Was zuvor geschah…


Das letzte Buch

Zehn Tage sind vergangen seit meine Tante Silva mich in das Zimmer gesperrt hat, in dem ich schlafe.
Gerade lese ich das letzte Buch, das sie mir gegeben hat.
Das bedeutet also, dass ich bald wieder meine Freiheit genießen kann… Zumindest hoffe ich das.

Das Buch handelt von Tischmanieren und soll einem wohl erklären, wie man essen und trinken soll. Ich verstehe nicht wirklich, warum das wichtig ist, aber ich merke mir die Regeln.

Ich stelle einmal mehr fest, dass zwischen auswendig lernen und anwenden ein himmelweiter Unterschied liegt. Nur weil ich etwas weiß, muss ich es nicht so machen. Es ist doch nach wie vor meine Entscheidung, wie ich etwas mache.
Und daran werde ich festhalten, ganz egal, wie viele Bücher mir meine Tante Silva noch vorsetzt.

Gegen Abend betritt meine Tante das Zimmer und setzt sich mir gegenüber.
Ich blicke sie an und warte geduldig ab.
Was jetzt wohl passieren mag?

„Anastasya, zehn Tage sind vorbei. Jetzt will ich wissen, ob du hast brav gelesen die Bücher.“, sagt sie und deutet auf den Bücherstapel auf dem Tisch.
Ich nicke. „Da, habe ich gelesen die Bücher.“, erwidere ich.
Ihr Blick wirkt ernst.
„Gut. Dann kannst du mir ja etwas erzählen darüber.“
Sie nimmt das erste Buch in die Hand und beginnt, mir Fragen zu stellen.

Abfrage

Es dauert mehrere Stunden, bis sie das letzte Buch aus der Hand legt.
Ich fühle mich müde und bin gleichzeitig erleichtert, dass es jetzt endlich vorbei ist.
Am Anfang wollte ich sie noch davon überzeugen, dass ich wirklich fleißig gelernt habe, doch mit jedem weiteren Buch wollte ich einfach nur, dass es aufhört.

Ich weiß nicht, ob sie zufrieden ist und so warte ich recht nervös ab.
Sie starrt mich eine Weile an, scheint nachzudenken.
Dann verformt sich ihr Mund zu einem skurrilen Lächeln.
„Gut, Anastasya. Wusste ich doch, dass du kannst.“, sagt sie und erhebt sich. „Dann machen wir morgen mit Unterricht weiter.“

Ich schaue sie an und weiß nicht, ob ich die Frage stellen darf, die mir auf dem Herzen brennt.
Doch offenbar brauche ich die Frage gar nicht zu stellen… Es scheint offensichtlich zu sein – oder aber meine Tante kann Gedanken lesen.
„Njet, Anastasya, darfst du noch nicht rausgehen. Musst du erst verstehen, warum wir uns nicht treffen mit Leuten auf Armenviertel.“
Sie spricht herablassend, so als wären die Menschen dort nichts wert. Ich verstehe es nicht und in diesem Moment schwöre ich mir, dass ich es auch niemals verstehen werde und will.
Aber ich nicke. Wenn ich ihr widerspreche, darf ich vielleicht nie wieder raus.

Der Unterricht

In den folgenden Tagen kommt meine Tante jeden Morgen pünktlich zum Sonnenaufgang herein, um mit mir „Unterricht“ zu machen.
Es wirkt ganz so, als wolle sie mich zu einer Adligen erziehen.

Obwohl es mir nicht leichtfällt, beuge ich mich ihrem Willen und gebe mein Bestes, um ihr zu gefallen.
Scheinbar müssen Adlige sehr viel lernen, denn die Unterrichtsstunden dauern und dauern… Es wird an keinem einzigen Tag eine Pause eingelegt.

Heute ist bereits ein Mond vergangen. Sie bringt mir Strukturen bei. Wer ist wichtig, wer ist unwichtig?
Es ist absolut lächerlich und ich kann nicht glauben, dass die einfachen Menschen so unwichtig sind, dass sie „ruhig sterben dürfen“.
Ganz egal, was passiert, ich werde nie so wie sie.

Ich denke in den folgenden Tagen wieder vermehrt an meine Eltern.
Ist also meine Mutter für meine Tante auch so unwichtig? Und das, obwohl sie ihre Schwester ist?
Ich kann das kaum glauben… Oder ist das alles nur eine Masche?
Vielleicht eine Fassade, die diese Adligen aufrecht erhalten müssen?
Ich finde es jedenfalls furchtbar, aber ich lasse es mir nicht anmerken, sondern lerne fleißig weiter.

Es dauert noch einen weiteren Mond, in dem ich all die Dinge lerne, die Adlige scheinbar kennen und können müssen.
Ich bin überrascht, für was es alles Regeln gibt:
Es gibt Regeln für die Kleidung, Regeln für die Haltung, Regeln fürs Essen, Regeln fürs Gehen…
Wahrscheinlich gibt es bei den Adligen rein gar nichts, das ohne Regel auskommt. Aber ich lerne sie auswendig und weiß, wie ich sie anwende.
Und ich weiß, dass ich das alles sofort wieder vergessen will, wenn ich zurück in Falkenhain bin.
Ich vermisse mein Zuhause, aber ich kann jetzt immerhin lesen und schreiben… Das war ja der ursprüngliche Grund für meine Reise.

Der Markt

Mittlerweile glaubt meine Tante mir, dass ich eine echte Adlige geworden bin.
Ich trage bunte Kleider und seltsame Frisuren. Beides nervt mich.
Aber ich muss den Schein wahren.

„Anastasya, ich glaube, du kannst wieder auf Markt gehen. Hast du verstanden, warum wir uns nicht treffen mit armen Leuten, da?“
Endlich ist es so weit. Das ist meine Gelegenheit.
„Da, sind sie einfach nicht wie wir. Sind sie schlecht für uns.“
Ich spreche die Worte mit Abscheu aus, den ich allerdings für die Adligen empfinde und nicht für die Armen.
Meine Tante nickt zufrieden.
„Such dir etwas Schönes aus von Markt.“, sagt sie und gibt mir ein paar Silbermünzen.
„Habt Dank, Tante Silva.“, erwidere ich und verneige mich leicht vor ihr. Das fühlt sich eklig an.

Ich begebe mich zum Markt und laufe dabei so anmutig wie es mir beigebracht wurde.
Es ist anstrengender und wesentlich lauter als das normale Laufen, das ich sonst gewohnt bin.
Ein paar andere Menschen schauen mich an und scheinen Respekt vor mir zu haben.
Es ist interessant, was Haltung und Kleidung ausmachen, aber es wäre mir lieber wenn sie mich aus einem anderen Grund respektieren würden.
Diesen Respekt werde ich mir erarbeiten, sobald ich aus Bärenfels raus darf.

Ich laufe über den Markt und schaue mir die dort angebotenen Dinge an. Es gibt nahezu alles, aber heute interessiere ich mich vor allem für die Schmuckstücke.
Nicht, weil ich es will, sondern, weil es von mir so erwartet wird.

Dieses Verhalten ist notwendig, weil ich beobachtet werde.
Die Schmuckstücke sind golden oder silbern und manchmal auch mit glänzenden Steinen versehen. Es glitzert und wirkt dabei ziemlich auffällig.
Würde sie nicht in der Nähe sein, würde ich mich dafür nicht interessieren… Aber ich muss.
Wenn ich den Schein lang genug wahre, dann glaubt sie mir vielleicht eines Tages… Und dann werde ich wieder frei sein.

Ich laufe noch eine Weile von Stand zu Stand, bis ich eine Kette erblicke, die zu meinem Kleid passen könnte.
Ja, auch das Anpassen von Schmuck an die Kleidung gehört zu den Lektionen meiner Tante.
Der Anhänger der Kette ist rund und im Innern sind dunkel- und hellrote Blüten zu sehen.
Mir selbst hätten andere Ketten vielleicht besser gefallen, aber meine Tante hat so viel über Blumen erzählt… Blumen sind offenbar auch wichtig für den Adel.
Also kaufe ich die Kette.


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