. Aber ich konnte nicht.“, setzte er fort.
Ich starrte zwischen den beiden hin und her.
Was?
Er konnte nicht?
Ich konzentrierte mich darauf, die Fesseln weiterhin festzuhalten.
Zwar war der Knoten fest, doch ich hatte Angst, dass er ihn trotzdem irgendwie lösen konnte.
Denn dann hatte nicht nur Iesena ein Problem, sondern wir alle.
„Es tut mir Leid, Iesena.“
Was?
Es tat ihm Leid?
Kirren?
Kirren tat es Leid?
Ich konnte es einfach nicht glauben.
Träumte ich noch?
War es eine dieser Visionen?
Oder einer dieser Albträume?

„Lösen wir ihm die Fesseln?“, fragte Lynx.
Ich sah zu Iesena.
„Ist ihre Entscheidung.“, erwiderte ich.
‚Bitte nicht.‘, dachte ich.
Iesena zögerte kurz.
„Löst die Fesseln.“, entschied sie dann.
Gegen meinen Willen ließ ich die Fesseln los und Jemand zerschnitt sie.

Ich ging ein paar Schritte zurück, denn das war immer noch Kirren.
Ein paar Worte von ihm würden mich nicht dazu bringen, anders über ihn zu denken.

Iesena kam noch etwas näher zu ihm.
„Du hast die freie Wahl.“, begann er.
Dann hielt er sich den Dolch mit der Klinge an die Kehle und sah sie auffordernd an.
Sie konnte also zustechen oder den Dolch wegnehmen.
Das meinte er also mit freier Wahl.

Iesena schritt auf ihn zu und griff nach dem Dolch.
Ich wusste nicht, was ich erwarten sollte.
Würde sie ihn wirklich töten?
Nein.
Sie nahm den Dolch weg.
Kirren erhob sich.
„Iesena, lass uns nochmal von vorne anfangen.“
Sie umarmten sich.

Ich starrte sie an.
Das konnte doch nie im Leben Kirren sein.

Sie liefen an uns vorbei.
Es wirkte ganz so, als hätte diese Szene jeden einzelnen von uns verwirrt.
Zuerst rührte sich niemand.
Dann, ganz langsam, erwachten alle aus ihrer Schockstarre.

„War nicht Kirren!“, murmelte ich unsicher. „Kann nicht Kirren gewesen sein!“
Ich konnte es einfach nicht glauben.
Kirren war doch nicht nett.
Kirren entschuldigte sich nicht.

Ich sah zu Breeg.
Er schien gleicher Meinung zu sein.
Auch er ging davon aus, dass das nicht Kirren gewesen sein konnte.
„Lass uns schauen.“, schlug ich vor.
Breeg und ich liefen in die Richtung, in die die beiden gegangen waren.
Liefen weiter und weiter, bis wir auf einen großen, breiten Weg kamen.
Es war der Weg, über den wir zu diesem Ort gereist waren.
Aber sie waren schon weg; wir sahen die beiden nicht mehr.

Also liefen wir zurück ins Zelt.
Ich wollte endlich aus diesem seltsamen Traum aufwachen.
Also legte ich meinen Mantel ins Zelt und rollte mich darin ein.

~ ~ ~ ~

Ich erwachte aus meinem Albtraum.
Blinzelnd schlug ich die Augen auf und erwartete, in der Hütte auf der Insel zu liegen.
Fehlanzeige.
Ich befand mich in einem Zelt.
Breeg und Lynx waren auch hier.
Es war also kein Traum gewesen.
Kirren.
Er war gestern wirklich hier gewesen und ich hatte es nicht geschafft, ihn zu töten.
Ich hatte ihn sogar einfach gehen lassen.
Kopfschüttelnd erhob ich mich, nahm Axt und Schwert wieder an mich und verließ das Zelt.

Als ich in der angenehm kühlen Luft des Morgens stand, erblickte ich ein weiteres bekanntes Gesicht.
Tahn.
Er stand nur wenige Schritte entfernt von mir.
„Tahn?!“, fragte ich ungläubig.
„Ah! Anastasya.“, erwiderte er.
Ich grinste etwas. Das mit dem Namen funktionierte ja immer besser.
„Was machst du denn hier?“, fragte ich ihn.
Er sah sich kurz um.
„Ich kam von da.“, antwortete er und zeigte in eine Richtung.
Das tat er immer.
Ob er wirklich wusste, wo er herkam?
„Mh.“, erwiderte ich. „Brauchst du Zelt zum Schlafen? Das müsste frei sein.“
Ich zeigte auf das Zelt, das unserem direkt gegenüber stand.

Lynx und Breeg kamen auch aus dem Zelt und begrüßten Tahn.
Wir gingen gemeinsam in die Taverne, in der Hoffnung, dort etwas zu essen zu bekommen.

Es hieß zwar, dass es kostenloses Essen erst dann geben würde, wenn die schwarze Hand besiegt wurde, doch das stimmte nicht.
Wir durften auch jetzt schon kostenlos essen.
Ich wollte allerdings gar nicht herausfinden, was dieser Baron des Landes mit uns machen würde, wenn wir die schwarze Hand doch nicht besiegen würden.

Nach dem Essen verließen wir die Taverne wieder.
Ich warf einen Blick in den Himmel.
Die Sonne war zu sehen, doch unzählige dunkle Wolken schoben sich zwischendurch vor sie.
Es sah nach Regen aus.

Ich lief wieder in Richtung Zelt und sah mich ein wenig um.
Direkt auf der anderen Seite der Wiese stand das Zelt, in dem Hobbes wohl übernachtet hatte.
Er saß mit einer weiteren Person und ein paar Kindern an einem kleinen Tisch.

Auf einmal kam eine weitere bekannte Person auf Lynx und mich zu.
Eine Person, die wir schon vermisst hatten.
Rhea.
Ich traute meinen Augen kaum.
„Rhea!“, rief ich ihr entgegen und umarmte sie.
Ich freute mich, denn ich hatte mir schon Sorgen um sie gemacht.
„Habt ihr Ares gesehen?“, fragte sie uns sofort.
Ich wusste nicht recht, ob sie wütend oder besorgt war.
Vielleicht sogar beides.
Ich nickte.
„Da. Habe ihn gesehen. Er ist hier. Kannst du bei Zelt schauen, vielleicht ist er da.“, erklärte ich ihr und zeigte in die Richtung der drei Zelte.
Soweit ich das richtig mitbekommen hatte, hatte er die Nacht in dem Zelt rechts von unserem verbracht.

„Was geht hier überhaupt vor sich?“, fragte sie.
Lynx und ich erzählten ihr knapp von den Plänen des Grafen und von den Drohungen der schwarzen Hand.
„Kirren war hier.“, sagte ich dann.
Obwohl ich gar nicht so recht glauben konnte, was ich da sagte, tat ich es.
Sie musste es wissen.
Zumindest jemand, der so aussah wie Kirren.
Vielleicht hatte er ja einen Zwillingsbruder.
Unsinn.
„Kirren?“, fragte sie und wirkte schockiert.
Natürlich.
Auch ihr hatte er Schlimmes angetan.
„Da. Er hat Schwester gefunden.“
„Iesena?“, fragte Rhea.
Ich nickte.
„Und dann?“
„Sie wollten neu anfangen. Haben sie gesagt.“, erwiderte ich.
Ich glaubte selbst nicht, was ich da sagte.
Auch Rhea schien verwirrt zu sein.

Das Gerücht ging um, dass die schwarze Hand nicht einfach so zu besiegen war.
Lynx berichtete uns, dass gestern Abend noch eine Besprechung stattgefunden hatte, in der herausgefunden wurde, dass die schwarze Hand nur in der Vergangenheit besiegt werden kann.
Ich blickte sie verwirrt an.
„Hast du zu viel Metka getrunken? Vergangenheit? Wie sollen wir machen?“, fragte ich sie.
Das konnte sie doch nicht ernst meinen.
Wollte sie mich zum Narren halten?

„Ich weiß nicht, sie müssen etwas um schmieden und brauchen dafür Stücke von verschiedenen Elementen. Ich glaube es waren die Elemente Holz, Wasser, Metall, Feuer, Zeit und Erde.“, setzte sie ihre Erklärung fort.
Es half mir nicht besonders dabei, meine Verwirrung zu beseitigen.

Auf einmal sahen wir, wie sich die meisten Leute in der Nähe des Flussufers sammelten.
Wir beschlossen, ebenfalls dorthin zu gehen, um zu schauen, was dort los war.

Diese beiden Wesen, die wir schon gestern gesehen hatten, waren wieder einmal aufgetaucht.
Das dunklere Wesen saß verletzt an einen Baumstumpf gelehnt.
Blut trat aus diesem Körper aus und verteilte sich auf dem Gras.
Es dauerte nicht lange, bis beide Wesen auf einmal verschwanden.

Einige der Personen begannen sofort, die Umgebung nach etwas abzusuchen.
Ich sah ihnen verwirrt zu.
Was taten sie nur da?
Wegen ein bisschen Blut machten sie so einen Aufstand?
Ein blondhaariger Mann schien diesen Aufruhr auch nicht zu verstehen.
„Ah. Wenn ich also Blut gebe kommen auch alle zu mir?“, fragte ich laut und lachte etwas.
Der Mann lachte ebenfalls.
Ich verstand diese Leute nicht.

„Wir haben ein Element gefunden.“, sprach irgendjemand.
Ein Element?
Hatte Lynx also Recht behalten?
Oder hatte auch diese Person zu viel Metka getrunken?
Wie konnte man überhaupt ein Element finden?
Elemente waren doch nichts, was man verstecken und finden konnte?

Als ich wieder in Richtung Taverne laufen wollte, kam mir Lynx entgegen.
Doch irgendetwas war anders an ihr.
Ich brauchte einen Augenblick, dann fiel es mir ein.
Das Auge!
Es sah ganz so aus, als habe sie wieder beide Augen.
Der Faun hatte also Recht behalten?
Er hatte es geschafft, ihr das Auge wieder zu geben?
„Oh! Ist Auge wieder da?“, fragte ich.
„Ja!“, erwiderte sie glücklich.
Ich freute mich für sie.
Das würde ihr Leben wieder einfacher machen.
Dieser Faun musste ein wirklich mächtiger Magier sein.

Plötzlich tauchten Fremde auf.
Leute, die ich hier vorher noch nicht gesehen hatte.

Und doch kamen mir manche bekannt vor.
Als sie auf uns zu rannten, wurde es mir klar.
Die schwarze Hand.
Ich blickte in den Himmel.
Es war noch nicht vierundzwanzig Stunden her, also hatten sie gelogen.
Damit war klar, dass man mit ihnen wohl kaum reden konnte.

Schnell nahm ich Axt und Schwert aus der Halterung und kämpfte.
An meiner Seite war Lynx, die ebenfalls kämpfe, doch es waren sehr viele Gegner.
Sie waren von mehreren Seiten aufgetaucht und schafften es nun, die Gruppe voneinander zu trennen.

Den Mann, der die größte Gefahr für uns darstellen sollte, sah ich erst, als es zu spät war.
Er hatte einen riesengroßen Hammer und war von kräftiger Gestalt.
Ich wusste, dass es keinen Zweck hatte, zu versuchen, den Hammer zu blocken, also schlug ich mit beiden Waffen am Hammer vorbei, um dem Mann zumindest ein paar Wunden zuzufügen.
Dann kam der Schlag.
Ich wusste, dass er mich treffen würde und doch traf mich der Schlag so unvorbereitet.
Er schleuderte mich zurück und versetzte meinen Körper in fließende Schmerzen.
Ich schrie und spürte ein lautes Knacken.
Kein besonders gutes Zeichen.
Ich kam am Boden an und blieb einfach liegen.
Zum Glück hatte sich der Mann derweil ein anderes Opfer gesucht.

Ich spürte nur zwei Dinge: Den Schmerz und den Herzschlag, der sich bis in meine Ohren ausgebreitet hatte.
Die Sicht verschwamm vor meinen Augen und ich musste mich anstrengen, die Augen nicht einfach zu schließen.
Dabei wollte mein Körper es so unbedingt.
Einfach die Augen schließen und schlafen.
Doch ich wusste, dass ich dann vielleicht nicht wieder aufwachen würde.

„Hey!“. Eine fremde Stimme.
Ich blinzelte und blickte in ein ebenso fremdes Gesicht.
Seine Haut war sehr bleich und er hatte langes, braunes Haar.
Dann fiel mir auf, dass er überall Knochen trug.
Knochen?
Was war das nur für ein Mann?
Wollte er mich töten?
Gehörte er auch zur schwarzen Hand?

Er kniete sich zu mir herunter.
Doch er tötete mich nicht, verletzte mich nicht einmal.
Ganz im Gegenteil.
Er sprach Worte, die mir fremd waren und hielt seine Hand und den Stab, den er trug, über mich.
Genau über die Stelle, die vorhin so geknackt hatte.
Dort, wo die Rippen waren.
Und als er fertig war, erhob er sich wieder.
Ich erkannte, dass auch an dem Stab ein paar Knochen und sogar ein Schädel angebracht waren.

Und irgendwie ging es mir besser.
Der Mann hatte geholfen.
Langsam erhob ich mich.
„Schont Euch erst einmal.“, riet er mir.
„Habt Dank.“, erwiderte ich.
Es war faszinierend.
Wieso hatte er mir geholfen, obwohl er mich gar nicht kannte.
Als ich mich umsah, stellte ich fest, dass noch mehr dieser Personen hier waren.
Noch mehr Personen, die ein bleiches Gesicht hatten und deren Kleidung mit vielen Knochen verziert war.

Doch auch die schwarze Hand war noch hier.
Der Mann verschwand so schnell, wie er zu mir gekommen war wieder im Hintergrund.
‚Danke, Knochenpriester.‘, dachte ich, obwohl ich gar nicht wusste, ob er wirklich ein Priester war.

Die Kämpfer der schwarzen Hand kamen wieder auf mich zu.
Diesmal war es nicht der Große mit dem Hammer, sondern zwei eher jünger wirkende Männer.
Sie grinsten einander an und liefen dann mit gezogenen Waffen auf mich zu.
Zwei gegen Einen. Ich wusste nicht, wie gut das funktionieren würde.
Vor allem, weil ich mich ja eigentlich noch schonen sollte.

Sie holten aus, ich traf den Braunhaarigen und der Blonde traf dafür mein Bein.
Der Schmerz zog sich einmal durch meinen gesamten Körper.
Stechend.
Dann ging ich zu Boden.
Trotzdem holte ich noch einmal aus und traf dafür den Blonden.
Sie gaben sich damit nicht zufrieden und trafen mich noch einmal am rechten Arm.
Ich ließ mein Schwert fallen.
Das warme Blut entwich aus meinem Körper und ich spürte die schwindenden Lebenskräfte.

Ich wunderte mich, warum die Knochenpriester nicht mitkämpften?
Waren sie nur hier, um die Verletzten zu heilen?
Warum konnten sie mir nicht helfen?

Zum Glück fanden die beiden Männer bald ein neues Ziel und ließen von mir ab.
Immerhin hatte ich sie ein bisschen verletzt.
Vielleicht würde ihnen Jemand anderes hier den Rest geben können.

Der gleiche Knochenpriester kam auf mich zu und kümmerte sich wieder um mich.
Er wirkte etwas vorwurfsvoll.
Doch wenn die Feinde direkt auf mich zukamen, was sollte ich tun?
Nicht kämpfen?
Eher die schlechtere Wahl.

„Habt Dank.“, bedankte ich mich, als es wieder etwas besser ging.
Ich blieb dennoch sitzen, denn die schwarze Hand war verschwunden.
Sie hatten sich zurückgezogen.
Doch es fühlte sich nicht wie ein Sieg an.
Vermutlich würden sie bald wiederkommen.

Ich sah mich etwas um und erkannte, dass auch Lynx, Breeg und Tahn verletzt worden waren.
Rhea und Ares sah ich nicht, also hoffte ich einfach, dass sie unverletzt und in Sicherheit waren.
Ich fragte mich, warum die Angreifer dieser schwarzen Hand ihr Wort nicht gehalten hatten.
Doch warum wunderte ich mich überhaupt?
Ich hatte schon so viele Menschen kennengelernt, die mir ihr Wort gegeben hatten und es nicht gehalten hatten.
Was war so ein Wort überhaupt wert?
Scheinbar nicht besonders viel.
Es war nach wie vor nur ein Wort. Nicht mehr als das.

Als es mir wieder etwas besser ging, lief ich zu Tahn, Breeg und Lynx.
Es ging ihnen schon besser, aber auch sie waren verletzt worden.

Der Knochenpriester, der mir geholfen hatte, lief an mir vorbei.
Ich war neugierig, also ging ich auf ihn zu.
„Hallo.“, begrüßte ich ihn.
„Hallo.“, erwiderte er.
„Warum habt Ihr mir geholfen?“, fragte ich ihn direkt.
Warum sollte ich auch um den heißen Brei herum reden?
„Warum nicht?“, gab er zurück.
Keine besonders zufriedenstellende Antwort.
„Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mal bei unserem Tempel vorbeischauen.“, fügte er dann noch hinzu.
„Tempel?“, fragte ich neugierig.
Es kam noch ein anderer Knochenpriester hinzu.
Sie sprachen über ihre Gottheit und es faszinierte mich.
Ich wusste zwar, dass es am Ende immer Odin war, über den geredet wurde, doch sie hatten eine interessante Ansicht.
Und nun verstand ich auch, warum sie mir geholfen hatten.
Die schwarze Hand störte sie natürlich auch, denn ihr Tempel befand sich in diesen Landen, nicht weit entfernt von den Zelten.

„In unserem Tempel seid Ihr jederzeit willkommen.“, erklärten sie mir dann noch. Dann liefen sie schon los.
Fragend sah ich Breeg an, der sich in der Zwischenzeit zu mir gestellt hatte.
Das Gespräch hatte er mitbekommen.

Doch bevor ich den Tempel aufsuchen konnte, mussten wir uns erst einmal überlegen, was wir nun mit diesen Kriegern der schwarzen Hand anstellen sollten.
Es kamen die ersten Ideen auf, wie man am besten Informationen herausbekommt.
Sollten wir sie fesseln?
Ich wand mich an einen Mann, der interessante Waffen bei sich trug: Die Klingen waren an beiden Seiten statt nur an einer.
„Hm, wenn wir sie fesseln, befreien sie sich sofort wieder. Das schaffen wir nicht. Es muss einen anderen Weg geben.“, erklärte er.

Dann kamen Breeg und Enres dazu.
„Anastasya, hast du ein dünnes, recht kurzes Tau?“, fragten sie mich.
„Da. Bestimmt.“, erwiderte ich und kramte in meiner Gürteltasche.
Ich reichte ihnen eins.
„Ist gut?“, fragte ich und wollte eigentlich auch wissen, wofür sie es brauchten.
Und warum musste es möglichst kurz und dünn sein?
„Ja, das könnte funktionieren.“, überlegte Enres laut.
„Was habt ihr vor?“, fragte ich dann.
„Da wir die schwarze Hand nicht fesseln können, schießen wir einfach das Tau um sie herum.“, erklärte Enres dann. Er wirkte vollkommen überzeugt von seinem Plan.
„Wie?“, fragte ich nach.
„Wir binden zwei Pfeile zusammen. Dann schießen wir gleichzeitig.“, erklärte er weiter.
Ich dachte über seine Worte nach. Dann verstand ich, was sie meinten.
„Gute Idee!“, erwiderte ich.
„Aber wir müssen erst üben.“

Ein Freiwilliger stellte sich einige Schritte entfernt. Breeg und Enres knoteten ihre Pfeile zusammen und spannten die Bögen.
Dann schossen sie.
Dummerweise ließen sie nicht gleichzeitig los und so zog der eine Pfeil den anderen hinter sich her.
Doch die Idee war gut.
Sie mussten es nur schaffen, gleichzeitig loszulassen.

„Soll ich zählen?“, schlug ich vor.
„Ja, das ist vielleicht besser.“
Ich stellte mich zwischen die beiden.
„Bereit?“
„Ja.“
„Drei, Zwei, Eins, Schuss!“
Sie schossen nahezu gleichzeitig und das Tau wickelte sich erfolgreich um die Versuchsperson.
Die Leute, die uns beobachtet hatten, klatschten und lachten.
Die Idee war wirklich super.
„Darf ich offizielle Zählerin sein?“, fragte ich lachend.
„Ja, das kannst du gerne sein.“
Ich grinste.
Das gefiel mir.

Wir übten noch unzählige Male bis es fast bei jedem Schuss funktionierte.
Mittlerweile hatten sehr viele der Personen von dem Plan gehört und sie hielten es alle für einen recht guten Plan.
Doch momentan ließen die Krieger der schwarzen Hand auf sich warten.
Sie kamen nicht und so konnten wir unseren tollen Plan auch nicht in die Tat umsetzen.

„Ich glaube ich will zu Tempel gehen.“, überlegte ich laut und sah Breeg an.
„Ich komme mit.“, antwortete er. „Ich war schon einmal dort.“

Ich folgte Breeg zu einer dichten Hecke.
„Wunder dich nicht.“, erklärte er. „Du musst durch die Hecke hindurch.“
Wieder blickte ich ihn verwirrt an.
Was meinte er damit?
Durch die Hecke?
Wieso sollte ich mich nicht wundern?
Doch ehe ich noch etwas fragen konnte, war er auch schon in der Hecke verschwunden.
„Breeg?“, fragte ich.
Ich sah ihn nicht mehr.
Ich hörte es nicht einmal mehr rascheln.
Und das, obwohl die Hecke so dicht erschien.

Ich starrte die Hecke noch einen Moment an.
Dann sah ich mich kurz um.
Wollte mich hier wieder jemand zum Narren halten?
Oder sollte ich wirklich einfach durch die Hecke?
Doch was blieb mir schon übrig?
Ich wollte doch wissen, was sich in ihrem Tempel befand.
Also lief ich durch die Hecke…

…Und stand plötzlich vor dem Eingang zu ihrem Tempel.
Breeg war schon eingetreten, also lief ich auch hinein.
Zwei der Knochenpriester saßen hier und zwei weitere Personen, die ich nicht kannte.
Sie sahen aus, als wären sie magisch begabt, aber sicher war ich mir da nicht.

Dann sah ich mich im Tempel um.
Überall waren Knochen.
Knochen über Knochen.
An den Wänden, an der Decke, auf den Tischen.
In der Mitte prasselte ein Feuer.
Es sah irgendwie hübsch aus.
Und es war so ruhig hier.

Auf einmal fing Breeg wieder an, über die Dämmerung zu sprechen.
Eigentlich hatte ich gehofft, dass wir das Thema hinter uns gelassen hatten.
Doch dem war nicht so.
Er fing an, den Mond zu verspotten.
Ich versuchte ihm zu erklären, dass Stillstand nichts Gutes war.
Ich erinnerte mich an die Dämmerungsalben.
Wieso waren sie in der Lage gewesen, sich trotz des Stillstands zu bewegen?
Waren sie etwas Besonderes, weil sie sich dem Stillstand verschrieben hatten?
Konnte man durch sie wirklich unsterblich werden?
Vermutlich war es nur wieder Gerede…
Aber was, wenn Luzius wirklich Recht gehabt hatte…?
Der Gedanke wollte mir einfach nicht aus dem Kopf gehen.
Und doch musste ich Breeg davon überzeugen, dass Stillstand schlecht war.
Im Schlimmsten Fall bedeutete das den Tod.
Und das durfte einfach nicht passieren.
Es waren schon zu viele Menschen gestorben, die mir wichtig waren.

Der fremde Mann, den ich für einen Magier hielt, kam auf uns zu.
Offensichtlich hatte er unsere Diskussion mitbekommen.
Er sah mich direkt an.
„Hast du schon einmal etwas gewollt, ohne dass du wusstest, dass du es willst?“, fragte er mich.
Ich sah ihn verwirrt an.
Wie meinte er das?
Das konnte doch gar nicht funktionieren.

„Njet.“, erwiderte ich wahrheitsgemäß.
Natürlich hatte ich noch nie etwas haben wollen, ohne zu wissen, dass ich es will.
Das lag doch schon in der Natur der Frage.
Ich verstand es wirklich nicht.

Er nahm ein Buch in die Hand und hielt es mir hin.
„Lies die erste Seite. Dann wirst du es verstehen.“, forderte er mich auf.
Seine Stimme war ruhig.
Er ließ mir die Wahl, es nicht zu tun.
Doch ich wollte wissen, was er meinte.
Ich wollte wissen, was in diesem Buch geschrieben stand.

Also nahm ich das Buch in die Hand und schlug die erste Seite auf.
Breeg protestierte und versuchte, mich aufzuhalten, doch ich hörte nicht auf ihn.
Ich wollte es wissen.
Und ich wollte verstehen, worüber sie geredet hatten.

Es war faszinierend.
Seite um Seite verschlang ich das Buch.
Ich hörte die Stimme von Breeg nur gedämpft.
„Anastasya! Nicht!“
Es gefiel ihm wohl nicht, doch das Buch war gar nicht schlimm.
Es war interessant.
Ich las die Aufgaben.
Manche von ihnen waren interessant, manche eher seltsam.
‚Einen Wettbewerb des Volkes austragen.‘, war beispielsweise eine Aufgabe.
Ich las weiter und weiter.
Bei einer Seite erstarrte ich.
Diese Aufgabe…
Das konnte doch nicht sein.
Ich blickte kurz auf.
Irgendwie fühlte ich mich beobachtet.
Dann starrte ich wieder die Seite an.
Nein. Ich hatte es mir nicht eingebildet.
Es stand wirklich dort.
‚Besiege deinen schlimmsten Feind und besiegle damit sein Schicksal.‘
Mir wurde warm und kalt zugleich.
„Seit wann… gibt es dieses Buch?“, fragte ich tonlos und hoffte auf eine Antwort dieses Magier-Mannes.
„Es ist heute Morgen in diesem Tempel aufgetaucht.“, erwiderte er.
Zu spät.
Das war zu spät.
War das ein Zeichen?
Hätte ich ihn töten sollen?
Warum?
Warum hatte ich es nicht getan?
Es war zu spät. Viel zu spät.

Ich verharrte noch einen Augenblick auf dieser Seite während meine Gedanken rasten.
Doch es hatte nicht viel Sinn, über die vertane Chance nachzudenken.
Es war geschehen.
Ich hatte es verpasst.
Also las ich weiter.

Es waren um die dreißig Aufgaben.
Als ich fertig war, gab ich dem Mann das Buch zurück.
Irgendwie fühlte ich mich seltsam.
Was für eine Aufgabe sollte ich lösen?
Und wofür überhaupt?

„Was passiert, wenn Aufgabe gelöst wird?“, fragte ich.
Diesmal beantwortete einer der Knochenpriester meine Frage.
„Wenn das Buch eine Aufgabe für gelöst ansieht, dann erscheint eine Schachfigur.“
Eine Schachfigur?
Wofür?

Währenddessen nahm Breeg sich das Buch.
War seine Neugier nun größer als seine Angst?
Es schien ganz so.

Als Breeg nun auch fertig war, verließen wir den Tempel wieder.
Lynx kam uns entgegen, sie wollte auch wissen, worüber die Leute draußen redeten.
Scheinbar war dieses Buch und dessen Aufgaben ein großes Thema.

Als wir wieder bei den Zelten waren, hatten sich viele Menschen in einem Kreis versammelt.
Eines dieser Wesen war auch dort.
Nicht das, das blutend am Baumstamm gelehnt hatte, sondern das andere.
Das, was diesen seltsamen Blitzschlag heraufbeschworen hatte.

Ich lief zu der Besprechung, doch es schien so, als würden sie nur darüber reden, wie man die schwarze Hand besiegen konnte.
Ich glaubte immer noch nicht daran, dass man einfach so in die Vergangenheit konnte.
Wie stellten sie sich das nur vor?

Stattdessen erblickte ich Tahn, der bei zwei anderen Personen stand.
Ich gesellte mich zu ihnen.
„…und deswegen müssen wir die schütteln.“
Ich sah zwischen den drei Personen hin und her.
„Ja, das ist eine gute Idee.“
Schütteln?
Wen wollen sie schütteln?
Wen meinten sie mit ‚die‘?

„Tahn. Was wollt ihr schütteln?“, fragte ich direkt.
„Na die Fee.“, antwortete er.
„Fee? Wer ist Fee?“
„Ja, die Frau da.“, erwiderte diesmal der Mann, der mir fremd war. Er zeigt in Richtung des Wesens.
„Ah… Dieses Ding ist also Fee?“, fragte ich nach. „Und warum wollt ihr schütteln?“
Sie blickten sich um. Ganz so, als dürfte niemand hören, was sie jetzt sagen wollten.
„Die haben gesagt, dass Feenstaub total wertvoll ist. Und, wenn man das in ein Getränk tut, dann bekommt man keinen Kater!“, erklärte Tahn aufgeregt.
„Ist das so?“. Davon hatte ich noch nie etwas gehört. „Klingt gut. Aber… wenn ihr schüttelt Frau, dann sie verliert Feenstaub?“
„Nein.“, sprach nun wieder der fremde Mann. „Feenstaub ist eigentlich nur Nierenstein einer Fee. Wenn man sie schüttelt, dann lösen sich die Steine und man hat Feenstaub.“
„Deswegen ist die auch so angepisst.“, fügte Tahn hinzu.
Die Erklärung klang erschreckend logisch.
„Da. Ergibt Sinn.“, erwiderte ich. „Aber wie wollt ihr schütteln sie?“
„Wir müssen warten, bis die sich wieder klein macht. Und dann fangen wir die mit einem Netz oder so.“
Ich nickte nachdenklich.
Könnte funktionieren…
„Aber hat Frau Blitze gemacht. Kann gefährlich sein.“, gab ich zu Bedenken.
„Ja, das hat die doch nur gemacht, weil sie so Schmerzen hat. So Nierensteine tun doch weh.“, erklärte der Mann.
Auch das ergab Sinn.
Ich nickte.
„Da. Also sagt Bescheid, wenn ihr wisst, wie ihr machen wollt.“, bot ich ihnen meine Hilfe an.
Es klang nach einer guten Idee, auch, weil diese Fee dann nicht mehr so sauer sein würde.
Vielleicht konnte sie uns dann auch gegen die schwarze Hand helfen.

Ich lief kurz zurück zur Besprechung.
Es stellte sich heraus, dass schon ein paar Elemente gefunden wurden.
Außerdem gab es nun eine Liste, in der die ganzen Aufgaben aus dem Buch standen.
Sie redeten davon, dass man sich das Buch nicht anschauen soll, da es Erinnerungen stiehlt.
Ich dachte kurz über diese Worte nach.
Erinnerungen?
Hatte ich etwas vergessen?
Es fühlte sich nicht so an.
Ich wusste, wie ich hierhergekommen war.
Ich kannte Falkenhain, meine Heimat.
Kannte Bärenfels, Metka und all die Orte, zu denen ich schon gereist war.
Vielleicht wollten sie auch einfach nicht, dass die Leute dieses faszinierende Buch lasen.
Wahrscheinlich war es nur Abschreckung.
Wie sollte einem ein Buch auch Erinnerungen nehmen?
Ich verstand es nicht.

Kurz überflog ich die Liste, um zu sehen, welche Aufgaben noch erledigt werden mussten.
Es waren einige.
Ich verließ die Besprechungsrunde wieder und ging zu Breeg.
Irgendwie wirkte er seltsam.

Ich sah zum Flussufer hinüber und erkannte dort ein junges Mädchen.
Sie saß alleine am Steg und blickte ins Wasser.
Es schien so, als sei sie einsam.
„Gehen wir hin zu Mädchen?“, fragte ich Breeg.
Er nickte.

Wir gingen auf den Steg zu.
„Hallo.“, begrüßte ich das Mädchen.
Sie hob den Kopf und sah zu uns.
„Hallo.“, gab sie zurück.
Breeg und ich setzten uns zu ihr auf den hölzernen Steg.
Ich saß direkt neben dem Mädchen und Breeg saß neben mir.
„Wie heißt du?“, fragte ich sie.
„Alessia.“
„Ich bin Anastasya und das ist Breeg.“
Sie nickte.
Irgendwie war sie schweigsam.
„Was machst du hier, Alessia?“, fragte ich also.
„Ich bin mit meinen Eltern hier.“, antwortete sie. „Aber meine Eltern sind doof. Die spielen Spiele, aber ich möchte nicht.“
„Mh“. Ich wusste nicht recht, was ich antworten sollte.
Mit meinen Eltern hatte ich oft gejagt oder Bäume gefällt.

Alessia kramte in einer hölzernen Kiste herum.
„Was hast du da?“, fragte ich neugierig.
Sie zögerte.
„Alchemie.“, antwortete sie leise.
Es wirkte so, als hätte sie Angst davor, es laut auszusprechen.
„Oh.“, erwiderte ich. „Alchemie ist gut… Was genau hast du denn da?“
„Hm…“. Sie überlegte einen Moment. „Ich habe etwas, das beäubt…“
Sie zeigte mir ein kleines Fläschchen aus Glas.
Ich sah kurz zu Breeg herüber.
Er schien es nicht mitbekommen zu haben.
Dann beugte ich mich etwas zu Alessia.
„Funktioniert?“, flüsterte ich leise.
„Ja, eigentlich schon.“, gab sie zurück. „Ich habe auch ein Gegenmittel.“
„Gut.“
Es war doch immer gut, wenn angehende Alchemisten früh üben konnten, oder etwa nicht?
„Breeg. Gib mir Hand.“, forderte ich ihn auf.
Er sah mich verwirrt an.
Ein kleines bisschen Misstrauen blitzte in seinem Blick auf.
Doch dann gab er mir seine Hand.
„Da Alessia, kannst du versuchen.“
Sie grinste und nahm mit einem kleinen Metallstab eines der bräunlichen Kristalle aus dem Glas heraus. Dann legte sie es auf Breegs Hand.
„Was? Was ist das?“, fragte er verwirrt.
„Ah… ist nichts.“, erwiderte ich. „Ist nicht schlimm. Muss sie üben. Merkst du was?“
Er schien sich nicht sicher zu sein.
Also warteten wir noch einen Augenblick.
Runen wirkten immerhin auch nicht sofort.

„Kannst du Hand bewegen?“, fragte ich nach einer Weile.
Ich wusste nicht, ob taub hieß, dass die Hand fest geeist war, oder, ob sie weich wurde.
Doch mit etwas Glück würden wir es gleich herausfinden.
Breeg bewegte seine Finger und stellte fest, dass er sie ganz weit biegen, ja, sogar umknicken konnte.
Ich lachte und wand mich an Alessia.
„Hast du gut gemacht. Siehst du? Hat funktioniert.“, lobte ich sie.
Sie lachte und schien sich darüber zu freuen.
Breeg fand es aber nicht besonders lustig und erhob sich. Er wollte gehen.

„Du brauchst das Gegenmittel!“, rief Alessia. „Sonst fällt dir vielleicht die Hand ab.“
Breeg sah sie schockiert an.
„Was? Die Hand… fällt ab?“, fragte er.
Sie nickte. „Kann passieren.“
Schnell kramte sie aus ihrer Kiste das Gegenmittel und behandelte Breegs Hand.
„Erzähl bitte nicht meiner Mutter davon.“, flehte Alessia. „Sie mag es nicht, wenn ich das mache…“
Ich nickte.
„Da, keine Sorge. Musst du weiter üben. Machst du gut! Wirst du gute Alchemistin!“
Ich musste an Batras denken.
Es war bestimmt eine gute Erfahrung für sie, wenn sie ihn einmal kennenlernen würde.
Vielleicht war es ja möglich.
Alchemisten konnten sicher viel von anderen Alchemisten lernen.

Alessia ging noch ein bisschen mit Breeg. Sie entfernten sich von mir.
Vielleicht wollte sie sich ja entschuldigen.
So ein nettes Mädchen.

Breeg kam bald wieder zu mir und ich erkundigte mich nach seiner Hand.
Er sah mich fragend an.
„Was soll mit der Hand sein?“
„Hm?“, fragte ich dann.
Alessia stand in der Nähe und zwinkerte mir zu.
Hatte sie es geschafft, ihn das Ganze vergessen zu lassen?
Kluges Mädchen.
„Ah. Ist nichts.“, erwiderte ich dann. Natürlich wollte ich Alessia schützen.
Und je weniger Leute davon wussten, desto besser.

Die meisten Menschen widmeten sich nun dem Lösen der Aufgaben aus dem Buch.
Eine der Aufgaben, die noch gelöst werden musste, war, ein Turnier zu veranstalten.
Schnell wurde sich auf ein Bogenschützen-Turnier geeinigt.
Die Knochenpriester hatten sich nun auch hier draußen versammelt, um die Aufgaben zu überwachen. Denn nur, wenn sie richtig gelöst wurden, gab das Buch auch die Schachfigur heraus.

Ich hatte zwar sehr lange nicht mehr mit dem Bogen geschossen, doch ich entschied, trotzdem teilzunehmen. Es konnte ja nur helfen.
Und eigentlich war mir egal, ob ich gewinnen oder verlieren würde.

Zusammen mit Breeg, Enres und drei weiteren Bogenschützen stellten wir ein Ziel auf, auf das geschossen werden sollte.
Es gab drei verschiedene Distanzen.
In der ersten Runde sollten alle dreimal von der ersten Distanz schießen.
Danach von der zweiten und danach von der dritten.
Schnell lief ich zu meinem Zelt, um meinen Bogen und meine Pfeile zu holen.

Ich erwartete nicht allzu viel von mir, doch ich hatte einfach Spaß, mal wieder ein bisschen zu schießen.
Die erste Distanz schaffte ich problemlos, doch bereits bei der zweiten schied ich aus.
Es war einfach zu weit für einen mittlerweile so ungeübten Schützen wie mich.
Trotzdem schaffte ich es vermutlich noch, mit dem Bogen zu jagen.
Bewegliche Ziele waren für mich schon immer einfacher gewesen.
Denn ich hatte kaum anders geübt.

Das Bogenschützen-Turnier wurde erfolgreich beendet und wir erhielten dafür eine Schachfigur.
Zwar wusste ich noch immer nicht, wofür wir sie brauchten, doch irgendwer würde es schon wissen.
Hauptsache, wir würden die Belohnung erhalten, die uns versprochen wurde.

Zwei fremde Personen kamen auf mich zu.
„Grüße. Uns wurde gesagt, dass Ihr immer ein Tau dabei habt. Habt Ihr ein langes Tau?“
Wieder kramte ich in meiner Tasche.
Was hatten denn diese beiden schon wieder vor?
Ich holte das längste Tau heraus, was ich dabei hatte und überreichte es ihnen.
„Was wollt ihr machen?“, fragte ich sie dann.
Wahrscheinlich hatte es wieder mit einer dieser seltsamen Aufgaben zu tun.

„Wir sollen einen Wettbewerb des Volkes austragen.“, erklärten sie. „Wir haben uns überlegt, Tauziehen zu machen.“
Ich dachte darüber nach.
Eigentlich keine schlechte Idee.
„Habt ihr genug Leute?“, fragte ich.
„Hm,… Vielleicht?“
Sie waren sich nicht sicher.

Zuerst nahmen sie das Tau doppelt, doch so passten an jede Seite nur drei Personen.
Die Knochenpriester erklärten schon, dass das vermutlich zu wenige sind.
Einer der Männer wand sich wieder an mich.
„Kann sein, dass das Tau reißt, wenn wir es nicht doppelt nehmen.“, sagte er entschuldigend.
Ich zuckte mit den Schultern.
„Ist nicht schlimm.“, erwiderte ich. „Darf ich mitmachen?“
Er nickte.
„Klar.“
So sortierten sich die Leute noch einmal um.
Auf der einen Seite standen sechs Männer am Seil, auf der anderen Seite sieben Frauen.
So war es einigermaßen gerecht.

Als alle bereit waren, zählte Jemand runter.
Wir zogen.
Es dauerte nur einen winzigen Augenblick und alle lagen auf dem Boden.
Und brachen in wildes Gelächter aus.
Das Seil war gerissen.
Ich lachte und nahm beide Hälften in die Hand.
„Bin ich Magier. Habe ich aus einem Tau zwei gemacht.“, lachte ich laut.
Wir brauchten eine Weile, bis wir uns wieder eingekriegt haben.
Zusammen mit dem Mann, der die Idee zum Tauziehen hatte, lief ich in den Tempel der Knochenpriester.
Wir zeigten dem Buch die beiden Hälften des Taus.
Es dauerte einen Augenblick und dann erschien eine Schachfigur.
Ein Springer.
Der Mann nahm die Figur an sich und wir verließen den Tempel.

Ich war nun schon an der Lösung von zwei Aufgaben beteiligt.
Irgendwie machte es mich ein wenig stolz.
Doch ich beschloss, erst einmal wieder die Taverne zu besuchen.

Dort erblickte ich Tahn, der mit den zwei anderen Personen – der Frau und dem Mann – zusammen an einem Tisch saß.
Sie hatten Karten vor sich liegen und schienen ihm etwas zu erklären.
„…Und dann wirst du deine Frau finden.“
Alle drei blickten zu mir auf, als ich mich zu ihnen stellte.
„Kannst du ihn zu seiner Frau bringen?“, fragte die Frau erwartungsvoll.
„Frau?“. Ich blickte Tahn an. „Da. Hast du Frau. Hast du schon gesagt. Ist Ring von Frau… Oder so.“
„Ja und wir wissen, wo die Frau ist.“, sagte der Mann. „Da müsst ihr ganz weit weg, viele, ganz viele Tage. Aber da findet ihr sie dann.“
„Warum geht ihr nicht mit ihm?“, fragte ich.
Woher wussten sie das alles?
Kannten sie seine Frau etwa?
Und warum kannte er seine eigene Frau nicht?
Tahn war schon etwas seltsam.
„Nein, also. Wir gehen nicht mit, wir haben keine Lust, so weit zu laufen.“
Ich seufzte.
Was für eine Ausrede.
Doch so oder so wollte ich mehr von der Welt sehen.
Warum sollte ich Tahn also nicht helfen?
„Da, Tahn. Können wir suchen gehen deine Frau.“, stimmte ich zu.

Draußen begann es, zu regnen.
So versammelten sich immer mehr Menschen in der Taverne.
Ein Mann stellte sich auf einen der Tische.
„Jetzt, wo fast Jeder hier ist, können wir auch eine kurze Besprechung machen. Es ist wichtig.“, verkündete er.
Wir sprachen über die Gegenstände und Aufgaben, die uns noch fehlten.
Von den sechs Elementen, die Lynx erwähnt hatte, fehlten nun nur noch zwei.
Doch scheinbar gab es ein noch viel größeres Problem: Ein Opfer wurde benötigt.
Sie lasen einen Brief vor.
Darin stand, dass ein unschuldiges und jungfräuliches Opfer benötigt wird, um das Portal in die Vergangenheit öffnen zu können.
Außerdem wurde Magie jeglicher Art gefordert, um den sogenannten „Anker“ aufzuladen.
Angeblich war es wie ein richtiger Anker, nur, dass dieser dafür sorgte, dass wir alle aus der Vergangenheit auch wieder zurückkommen würden.
Dieser Anker sollte also das Portal geöffnet halten.

Ich dachte darüber nach, ob ich mit meinen Runen helfen konnte.
Wenn es in Odins Willen war, dann würde es wohl funktionieren.
Und wenn es nicht funktionierte, wusste ich immerhin, dass es keine gute Idee war.
Dann war vermutlich alles, was sie hier veranstalteten, keine besonders gute Idee.
Wahrscheinlich war es dann der beste Weg, hier schnellstens zu verschwinden.

Sie erklärten, dass wir alle durch das Portal in die Vergangenheit gehen mussten. Dort würden wir diese schwarze Hand ein für alle Mal besiegen können.
Und dann würden wir wohl unsere Belohnung erhalten.
Doch bis es soweit war, brauchten wir noch die übrigen zwei Elemente, ein Opfer, Magie jeglicher Art und ein Ritual.
Alles äußerst schwierig aufzutreiben.
Außerdem war es schon beinahe dunkel.

„Also. Alle, die sich an der magischen Aufladung beteiligen wollen, sammeln sich am Zelt des Schmieds. Alle, die beim Ritual helfen wollen, treffen sich bei diesem Mann.“ – er zeigte auf einen Mann – „Und wegen der restlichen Aufgaben meldet ihr euch bei mir!“
Scheinbar fehlten auch nur noch drei der Schachfiguren.
Die Aufgaben wurden also wirklich schnell gelöst.

Als die Leute sich schon wieder auf den Weg machen wollten, erhob sich ein weiß-gekleideter Mann.
Er trug ähnliche Kleidung wie Enres. Gehörten sie wohl zusammen?
„Ich denke, ich spreche hier im Namen von sehr vielen Anwesenden. Wir sprechen hier von einem Menschenleben, das geopfert werden soll. Das kann nicht der richtige Weg sein!“
Ein paar der Anwesenden klatschten.
Ich verstand es nicht ganz.
Der Mann sah zu ihm herüber.
„Gut. Die, die sich nicht beteiligen wollen, wenden sich an die Schwingen und fragen sie, was sie für einen Plan haben.“
Er wirkte ziemlich schnippisch.
Ich konnte es verstehen, schließlich wollte er zumindest dafür sorgen, dass hier etwas passierte.
Die schwarze Hand hatte uns immerhin damit gedroht, uns zu töten.
Da konnte man nicht einfach tatenlos herumsitzen.

Ich beschloss, beim magischen Aufladen des Ankers zu helfen.
Also lief ich direkt von der Taverne aus zum Zelt des Magiers.
Der Regen war zum Glück schwächer geworden.

Wir überlegten kurz, wie wir es am besten durchführen sollten.
Der Schmied hatte ebenfalls Runen bei sich.
Neben mir standen noch zwei weitere Magier, die sich dem Element Feuer verschrieben hatten.

Ich nahm meinen Runenbeutel heraus und überlegte.
Auf dem Anker war jedes Element angeordnet.
Am besten würde ich also Runen heraussuchen, die zu den Elementen passen.
Und dann konnte ich jede Rune einzeln aufladen.
Ich hoffte, dass es helfen würde

Für das Element Feuer nahm ich Kenaz. Für Holz nahm ich Berkana und Eiwaz. Auf das Element der Zeit legte ich Dagaz. Für die Erde nahm ich Uruz. Bei Metall entschied ich mich für Taiwaz.
Wasser war noch übrig.
Da gab es viele Möglichkeiten.
Wahrscheinlich war es sogar besser, hier alle Runen zu nehmen, die mir zur Verfügung standen.
Also legte ich Hagalaz, Isa und Laguz auf das Element des Wassers.
Das sollte genügen.
„Bitte Runen nicht anfassen.“, bat ich die anderen Magier.
Sie nickten und legten ihre magischen Komponenten mit großer Vorsicht auf die Zeichen der Elemente.
Rhea schlug vor, noch Wasser aus dem Fluss zu holen, um das Element des Wassers noch zu verstärken.
Wir hielten es für eine gute Idee.
Die Magier legten noch weiter Dinge auf den Anker, bis die Platte beinahe voll war.
„Das sollte reichen.“

Der Schmied begann und lud die Runen nacheinander auf.
Mir gefiel, dass er die Namen der Runen sang.
Vermutlich gefiel es Odin auch.
Der Mann hatte eine tiefe, aber sehr schöne Stimme.
Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass der Mann schon ziemlich alt aussah.

Als er fertig war, waren die beiden Magier dran.
Sie führten ihre Magie gemeinsam durch.
Irgendwie war ich nervös.
Die drei waren „echte“ Magier…
Und ich?
Ich fühlte mich fehl am Platze.
Ich war doch nur eine Dienerin Odins.

Doch jetzt gab es kein Zurück mehr.
Die Runen lagen an ihren Plätzen und nun würde ich Odin auch um seine Kraft bitten.

Die beiden Feuer-Magier waren fertig und nickten mir zu.
Ich atmete tief ein.
Dann begann ich.
Eine Rune nach der anderen.
Ich fing oben an und arbeitete mich links herum über die kreisrunde Platte.
Zu jeder Rune betete ich zu Odin und hoffte auf seine Kraft.
Die Runen leuchteten rot auf.
Ein gutes Zeichen.
Odin war bei mir.
Bald war ich bei dem letzten Element angekommen.
Ich spürte, wie ich immer langsamer sprach.
Irgendwie zitterte ich.

Ich erwachte an der Küste des kleinen Sees.
Überall war Sand, vor allem meine Handschuhe und mein Mantel waren voll.
Was war passiert?
Lynx, Breeg und Rhea waren bei mir.
„Anastasya?“, fragten sie.
„Da?“, erwiderte ich verwirrt.
Wieso lag ich in diesem Sand?
„Du hast wieder von der Wüste gesprochen.“
Wüste?
Wie in Melekahrt?
Aber wieso?
„Oh…“, murmelte ich.
Ich fühlte mich noch immer etwas schwach.
Doch sie halfen mir, mich zu erheben.
„Hat es funktioniert?“, fragte ich nach, als ich endlich verstand, wo genau ich war.
Ich hatte diesen Anker mit meinen Runen aufgeladen.

„Wahrscheinlich schon.“, erwiderte Rhea.
Sie brachten mich zurück zum Zelt des Schmieds.
„Geht es Euch besser?“, fragte der Schmied sofort.
Ich nickte und schämte mich ein wenig dafür.
Wieso war ich nur schon wieder so schwach geworden?

Ich sah, dass Breeg sich wieder von uns entfernte.
Was war nur mit ihm los?
Er verhielt sich so seltsam…
Vor allem seit der Besprechung in der Taverne…

Ich ging auf ihn zu.
„Breeg.“, sprach ich ihn an.
Er sah zu mir.
In seinen Augen spiegelte sich gleichzeitig Trauer und Entschlossenheit.
Eine Kombination, die mir ganz und gar nicht gefiel.
„Breeg. Nicht! Ist keine gute Idee!“, sprach ich dann.
Er schien mir gar nicht zuzuhören.
Im Gegenteil, er wand sich von mir ab und ging.

Ein paar der Leute versammelten sich erneut. Es ging wieder darum, ein Opfer zu finden.
Scheinbar hatte Jemand neue Informationen erhalten.
„Das Opfer gibt sein Blut… nicht aber sein Leben.“, hieß es nun.
Wie konnte es denn zu einem solchen Missverständnis kommen?
Das war doch seltsam…
Doch wenn das stimmte, dann war es doch gut zu hören.
Das Opfer, das sich freiwillig melden würde, musste nicht sterben.
Und der Freund von Enres musste nicht mehr meckern, dass Unschuldige sterben.
Denn dem war nicht so.
Es würde niemand sterben.

„Ich mache es.“
Ich kannte die Stimme.
Breeg trat aus der Menge hervor und stellte sich zu dem Mann und der Frau, die die Aufgabe mehr oder weniger leiteten.
Ich war mir nicht sicher, ob es eine gute Idee von Breeg war, sein Blut zu geben.
Immerhin wusste er nicht, was mit seinem Blut passieren würde.
‚Aber er wird leben.‘, versuchte ich mich zu beruhigen.

Das Ritual begann.
Rhea, Lynx, Ares, Tahn und ich standen in gebührendem Abstand zum Ritual.
Tahn und Ares schienen nicht wirklich zu verstehen, was dort überhaupt vor sich ging.
Die Magier murmelten Sprüche und Zauber vor sich hin.
Die aufgeladene Platte – der Anker – lag in der Mitte von ihnen.
Dort stand auch Breeg.
Ich machte mir Sorgen.
Ein Magier ging auf Breeg zu und nahm sein Blut.
Dichter Nebel zog auf und als ich wieder etwas erkennen konnte, war Breeg verschwunden.

„Wo ist Breeg?!“, schrie ich. „Wo?!“
Ich erhob mich und sah mich um.
„Breeg?!“
„Ach, ihm wird es schon gut gehen.“, versuchten die fremden Personen mich zu beruhigen.
Aber wie?
Wie sollte es ihm gut gehen?
Er hatte sein Blut gegeben und jetzt war er verschwunden.
„Njet!“, protestierte ich weiter. „Er ist weg!! Wo ist er denn?!“
Die anderen antworteten ihr nicht mehr.

Eine Gestalt kam durch den Nebel auf uns zu.
„Ich heiße euch willkommen in meinem Reich.“, sprach er laut und herrisch.
Wer war das?
Was sollte das Ganze und wo war er überhaupt hergekommen?
Ich verstand die Welt nicht mehr.

Die Leute strömten durch das Portal hindurch… und zogen mich mit.
Es war seltsam. Wir liefen einfach durch etwas hindurch… und alles sah etwas anders aus.
Ein wenig nur, aber immerhin.
Wir waren immer noch am gleichen Ort. Doch alles wirkte irgendwie älter…
Ich schüttelte den Kopf.
Nein.
Das konnte nicht sein.
War das etwa die Vergangenheit, in der wir die schwarze Hand besiegen sollten?
Aber wieso?
Und dafür hatten wir Breeg geopfert?

Tränen sammelten sich in meinen Augen und ich lief schnell wieder durch das Portal zurück.
Mir gefiel das alles nicht.
Ich sah zu der Platte, die noch immer am gleichen Platz lag.
Der Anker.
Es war meine Schuld.
Ich hatte diesen Anker aufgeladen.
Meine Runen… Ich hatte es gewollt.
Ich hatte dafür gesorgt, dass Breeg nun verschwunden war.

Ich senkte meinen Blick und ging zurück zu den Zelten.
Rhea und Lynx versuchten, mir meine Schuldgefühle auszureden.
Doch sie hatten keine Argumente.
Natürlich war es meine Schuld.
Wessen Schuld sollte es sonst gewesen sein?

Auf einmal kam Jemand auf uns zu.
Er kam mir bekannt vor, aber irgendwie auch nicht.
Wer war das?
Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und musterte die Gestalt.
Sie war groß, dünn und trug einen Stab bei sich.
Außerdem war das Gesicht sehr blass… Blasser noch als bei den Knochenpriestern.
Und jetzt, als er direkt vor uns stand, erkannte ich auch, an wen er mich erinnerte.
Breeg.
Er sah aus wie Breeg.
Aber irgendwie auch nicht.
Ich verstand die Welt nicht mehr.
Rhea und Lynx standen neben mir.
Sie wirkten ähnlich verwirrt.

„Wer bist Du?“, fragte ich die Gestalt. „Du… du siehst aus wie Breeg. Aber. Breeg… Breeg. Was ist mit dir?“
„Breeg Ân Khun.“, erwiderte die Gestalt.
Ich verstand es nicht.
Das war doch nicht sein Nachname?
Nein.
Das konnte nicht sein.

Breeg hatte doch immer darauf gehört, wenn man ihn mit „Breeg“ angesprochen hatte.
Irgendwas stimmte hier nicht.
„Breeg! Was redest du da?“, fragte ich erneut.
„Nicht Breeg. Ich bin Breeg Ân Khun.“
Seine Stimme wurde wütender und ich zuckte zusammen.
Ich sank zu Boden.
„Breeg. Es tut mir Leid… Es ist meine Schuld.“, schluchzte ich. „Ich habe diese Platte aufgeladen mit Runen, aber… Ich wollte nicht. Breeg… Ist meine Schuld.“
„Ich bin Breeg Ân Khun.“, wiederholte er und sah von Rhea zu mir und anschließend zu Lynx. „Rhea Ân Khun, Anastasya Ân Khun und Lynx Ân Khun.“
„Njet!“, rief ich. „Das bin ich nicht!“
Breeg streckte seine Hand aus und nahm unsere Hände in seine.

Ich fand mich am gleichen Ort wieder. Nur war alles etwas blasser, bleicher und bläulicher. Außerdem war alles… anders herum. Irgendwie.
Die Zelte standen genau falsch herum… alles war so, als hätte man es einmal umgedreht.
Aber wie?
Und wieso?
Doch das alles war mir egal, als ich auf einmal die Person sah, die ich vermisst hatte.
Breeg.
Der richtige, wirkliche Breeg.
Er stand dort, vor uns. Stand dort an der Stelle von diesem Breeg Ân Khun.
Nur, dass diese Welt nicht so richtig zu ihm passte.
Hieß das, dass diese beiden Personen die Welt getauscht hatten?
Lynx und Rhea waren noch immer neben mir.
Doch auch sie sahen jetzt anders aus.
Sie sahen diesem Breeg Ân Khun ähnlich.
Blass, bläulich. So, wie alles hier.
Wo waren wir gelandet?
Hatte Breeg nicht schon einmal von einer Spiegelwelt geredet?
War dies diese Spiegelwelt?
Doch wie konnte das passieren?

Es dauerte nicht lange und wir waren wieder in der richtigen Welt.
Alles hatte wieder die normalen Farben und auch die Zelte standen in der richtigen Reihenfolge.
War nun alles wieder in Ordnung?
Breeg Ân Khun stand noch vor uns. Doch nicht lange.
Er drehte sich um, lief ein paar Schritte, dann verschwand er.
War Breeg nun für alle Zeiten in dieser Spiegelwelt gefangen?
Ich konnte es nicht verstehen.

Noch immer hockte ich am Boden.
Ich vergrub meinen Kopf und drückte ihn in das kühle Gras.
Es war meine Schuld.

Lynx und Rhea sprachen mir gut zu und versuchten, mich davon zu überzeugen, dass Breeg noch lebte.
Ich war mir nicht so sicher.
Was, wenn er wirklich tot war?
Was, wenn das nur so etwas war wie Walhalla oder Helheim?
Bis heute hatte ich nicht verstanden, welcher Gottheit er sich verschrieben hatte.
Ich konnte also nur hoffen, dass er noch lebte.
Doch ich glaubte nicht wirklich daran.
Es war einfach nicht möglich.

Nach einer Weile erhob ich mich seufzend.
Innerhalb von zwei Tagen war so viel passiert…
Und was blieb uns jetzt?
Waren die anderen etwa schon dabei, die schwarze Hand in der Vergangenheit zu besiegen?
Würden wir am Ende gar keine Belohnung erhalten?
Hatten wir Breeg umsonst geopfert?

Ich sah zu Tahn und Ares, die die Szene gar nicht verstanden hatten.
Tahn schien sich nicht einmal an Breeg zu erinnern.
Und Ares wusste nicht recht, was er tun sollte.
Sie machten sich sogar noch lustig, doch ich hörte ihnen gar nicht zu.

Erst, als sie plötzlich aufeinander losgingen, wurde ich wieder aufmerksam.
Was war denn nun los?
Sie schlugen aufeinander ein, hauten sich um, prügelten sich, bis sie am Boden lagen.
Und selbst da machten sie weiter.
Tahn gab sich irgendwann geschlagen.
„Was macht ihr da?“, fragte ich kopfschüttelnd.
Warum prügelten sich die beiden nur so gerne?
Ich verstand es nicht.

Die Personen im Zelt neben uns hatten das Schauspiel beobachtet und klatschten laut.
„Ja, großartig!“, riefen einige von ihnen. „Kommt mal rüber zu uns. Braucht ihr Arbeit? Wir können immer gute Kämpfer gebrauchen!“
Sie wirkten ziemlich betrunken, doch Tahn und Ares kamen zu ihnen.
Lynx, Rhea und ich folgten.

Tahn sah sich  eines der Schilde an, die dort an einen Tisch angelehnt worden waren.
„Ich glaube, damit habe ich auch mal gekämpft.“, murmelte er.
Es wirkte fast so, als würde er in Erinnerungen schwelgen.
Tahn und Erinnerungen?
Ich beschloss, sofort nachzufragen.
„Mit so einem Schild?“, fragte ich. „Wo denn?“
„Da war ganz viel Sand.“, setzte er fort. „Eine Wüste oder so etwas.“
Eine Wüste?
Schon wieder?
Warum drehte sich momentan alles um Wüsten?

Unsere „Nachbarn“ boten uns Alkohol und Essen an.
Wir redeten noch etwas mit ihnen, dann liefen wir wieder zu unseren eigenen Zelten.
Dort tauchte auf einmal ein Betrunkener auf.
Er hatte eine Glasflasche in der Hand.
Vermutlich handelte es sich dabei um Alkohol.
„Hallo… Ich bin Remus.“, lallte er mir entgegen.
Ich verstand ihn kaum.
Er stank stark nach Alkohol und hatte Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten.
Ich nahm ihm die Flasche aus der Hand und trank selbst etwas davon.
Es war Met.
Leckerer, guter Met.

Sofort beschwerte Remus sich.
„Ey! Das is mein Met!“
Ich zuckte mit den Achseln, trank noch einen Schluck und gab ihm dann die Flasche wieder.
Wir beschlossen, zur Taverne zu gehen.

Dort angekommen tranken wir sehr viel.
Ich versuchte, die Schuldgefühle zu vergessen.
Konnte ich nicht einfach daran glauben, nicht schuld zu sein?
Es war schwieriger als gedacht.

Auch Tahn trank sehr viel und verhielt sich bald schon ähnlich wie Remus.
Er lief zu einem Kerzenständer und versuchte, eine der Kerzen erneut anzuzünden.
Bei dem Versuch sorgte er allerdings lediglich dafür, dass am Ende beinahe alle Kerzen wieder aus waren.
Ich hielt ihn auf und entzündete nun mit der letzten verbliebenen Kerze die Übrigen.
„Das hab ich doch auch gemacht.“, beschwerte sich Tahn.

 

Mehr und mehr Personen kamen zur Taverne.
Scheinbar hatten sie die schwarze Hand noch nicht besiegt.
„Das Portal ist noch offen.“, erklärte man uns. „Wir müssen unsere Kräfte sammeln und vielleicht noch mehr Kämpfer hierher holen. Und dann bekämpfen wir die schwarze Hand.“

Wir beschlossen, noch eine Nacht in den Zelten zu verbringen.
Immerhin waren wir nach dem Abend in der Taverne ziemlich betrunken und betrunken eine lange Reise anzutreten war gefährlich.
Eigentlich war unser Auftrag nun ja, Tahns Frau zu finden.
Er musste also mit uns kommen.
Vielleicht würden wir es ja schaffen, seine Frau zu finden.
Und vielleicht konnte sie uns mehr von Tahn erzählen.

Wir legten uns nachts also in unsere Zelte und schliefen schnell ein.
Am nächsten Morgen packten wir unsere Sachen zusammen und machten uns auf den Weg.

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