Wir verließen Bärenfels und erreichten bald einen Wald, der mir viel zu bekannt vorkam.
Am liebsten wäre ich sofort wieder umgekehrt und hätte das Weite gesucht, doch es würde nicht helfen. Der Ort tauchte meistens auf. Und jedes Mal hatte er etwas mit mir vor.
Es war, als lebte der Ort.

Ich lief mit etwas Abstand hinter Rhea, Lynx und Bjorn her.
Sie sprachen über den Ort.
Sie fragten mich, ob alles in Ordnung sei.
Natürlich war alles in Ordnung.
Es war nur dieser Ort…
Je näher wir kamen, desto unwohler fühlte ich mich.
Die Erinnerungen kamen wieder.
Und immer wieder die gleichen Fragen: Wieso hatte ich die Wölfe heulen hören?
Wieso hatte Odin mir ein Zeichen gegeben als wir Gin beerdigt hatten?
Wieso hatte Odin ihn nach Walhalla geholt?
Und wieso war ich nun an diesem Ort?

„Ich hasse diese Ort.“, murmelte ich leise als wir uns dem Eingang näherten.
Immerhin näherte ich mich dem Eingang unverletzt. Ich war nicht sicher, wann das das letzte Mal der Fall gewesen war.
Die drei betraten den Ort und setzten sich auf eine der Bänke.
Sie forderten mich auf, mich ebenfalls zu setzen, doch ich zögerte.
Es kam mir gefährlich vor.
Ich fürchtete mich vor diesem Ort.
Breeg kam zu uns.
Er hatte sich sein Mundtuch ins Gesicht gezogen und kam mir wie ausgewechselt vor.
Nicht ein Wort kam über seine Lippen, doch er setzte sich zu den Anderen an den Tisch.
„Anastasya, setz dich jetzt!“, wiederholte Bjorn sich bereits zum dritten Mal.
Er klang sauer. Ich wollte ihn nicht verärgern, doch scheinbar war ich sehr gut darin.
Seufzend setzte ich mich neben Rhea.
Sie hatte am Turm versucht, mir zu helfen.
Ich musste an diese Vision denken.
Und an das, was es mit meiner Stimme gesagt hatte.

„Wie viel Schmerz kann deine Seele ertragen?
Wie laut dein Herz in fremder Brust schlagen?
Wie viel Realität deine Augen betrachten?
Wie viel der Wahrheit dein Geist verkraften?“

Doch seitdem war die Stimme verstummt.
War es, weil sie Kirren im Wald ausgesetzt hatten?
Weil er vermutlich geflohen war?
Trotzdem fühlte es sich irgendwie seltsam an.
Anders.

Ich hörte, dass sich andere Personen näherten, doch wegen der Kapuze im Gesicht konnte ich sie nicht sehen. Die Stimmen kamen mir zwar bekannt vor, doch ich konnte sie nicht zuordnen.
Sie sprachen mit Bjorn, schienen ihn zu kennen.
Nachdenklich starrte ich meine Hand an.
Der Verband hatte sich unterwegs gelöst und die Fingerkuppen waren wieder etwas dreckig geworden.
Ich hoffte, dass es dennoch ordentlich verheilen würde.
Immerhin war es schon einen Mond her.
Die Personen fragten auch nach mir, fragten Bjorn, was mit seiner Begleiterin los sei.
Ich schwieg.
Sie wichen der Frage aus.
Wer wollte ihnen schon erzählen, dass ich gefoltert worden war.
Und wozu?
Vermutlich war es besser, wenn sie es nicht wussten.

„Wieso habe ich die Wölfe gehört?“, fragte ich dann. Ich musste es einfach loswerden. Ich musste herausfinden, was Odin wollte.
„Das muss ein Zeichen von Odin sein.“, erwiderte Rhea.
„Aber hat er mich verlassen.“, gab ich zurück. Es tat weh, das auszusprechen. Doch ich wusste, dass in Walhalla kein Platz für mich sein würde.
„Nein! Du hast die Wölfe doch auch gehört! Gin wurde nach Walhalla gebracht. Odin hat auf dich gehört!“
Wie sollte ich das glauben?
Wieso hatte er mir denn nicht hier im Wald geholfen.
„Vielleicht stellt Euch Eure Gottheit vor eine Prüfung.“, kam es von der Seite. Eine Stimme, die mir irgendwie bekannt vorkam, aber doch fremd war. Es musste lange her sein.
Ich hob den Blick etwas.
Weiße Gewandung. Einen Bogen. Pfeile. Viele Pfeile.
Wie war noch sein Name?
Es musste einige Monde her gewesen sein.
Aber vor was für eine Prüfung sollte Odin mich stellen?

„Anastasya. Ich glaube, dass du einfach nur an Odin glauben musst. Lass uns doch beten zu ihm.“, schlug Rhea mir vor.
Beten?
Ich hatte lange nicht mehr zu ihm gesprochen.
Eigentlich war ich mir sicher gewesen, dass er mich verlassen hatte.
Doch… wollte ich mich wirklich damit abfinden?
Hatte ich all die Jahre gekämpft und zu ihm gesprochen, um nach Helheim zu gelangen?
Ein Zittern fuhr durch meinen Körper, als ich an Helheim dachte.
Nein, das durfte nicht passieren.
Ich musste Odin davon überzeugen, dass ich eine starke Kriegerin war.
Dass ich ihm diente und dass er sich auf mich verlassen konnte.

„Geht ihr nicht alleine beten!“, polterte Bjorn sauer.
„Wenn ihr hier beten wollt, können wir auch etwas weg gehen. Ihr solltet diesen Ort aber nicht verlassen.“, erklärte der Bogenschütze, dessen Name mir nicht einfallen wollte.
„Nein, wir brauchen die Ruhe des Waldes.“, gab Rhea zurück.
„Njet! Komme ich mit!“, kam es dann von Bjorn.
Im Hintergrund ertönte das Grollen von Donner.
Thor.
Missfiel ihm, dass Bjorn mitkommen wollte?
War es ein Zeichen?
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Es war besser, alleine zu beten.
Nur mit Rhea.
Bjorn wirkte viel zu aufgebracht.
Außerdem kam es mir richtig vor, wenn sie mich begleitete.
„Wir sind bewaffnet, uns kann nichts passieren.“, fügte Rhea hinzu.
„Und was ist passiert letzte Mal als du in Wald bist?“, grummelte Bjorn und sah mich an.
Ich zuckte zusammen.
Das letzte Mal.
Der Wald.
Ich erstarrte.
„Da… Wird nicht…wieder…passieren.“, stammelte ich.
Ich wollte nicht wieder daran denken.
Wieso bekam ich es nicht aus meinem Kopf?

Rhea und ich erhoben uns von der Bank.
In der Ferne ertönte noch immer das wütende Geräusch des Donners.
Thor war wütend.
Und Bjorn auch.
Doch wir verließen das Phönixnest und uns hielt niemand auf.
Ich war mir noch immer nicht sicher, ob es richtig war.
Rhea nahm meine rechte Hand und legte sie in ihre während wir liefen.
Ihre Hand war warm. Sicher. Es beruhigte mich.

Wir liefen den Weg entlang und den steilen Berg hinauf.
Es war genau dieser Wald. Der Wald, in dem alles begonnen hatte.
Ich war langsam, doch Rhea hetzte mich nicht.
„Wir müssen noch ein Stück weiter.“
Ich zögerte.
Dann wusste ich, was sie wollte.
Ich blieb stehen und starrte sie an.
Am liebsten wäre ich weg gerannt.
Ich Feigling.
„Wir müssen zu dem Ort, an dem du deinen Glauben verloren hast. Dort hat Yggdrasil seine Wurzeln geschlagen.“
Noch immer starrte ich sie an.
Ich wollte nicht mehr zu dem Ort.
Mit jedem Augenblick, den ich darüber nachdachte, wurde es klarer.
Sie hatte Recht.
Wir mussten zu diesem Ort.
„Da…“, erwiderte ich leise. „Hast du Recht.“

Wir liefen ein Stück weiter in den Wald.
Ich erkannte die Stelle wieder. Hier hatte er uns überrascht. Hier hatte die Falle gestanden, mit der ich ein Tier fangen wollte.
Genau hier. Vor einem Mond.
„Bjorn, was machst du hier?“, fragte Rhea auf einmal.
Ich sah auf.
Tatsächlich, dort stand Bjorn. Er war außer Atem. War er etwa außen herum gerannt? Was wollte er hier? Wir hatten ihm doch gesagt, dass er uns alleine lassen sollte.
„Wollt ihr dorthin?“, fragte er dann. Er wirkte wütend.
„Ja. Wir müssen zurück an jenen Ort.“, erwiderte Rhea.
„Ist nicht gut dorthin zu gehen, wo es passiert ist!“, widersprach er.
„Doch. Wir müssen. Dort hat alles angefangen, nur dort können wir es beenden. Yggdrasil hat dort seine Wurzeln geschlagen.“, erklärte Rhea nun auch ihm.
Er zögerte. Dann entfernte er sich einige Schritte von uns.
„Ich warte genau hier.“
Wir nickten und liefen weiter in den Wald hinein.
Sie hielt noch immer meine Hand.
Es beruhigte mich, beruhigte mein Herz.

Wir kamen an dem Ort an. Nicht ganz die Stelle, aber der Platz.
Rhea setzte sich auf einen umgefallenen Baumstamm und bat mich, es ihr gleich zu tun.
Wir wollten zu Odin sprechen.
Ich wollte es versuchen.
Ich wollte ein Zeichen.
Ich wollte wissen, woran ich bin.
Und genau das drückte ich auch aus.
Flüsternd sprach ich zu Odin, sagte ihm, dass ich seine Kriegerin sei. Sagte ihm, dass ich für ihn kämpfen würde und dass ich nicht verstand, warum er mich verlassen hatte.

Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich die Katze.
Die Katze, die ich schon so oft getroffen hatte und die mir schon einmal das Leben gerettet hatte.
Wobei die Katze eher ein Kater sein musste. Er konnte ja sprechen und die Stimme klang männlich.
Der Kater kam hinter einem Baumstamm hervor und näherte sich mir.
Er starrte mich eine Weile an. Was hatte er vor?
„Du hast Schlimmes erlebt.“, sagte er auf einmal.
Ich zögerte, dann nickte ich langsam.
Hinter mir raschelte es. Ich drehte mich nicht um.
„Ich kann dir helfen.“, kam es von dem Kater. Ich blickte ihn fragend an.
„Wie helfen?“
Das hatten schon so viele behauptet.
„Ich kann dir Traum geben.“, gab er zurück.
Ich sah ihn an.
Würde es helfen?
Ein Traum?
Was für einen Traum meinte er denn?
„Leg dich hin.“, forderte er mich auf.
Ich zögerte, doch dann folgte ich seiner Aufforderung.
Vielleicht konnte er wirklich helfen.
Immerhin hatte ich auch die Wölfe gehört…
Vielleicht konnte es wirklich besser werden.
„Waffen brauchst du nicht. Leg Kopf in meine Richtung.“
Ich nickte und legte meine Waffen neben mich ins Laub.
Dann legte ich mich auf den Rücken.
Er bedeckte meine Augen mit einem Tuch.
Ich spürte, wie meine Augen schwerer wurden, gleichzeitig strömte ein wohlriechender Duft an meine Nase. Er erinnerte mich an etwas. Heimat.

Ich erwachte auf einer Wiese. Der Himmel war blau und klar.
Ich erhob mich und lief ein Stück in Richtung Wald.
Der Wald kam mir bekannt vor.
Völlig unbeschwert und leichtfüßig durchquerte ich den Wald. Die Bäume waren dicht und hochgewachsen. Der Boden war von Laub bedeckt.
Plötzlich hörte ich Schreie.
Ich näherte mich den Schreien und dann sah ich es.
Ich sah mich selbst.
Und Kirren.
Kirren mit dem Dolch in der Hand.
Kirren, wie er auf mich einstach.
Mich, wie ich schrie.
Ich sah mich.
Ich hörte mich.
Es war furchtbar.

Auf einmal fand ich mich an einem komplett weißen Ort wieder.
Ein Rabe verfolgte mich.
Hugin?
Munin?
Nein, der Rabe sah böse aus. Furchteinflößend.
Sein linkes Auge war rot.
Das konnte keiner von Odins Raben sein.
Er setzte sich auf meine Schultern, krächzte ohrenbetäubend.
Ich wollte es nicht hören, doch ich konnte ihn nicht verscheuchen.
Wenig später kam eine Taube angeflogen, ganz in weiß.
Sie flog zu mir, zu der Schulter, auf dem der Rabe saß.
Das Gewicht von meiner Schulter fiel plötzlich ab.
Ich drehte den Kopf und der Rabe war verschwunden.
Dort saß nun nur noch die weiße Taube und sah mich an.

Erneut fand ich mich auf der Wiese wieder.
Ich lief über die Wiese. Mein Herz fühlte sich frei an. Freiheit in ihrer reinsten Form. So, als würde ich es der Taube gleich tun und losfliegen.

Ich erwachte auf dem Waldboden.
Das Tuch wurde von meinen Augen genommen und ich blickte zu dem Kater.
„Fühlst du dich besser?“, fragte er.
„Da.“, erwiderte ich leise.
Auf einmal das Rascheln von Laub.
Ich erhob mich und sah, dass der Kater im Laub lag.
Und im nächsten Moment verstand ich auch, warum: Bjorn stand hinter ihm. Mit seiner Axt.
„Bjorn! Wieso?“
„Was hat er gemacht?“, polterte Bjorn.
„Nichts! Er hat geholfen!“, antwortete ich verzweifelt. Was fiel ihm nur ein? Wieso hatte er den Kater ohnmächtig geschlagen?
„WAS HAT ER GEMACHT?“, wiederholte er.
Ich schüttelte den Kopf.
„Er hat nichts gemacht!“
Die Tränen stiegen in meine Augen.
„Anastasya!“, hörte ich in der Ferne meinen Namen.
Es klang nach Rhea, aber irgendwie auch nicht.
Ernster. Strenger.
Was war nur los?
Ich sah, wie Breeg und Lynx durch den Wald auf uns zu kamen.
„Lynx! Ich brauche deine Hilfe. Kannst du dich um Katze kümmern?“, bat ich sie.
„Anastasya!“, schallte es wieder von Weitem durch den Wald.
„Da?“, rief ich zurück.
„Du sollst herkommen!“, forderte die Stimme mich auf.
Ich rannte los, der Stimme entgegen.
Ich sah Rhea auf einem Baumstamm sitzen, sie hatte mir den Rücken zugewandt.
„Anastasya. Komm zu mir.“, sprach sie, doch ihre Stimme klang nicht ganz wie ihre.
Die Betonung war ganz anders.
Als ich mich Rhea näherte, sah ich, dass Blut aus ihren Augen ihre Wangen hinablief.
Blut.
Was war nur mit ihr passiert?

Jemand Anderes näherte sich Rhea.
Er kam mir bekannt vor.
„Habt Ihr etwas von Untoten gehört?“, fragte er.
Es war der Mann mit dem großen Hammer, doch seine Stimme klang anders.
Außerdem hatte er mit seinem Turban nun auch sein Gesicht verdeckt.
Ich beobachtete ihn verwirrt.
„Geht es Euch gut? Es sieht irgendwie nicht so gesund aus.“, merkte er an.
Konnte er es wirklich sein?
Beim letzten Mal, als ich ihn gesehen hatte, hatte er doch auch nicht so seltsam geredet.
„Nein, ich weiß nichts über Untote.“, erwiderte Rhea ernst.
„Na gut.“, gab er zurück und drehte sich zu mir um. „Oh, ich grüße dich, Anastasya.“
Er musste es sein.
Woher sonst sollte er meinen Namen kennen?
„Hallo.“, erwiderte ich verwirrt.
Was war denn mit ihm los?
„Ihr seht aus, als würdet ihr beten wollen.“
Er klang so fremdländisch.
„Das könnt ihr vielleicht gebrauchen.“, fügte er hinzu und hielt mir zwei Federn hin.
„Habt…Dank.“, antwortete ich verwirrt und streckte meine rechte Hand aus, um nach den Federn zu greifen.
Dann entfernte er sich wieder von uns. Doch er redete weiterhin. Ich verstand nicht genau, was er sagte, doch es klang, als würde er sich unterhalten.
Nur, dass niemand anderes dort war, der ihm antworten konnte.
Verwirrt sah ich ihm nach.
Dann wand ich mich wieder Rhea zu.

„Rhea? Was ist mit dir?“, fragte ich.
„Anastasya. Ich bin Odin, Allvater. Komm zu mir.“
Ich erstarrte.
Odin… Allvater?
Wie fremdgesteuert ging ich auf Rhea zu. Und sank auf die Knie.
„Stehen die Menschen noch immer dort?“
Ich sah an Rhea vorbei und erblickte Lynx und Bjorn.
Sie kamen näher.
„Da. Sind sie noch dort.“, erwiderte ich leise.
„Bleibt stehen! Kommt nicht näher. Ich muss mit Anastasya alleine reden!“, erklang Rheas Stimme.
„Was willst du von ihr?“, fragte Bjorn laut.
„Ich, Odin Allvater, möchte mit Anastasya reden! Bjorn, halte dich fern!“
Mein Körper erzitterte. Odin. Odin war hier. Er wollte mit mir sprechen.
Die Anderen hörten auf das, was der Allvater sagte und hielten sich von uns fern, doch ich hörte Bjorn fluchen.
Es schien ihm gar nicht zu gefallen.
Doch er wies auch die Anderen an, nicht zu uns zu kommen.
„Ich glaube nicht an Euren Gott.“, hörte ich eine Stimme von der anderen Seite.
Ich hob den Blick.
Der Mann mit dem Hammer.
Er hatte sich Odins Willen widersetzt?
Doch mir blieb nicht viel Zeit, darüber nachzudenken.
Im nächsten Moment fielen meine Augen zu. Ich spürte die Blätter an meiner Haut, danach war alles fern.

Irgendetwas war seltsam.
Der Waldboden um mich herum bewegte sich. Fing an zu bröckeln, zu brechen. Ganz so, als würde er sich auflösen. Hektisch suchte ich nach etwas, an dem ich mich festhalten konnte, doch ich fand nichts. Der Waldboden. Es war nur der Waldboden hier. Nur Laub. Nicht mehr, nicht weniger. Doch Laub allein konnte mich nicht halten.
Ich fiel hinab, fiel immer tiefer in einen Abgrund. Es war kein Boden zu sehen.
Doch ich sah etwas Anderes.
Oder besser gesagt: Jemanden.
Rhea. Es war Rhea. Sie lag hier, lag am Abgrund. Ich konnte nicht zu ihr und… sie blutete.
Es hatte sich bereits eine Pfütze dunklen Blutes um sie herum gebildet.
Was war nur passiert?
Wieso konnte ich mich nicht bewegen?
Ich war noch nicht am Boden dieses Abgrundes angelangt.
Es fühlte sich eher so an, als würde ich schweben.
Nur wie?
Und wieso?
Ich versuchte, aus diesem Schwebezustand heraus zu kommen, doch es gelang mir nicht.
Es wurde immer anstrengender. Irgendwann gab ich auf.
Doch Rhea. Sie lag dort noch immer. Es war, als versinke sie in ihrem eigenen Blut.
Eine dunkle Pfütze.
Dann sah ich, wie sich etwas aus der Pfütze erhob.
Nein, nicht etwas.
Jemand.
Es dauerte nur den Bruchteil eines Augenblicks, dann erkannte ich, wer es war.
Ich.
Mit roten Augen.
Der Schwebezustand ließ nach und ich wurde auf den Boden gedrückt.
Die Gestalt, die aussah wie ich, lachte. Das Lachen wurde lauter und lauter. Dafür verstärkte sich der Druck auf meinen Körper immer mehr.
Am liebsten hätte ich mir meine Ohren zugehalten, doch auch das wollte mir nicht gelingen.

Auf einmal fühlte es sich wieder an, als würde ich schweben. Oder fallen. Ich war mir nicht sicher.
Um mich herum entdeckte ich unzählige rote, leuchtende Kugeln.
Sie fielen, fielen mit mir. Oder schwebten.
Nein. Wir fielen in die falsche Richtung. Wir fielen nicht nach unten, sondern nach oben.
Je höher ich hinauf stieg, desto mehr bedrängten mich diese roten Kugeln.
Sie nahmen mir den Platz und ich konnte sie nicht von mir drücken.
Es wurde immer mehr. Der Druck auf meinen Körper stieg an bis ich kaum noch Luft bekam.
Ich wusste, dass ich ersticken würde.
Doch ich konnte nichts tun.
Mir wurde langsam schwindelig. Meine Sicht verschwamm.

Ich erwachte auf einer Wiese. Rhea lag neben mir. Sie richtete sich langsam auf, sah mich an.
In der Ferne vernahm ich das Plätschern eines Flusses. Es klang so ruhig. So entspannt.
Dann hörte ich langsame Schritte.
Ein Wanderer lief den Waldweg entlang. Er trug einen Mantel und einen großen Schlapphut.
Neben ihm, in einem Laubbaum, saßen zwei Raben und beobachteten Rhea und mich.
Der Wanderer kam auf uns zu, näherte sich Schritt für Schritt, bis er direkt vor uns stand.
Er sah größer aus, als ich von Weitem vermutet hatte und er erhob seine Stimme: „Rhea, Tochter des Waldes und meine Tochter, du siehst nicht gut aus, was ist mit dir geschehen? In deinem jetzigen Zustand würde Hel dich holen. Keine Sorge, ich will dir helfen, du musst mir jedoch beweisen, dass du meiner Hilfe würdig bist. Du weißt wer ich bin. Hier und jetzt werde ich dich auf eine Probe stellen, in der du beweisen musst, dass du in meinem Namen kämpfst! Ich zeige dir die Zukunft und die Vergangenheit, die Gegenwart jedoch verwehre ich dir. Vertraue deinen Freunden, denn du wirst wehrlos sein und zeig mir, dass dein Geist in der Lage ist die Wahrheiten dieser Welt zu ertragen.“
Ich starrte ihn an, ehrfürchtig, ängstlich.
Odin. Wieso sprach Odin zu uns?
Was sollte es für eine Prüfung sein?
Er drehte sich zu mir um.
Der Ausdruck in seinem Gesicht veränderte sich.
Er sah aus wie ein Vater, der erkannte, dass sein Kind ein Taugenichts war.
„Anastasya, auch du bist meine Tochter und eine Tochter des Waldes. Ich habe dir schon unzählige Male die Kraft gegeben, durch meine Zeichen anderen zu helfen und du hast die Hilfe gerne entgegen genommen. Doch nun zweifelst du an mir und glaubst nicht mehr an dich und das Vertrauen in deine Freunde schwindet auch zusehends. Viel hast du in den letzten Monden durchmachen müssen, aber ich dachte immer du wärst stärker als das. Wieso hast du mich verlassen? Auch dich stelle ich auf die Probe. Zeige mir, dass du würdig bist, die Runen und somit meine Macht zu nutzen.“

Ich schlug die Augen auf.
Was für eine Prüfung?
Vor mir lag Rhea.
Und sie blutete.
Was war passiert?
Erschrocken sah ich mich um.
„Rhea!“, schrie ich.
Sie lachte.
Wieso lachte sie?
Ihr Körper sah aus, als hätten Tiere sie zerfleischt.
Die Bissspuren kamen mir so bekannt vor.
Wölfe.
Das mussten Wölfe gewesen sein.
Aber wann? Und wieso hatten sie mich verschont? Wieso hatte ich davon nichts mitbekommen.
„Rhea! Rhea was ist passiert?“, rief ich verzweifelt.
Sie lachte.
„Es ist so warm… Das Blut…“, murmelte sie lachend.
„Rhea! Njet! Du bist verletzt!“
Ich nahm mir Verbände aus meiner Tasche und versuchte, die Blutungen zu stillen.
„Was ist mit ihr passiert?“, hörte ich eine Stimme von der Seite.
Der Mann mit dem Hammer.
Er stand direkt neben mir.
„Ich weiß es nicht!“, gab ich verzweifelt zurück. „Ich weiß es nicht…“
Ich versuchte, Rhea umzudrehen, um ihr den Verband besser umlegen zu können.
Sie lachte noch immer. War sie wahnsinnig geworden? Hatte sie keine Schmerzen?
Die Wunde war so groß. So viel Blut…
Es lief über meine Hände und ich versuchte, die Blutung zu stoppen.
Was hatte Odin gesagt?
Ich sollte zu meinen Runen zurückfinden?
Ich musste es tun.
Es gab keinen anderen Weg. Sonst würde sie sterben.

„Heil dir Odin, der du so viele Masken trägst. Eine deiner Kriegerinnen wurde verwundet und ich weiß nicht, was mit ihr passiert ist. Aber sie dient dir, Odin. Also nimm Isa“ – ich malte die Rune Isa auf den Verband – „, die Rune des Eises und kühle die Wunde. Lasse das Blut gefrieren, damit es nicht weiter austreten kann. Nimm dann Algiz“ – ich malte die Rune Algiz hinter Isa auf den Verband – „, die Rune des Schutzes und füge die Haut über der Wunde wieder zusammen, damit das Blut nicht weiter austreten kann. Denn das Blut ist das Elixier des Lebens. Nimm zum Schluss Laguz“ – auch diese Rune malte ich auf den Verband – „, die Rune des Flusses und bringe den Körper der Kriegerin wieder in Einklang. Lasse das Blut wieder fließen und hilf ihr, damit sie wieder kämpfen kann. Für Odin.“
Mir wurde schwindelig.
Das Blut an meinen Händen wurde mehr anstatt weniger.
Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
Verzweifelt starrte ich auf meine Hände und auf den Verband, der sich immer stärker rot färbte.
Ich bekam nur mit, wie Lynx und Bjorn zu mir kamen. Sie nahmen Rhea mit. Ich blieb vor dem blutigen Baumstamm knien.
Was war nur passiert?

„Anastasya, ich muss dich um etwas bitten.“, hörte ich auf einmal eine vertraute Stimme.
Ich sah auf, suchte die Quelle der Stimme.
Der Mann mit dem Hammer, der mir seinen Namen nicht verriet.
Ich blickte ihn fragend an.
Um etwas bitten?
Um was wollte er mich denn bitten?
Ich machte doch alles immer nur schlimmer.
„Du bist die Einzige, die ich kenne, die mit Runen umgehen kann.“, erklärte er. „Das ist keine klerikale Magie, deswegen kann es mir helfen.“
Ich starrte ihn noch immer verwirrt an.
Hatte er nicht gesehen, was eben passiert war?
Hatte er nicht gesehen, wie diese Wunde viel stärker blutete als vorher?
Das war doch meine Schuld!
Wieso wollte er jetzt meine Hilfe?
Ich erblickte den Kater hinter dem Mann.
Ging es ihm wieder besser?
Hatte er sich von Bjorns Schlag erholt?
Auch der Mann mit dem Hammer bemerkte es und drehte sich kurz zu dem Kater um.
„Also. Ich zeige dir jetzt etwas. Du musst mir helfen, das loszuwerden. Nicht erschrecken.“, erklärte er und zog dann das Stück Tuch des Turbans von seinem Mund.
Ich zuckte zusammen.
So etwas hatte ich noch nie gesehen.
An seiner Wange war ein seltsamer, grünlicher Auswuchs. Allgemein wirkte seine Haut eher grün.
„W-Was ist passiert?“, fragte ich schockiert.
„Das ist eine lange Geschichte, kann ich später erzählen.“, gab er zurück. „Aber erinnerst du dich an das, was ich dir über Nurgle erzählt habe?“
Ich nickte.
„Ja, so etwas in der Art ist das. Eine Mutation.“
„U-und… Wie kann ich helfen?“
„Ich brauche Jemanden, der die Wunde ausbrennt. Ich kann zeigen, wie das geht.“
Er zog das Tuch wieder hoch, um sein Gesicht zu verstecken.
Wie konnte so etwas nur passieren?
Was hatte er angestellt?
„Sicher, dass ich helfen kann…?“, fragte ich unsicher.
„Ja. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass es größer wird.“
Ich starrte ihn an.
Größer?
Das klang nicht gut.
„Keine Sorge. Ich vertraue dir da. Das ist nicht der Tag, an dem du etwas falsch machst.“
Wie konnte er sich da nur so sicher sein?
Ich hatte doch schon so viel falsch gemacht.
Ich hatte Rhea verletzt.
Ich hatte versucht, mit Odin zu sprechen.
Wieso also? Wieso war er sich so sicher?
Und wieso glaubte ich ihm auch noch?

Der Mann mit dem Hammer wand sich dem Kater zu.
„Es ist besser für Euch, wenn Ihr das nicht gesehen habt.“, riet er ihm. „Wir sollten diesen Ort verlassen.“
Ich nickte und erhob mich langsam.

Erst jetzt sah ich, dass Bjorn seine Axt liegen gelassen hatte.
Ich konnte sie nicht tragen, das wusste ich. Dafür war sie viel zu schwer.
Der Mann mit dem Hammer nahm sich der Axt an.
„Ah, ist schwerer als mein Hammer.“, kommentierte er, schaffte es aber dennoch, die Axt hochzuheben.
Ich beobachtete ihn.
„Da, deswegen kann ich Axt auch nicht tragen.“, erwiderte ich.
„Ich schon, aber dort liegen noch andere Waffen. Katze, könnt Ihr das eine Kurzschwert mitnehmen? Das Andere gehört Anastasya.“, bat er den Kater.
Ich schnappte mir schnell mein Schwert und meine Axt, während der Kater das andere Kurzschwert an sich nahm.
Dann liefen wir den Waldweg entlang, um zurück zum Phönixnest zu gelangen.
Ich verstand noch immer nicht, was mit Rhea passiert war.
Hatte ich ihr Leid angetan?
War ich Schuld an ihren Wunden?
Was für eine Prüfung wollte Odin uns stellen und was hatte das alles mit meinen Runen zu tun?

Bald stand Breeg vor uns. Sein Gesicht war noch immer versteckt. Was war nur mit ihm passiert?
Wieso sprach er nicht mit mir?
Er hielt einen Dolch in der Hand.
„Hebst du eigentlich alles auf, was du im Wald findest“, fragte der Mann mit dem Hammer ihn.
Breeg deutete mit dem Dolch in meine Richtung.
Der Dolch kam mir bekannt vor.
„Ist Dolch von Lynx.“, murmelte ich.
Ich war mir nicht ganz sicher, doch es sah ganz so aus.
Der Mann mit dem Hammer nahm den Dolch an sich.
„Findest du, dass das ein schöner Dolch ist? Willst du ihn behalten?“
Er sah etwas schräg zur Seite, doch ich verstand nicht, mit wem er sprach.
„Was sagst du?“, fragte ich verwirrt.
„Ich rede nicht mit dir“, erwiderte er sofort.
Doch mit wem sprach er sonst?

Breeg wollte weiter gehen und lief den Weg hinauf zum Wald.
Ich hielt es für keine gute Idee.
„Breeg! Weißt du doch, was letzte Mal passiert ist in diese Wald. Geh nicht!“, rief ich ihm nach, doch er reagierte nicht auf mich.
„Katze, pass mal darauf auf.“. Der Mann mit dem Hammer lehnte seinen Hammer und Bjorns Axt gegen die Katze. „Ist astrale Energie, ist aber nicht schlimm. Aber die Axt ist schwer.“, murmelte er noch und lief dann zu Breeg.
Ich sah ihnen nach und hörte auf einmal ein Geräusch von der Seite.
So, als wäre etwas ins Laub gefallen.
Die Waffen?
Ich drehte mich um und sah, dass der Kater mitsamt den Waffen umgefallen war.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte ich, konnte ihm aber nicht helfen. Vermutlich konnte ich nicht einmal den Hammer heben.
Auf einmal näherte sich etwas.
Ich drehte mich um und sah den Waldweg hinab.
Ich wusste nicht, was das war, doch ich wusste, dass es nichts Gutes bedeutete.
Schnell zog ich mein Schwert.
„Ich glaube wir haben Problem!“, rief ich und lief den Weg hinauf, in die Richtung von Breeg und dem Mann mit dem Hammer.
Hinter uns waren zwei Wesen… bestehend aus Laub.
Sie bewegten sich auf uns zu.
Sie konnten laufen.
Und sie hatten Waffen.
Ich verstand es nicht, doch ich hatte Angst.
Breeg und der Mann mit dem Hammer drehten sich um.
Sie kamen zu mir herunter gelaufen.
Sein Hammer und Bjorns Axt lagen noch immer im Waldboden bei der Katze.
„Kann ich dein Schwert haben?“, fragte der Mann mit dem Hammer und ich drückte es ihm sofort in die Hand.
Schnell nahm ich meine Axt und starrte die Gestalten aus Laub an.

Breeg griff nach seinem Bogen und den Pfeilen und begann, die Wesen aus Laub abzuschießen.
Der Mann mit dem Hammer schlug mit meinem Schwert auf eines der Wesen ein.
Das Andere kam zu mir.
Es kam auf mich zu, sah mir direkt in die Augen.
Ich wusste, dass ich kämpfen musste.
Und so holte ich aus und traf es.
Und es traf mich.
Ich sank zu Boden und drückte mit der Hand auf meinen Oberschenkel.
Die Axt hatte ich fallen lassen.
Das warme Blut rann aus der Wunde und bedeckte bald meine Hand.
„Hey! Kennst du das hier?“, rief der Mann mit dem Hammer und richtete eine Schusswaffe auf das Wesen. Es gab einen Knall, dann ging es zu Boden.
Er hatte mich gerettet.
Die Wesen zerfielen zu Laub und breiteten sich einfach auf dem Waldboden aus.
Ich hörte Geräusche, die nur von dem Kater kommen konnten.
Es klang mitleidig. Traurig.
Ich saß am Boden und versuchte, mit einer Hand und meinen Zähnen die Wunde zu verbinden, um die Blutung zu stoppen.
Dann hörte ich die Stimme von dem Mann mit dem Hammer. Wieder schien er, mit Jemandem zu reden.
„Hm, was meinst du, sind das Wiedergänger?“, fragte er und es wirkte so, als würde er auch eine Antwort bekommen. Nur, dass ich die Antwort nicht hörte. Mit wem sprach er denn da?
„Ah. Keine Wiedergänger. Gut.“, beantwortete er dann scheinbar die Frage selbst. Aber es klang eher, als würde er die Antwort eines Anderen wiederholen.
Doch ich hob den Kopf nicht, denn ich war noch immer mit dem Verbinden beschäftigt.
Es dauerte lange und ein Verband genügte nicht, da ich den ersten bereits durchgeblutet hatte.
„Soll ich Euch helfen?“, hörte ich auf einmal eine Stimme von der Seite.
„Njet.“, erwiderte ich nur. Ich würde es alleine schaffen, außerdem war ich schon fast fertig mit dem Verbinden der Wunde.
Wieso war ich so schlecht im Kämpfen geworden?
Es war alles so viel schwieriger mit nur einer Hand.
Seufzend starrte ich meine linke Hand an.
Wieso konnten die Fingernägel nicht schneller nachwachsen?
„Wir sollten raus aus diesem Wald.“
Der Mann mit dem Bogen, der die weiße Gewandung trug, packte mich an meiner rechten Schulter. Ein anderer Mann, dessen Name ich auch nicht kannte, nahm meine andere Schulter.
So halfen sie mir aus dem Wald heraus.
„Was ist mit Rhea?“, fragte ich sie atemlos. Ich musste einfach wissen, wie es ihr ging.
„Sie wurde ins Lager gebracht. Die Wunde ist verschlossen, es geht ihr also besser.“, beantworteten sie mir meine Frage.

Der Weg war anstrengend und kam mir länger vor als jemals zuvor, doch irgendwann kamen wir wieder im Dorf an. Sie legten mich am Boden ab und ich keuchte angestrengt.
Die Wunde schmerzte noch immer ziemlich.
Eine Frau trat auf mich zu.
Sie hatte dunkles Haar und spitze Ohren… Eine Elfin?
Ich wusste nicht, was sie vorhatte, doch sie hockte sich neben mich.

Ich fand mich in einer Grube wieder.
Es war, als würde sich der Boden unter mir bewegen.
Verwirrt drehte ich mich etwas. In der Ferne hörte ich eine fremde Sprache, die ich nicht verstand.
Wer redete da?
Ich sah niemanden.
Doch ich sah etwas anderes.
Schlangen.
Hunderte.
Ich lag auf Schlangen.
Es dauerte nicht lange, bis sich ihre langen Körper um mich geschlungen hatten.
Ich konnte mich nicht bewegen.
Weit entfernt erklang noch immer diese seltsame Stimme.
Dann spürte ich den ersten Schmerz. Den ersten Biss.
Ich schrie auf.
Es war, als würden sich jetzt alle Schlangen gleichzeitig in meinem Körper verbeißen. Ganz so, als würden sie mich zerreißen.
Ich schrie lauter, doch Bewegen konnte ich mich trotzdem nicht.

Ich erwachte schreiend und sah mich um.
„Muss man mir doch sagen, wenn man keine Magie anwenden darf.“, hörte ich Jemanden meckern.
Etwas panisch und schwer atmend sah ich mich um.
Die Wiese im Phönixnest.
Was war passiert?
Wer hatte da gesprochen?
Die Stimme… Es war wie die Stimme in der Schlangengrube.
Aber wieso? Wie konnte das sein?
Ich hob den Blick langsam.
Die Elfen-Frau.
Was hatte sie gemacht?
„Keine Magie anwenden!“, hörte ich auf einmal Lynx schreien.
Ich drehte den Kopf.
Tatsächlich, dort saß Lynx.
Magie?
Was für eine Magie denn?
Ich verstand die Welt nicht mehr.

Lynx kam zu mir, um die Wunde zu nähen.
Sie wickelte den Verband ab.
„Ich brauche Alkohol.“, erklärte sie und blickte sich suchend um.
„Da. Habe ich Metka.“, erwiderte ich und zeigte auf meine Tasche.
Sie nahm die Flasche, öffnete sie und kippte den Alkohol auf meinen Oberschenkel.
Ich schrie laut auf und fluchte. Wieso musste das immer so schmerzen?
Ich war doch schon so oft verletzt worden, doch der Schmerz beim Reinigen war bisher immer gleich schlimm geblieben.
Knurrend nahm ich die Flasche in die Hand und trank selbst etwas davon.
Dann begann Lynx damit, die Wunde zu nähen.
Ich hasste es so sehr.
Bei jedem Stich schrie ich auf und knurrte. Die Finger der rechten Hand vergrub ich im Erdboden. Ob es mir half, wusste ich nicht, doch irgendwie war es dann erträglicher.
Nach sechs Stichen war sie endlich fertig und wickelte einen neuen Verband um die Wunde.
„Hab Dank.“
Ich nahm noch einen Schluck aus meiner Metka Flasche.
Dann kam Bjorn zu mir.
„Anastasya. Was ist?“, fragte er mich.
„Nichts… Ist wieder gut. Ist nicht schlimm.“, erwiderte ich leise. „Haben mich nur Laub-Wesen angegriffen.“

Der Mann mit dem Hammer kam auf mich zu.
„Anastasya, ich will jetzt nicht hetzen, aber könntest du mir bald helfen…?“, fragte er mich.
Ich blickte fragend zu ihm auf.
Stimmt. Ich sollte ihm ja helfen… Wie auch immer ich das anstellen sollte.
Vorsichtig erhob ich mich.
Mein Oberschenkel schmerzte noch immer, doch es half nichts.
Er hatte mir außerdem das Leben gerettet.
Wie auch immer ich ihm helfen konnte, ich würde es tun.
„Bjorn. Ihr könnt mitkommen.“. Er wand sich Bjorn zu.
„Wir sollten etwas weiter weg gehen. Kennt ihr den anderen Steinbruch? Lass uns dorthin gehen.“, schlug er uns dann vor.
Ich humpelte in die Richtung, doch der Kater kam bald, um mich zu stützen.

Beim anderen Steinbruch angekommen setzte er mich auf einem Holzgestell ab.
Der Mann mit dem Hammer stellte seine Tasche neben mir ab und nahm einen Zinnbecher mit etwas Leuchtendem darin heraus.
Es sah aus wie eine Art Stein, nur, dass es sehr stark leuchtete.
So etwas hatte ich noch nie vorher gesehen.
Er nahm noch etwas aus seiner Tasche und legte es auf das Holzgestell.
Ich brauchte einen Moment, um es zu erkennen.
Es war ein Totenschädel. Er sah menschlich aus.
Der Mann mit dem Hammer begann, mit dem Totenschädel zu reden und wir sahen ihn fragend an.
War es etwa die ganze Zeit der Schädel gewesen, mit dem sich der Mann unterhalten hatte?
„Wieso redet Kopf?“, fragte Bjorn.
„Ja… Ich glaube, der war einfach zu lange mit dem Stein zusammen in der Tasche.“, überlegte der Mann mit dem Hammer. „Das war mal ein ganz normaler Schädel.“
Bjorn und ich blickten gleichzeitig zu dem Schädel, dann zu dem leuchtenden Stein.
Das war doch alles seltsam.
Träumte ich?
„Du musst diese…Wunde gleich mit dem Stein ausbrennen.“, erklärte er mir. „Du darfst den Stein aber nicht anfassen.“
„Wie ist passiert?“, fragte Bjorn.
Er erklärte uns von den Chaos-Gottheiten, von denen mir Sophia bereits erzählt hatte.
„Es ist nicht so, als ob ich diesen Gott verehren würde, aber… ich bin da rein geraten.“
Dann sah er zu Bjorn.
„Du musst mich gleich niederschlagen. Bei Bewusstsein möchte ich das nicht mitbekommen.“
„Ich darf dich schlagen?“, fragte Bjorn sofort. Er klang überrascht, aber zufrieden.
„Ja. Aber nicht mit der scharfen Seite der Axt!“, gab er zurück.
Der Kater näherte sich uns.
„Ich kann Menschen auch schlafend machen ohne schlagen.“, erklärte er.
„Njet! Ich darf ihn schlagen!“, rief Bjorn grinsend.
„Also… Ich darf Stein nicht berühren, da? Aber an Becher darf ich?“, fragte ich nochmal nach. Nur, um sicher zu gehen. Ich wollte nichts falsch machen.
„Ja, genau.“, erwiderte er und kniete sich auf den Boden.
„Darf ich schlagen?“, fragte Bjorn ungeduldig.
„Nein. Ich bete jetzt zu der Gottheit.“, erwiderte er und zog seinen Turban aus.
Ich starrte ihn verblüfft an.
Er hatte tatsächlich Haare unter dem Turban. Und er war blond?
Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.

Er begann zu beten und sprach zu seiner Gottheit. Ich verstand nicht, was er sprach und so beobachtete ich zunächst Bjorn, der ziemlich aufgeregt wirkte.
Freute er sich so sehr, diesen Mann schlagen zu dürfen?
Hatte es ihm nicht gereicht, den Kater niederzuschlagen?
„Darf ich schlagen?“, fragte Bjorn dann, während der Mann mit dem Hammer noch am Beten war.
„Ich bete noch.“, gab er zurück.
Bjorn sah fragend zu mir.
„Darf ich jetzt?“, flüsterte er.
Ich seufzte.
„Bjorn, sei nicht so ungeduldig…“
Unsicher beobachtete ich den Mann.
Würde ich es wirklich schaffen, ihm zu helfen, ohne ihm zu schaden?

„Bjorn. Du darfst.“, kam es dann von dem Mann mit dem Hammer.
Bjorn grinste. Er wirkte glücklich. Ich beobachtete schockiert, wie er ausholte und den Mann niederschlug.
Er ging direkt zu Boden, fiel aber auf den Bauch. So konnte ich diese Mutation kaum ausbrennen…
„Bjorn. Kannst du helfen. Müssen wir umdrehen ihn!“, bat ich Bjorn.
„Hat er nur gesagt soll ich schlagen.“, erwiderte er.
„Bjorn! Ich kann nicht alleine umdrehen!“
Bjorn gab nach und half mir, ihn auf den Rücken zu drehen. Dann lief ich um den regungslosen Körper herum und kniete mich nieder.
In der rechten Hand hielt ich den Becher mit dem Stein darin.
Mein Körper zitterte. Ich hatte Angst, ihm weh zu tun.
Vorsichtig führte ich den Stein an diese seltsame Mutation an seiner Wange.
Je näher ich kam, desto mehr zitterte meine Hand.
Reiß dich zusammen!, ermahnte ich mich. Es durfte nicht schief gehen.
Als ich dieses Ding mit der Spitze des Steins berührte, leuchtete dieser hell auf.
Ich hielt meine linke Hand vor meine Augen, da das Licht in meinen Augen brannte. Es war so unerträglich hell… Noch nie hatte ich Vergleichbares gesehen.
Außerdem fing es an zu stinken.
Schlimmer noch als verbranntes Fleisch.
Hustend und keuchend zog ich mir mein Mundtuch vors Gesicht.
Bjorn entfernte sich einige Schritte und keuchte ebenfalls.
Doch ich hörte nicht auf. Ich musste diesem Mann helfen. Ich wollte ihm helfen. Unbedingt.
Und wenn er sich so sicher war, dass ich es schaffen würde, dann musste ich doch nur an mich glauben. Oder etwa nicht?
Ich konnte zwar wegen des starken Leuchtens nicht mehr allzu viel erkennen, doch es wirkte ganz so, als würde es bereits schrumpfen.
Hatte ich es richtig gemacht?
Immerhin war es noch nicht größer geworden.
Das war gut, oder?
Das helle Licht brannte in meinen Augen, die langsam anfingen, zu tränen.
Ich musste mich konzentrieren und kniff sie etwas zusammen, um weiter machen zu können.

Bald wurde das Leuchten weniger. Vorsichtig stellte ich die Tasse ab.
Aus der Tasse sollte man wohl besser nicht mehr trinken.
Dann sah ich den Mann an.
Es wirkte ganz so, als hätte ich es wirklich geschafft.
Diese seltsame Mutation schien fort zu sein.
Bjorn kam wieder näher.
Der Kater hatte sich zu den Bäumen am Rande des Steinbruchs verzogen. Vermutlich gefiel ihm nicht, was dort passiert war.
„Und jetzt? Hat er nicht gesagt was jetzt!“, rief Bjorn auf einmal und stellte sich zu dem Mann. „Hast du ihn getotet!“
„Njet!“, schrie ich zurück. „Hast du ihn niedergeschlagen, nicht ich!“
Schnell kniete ich mich an die rechte Schulter des Mannes und versuchte, seinen Puls zu erfühlen.
Beim letzten Mal, als ich bei Jemandem den Puls fühlen wollte – Nein, daran wollte ich gar nicht denken.
Und schon spürte ich das ruhige, aber konstante Schlagen seines Herzens.
Erleichtert atmete ich auf.
„Ich spüre Puls. Lebt.“
„Hab ich doch gesagt!“, rief Bjorn.
„Njet!“, erwiderte ich. „Hast du gesagt ist er tot!“
Doch er wachte nicht auf.
Blieb einfach dort liegen.
„Was sollen wir machen?!“, fragte Bjorn.
Er wirkte nervös.
Da ging es ihm wie mir.
„W-Warten wir ab? Müssen wir… warten, bis er wach wird?“
Ich war mir nicht sicher.
„Hatte Cato immer irgendwas komisches dabei, damit ich wach werde.“, überlegte ich.
Wieso war Cato nicht da?
Oder Runa?
Beide hätten uns helfen können.
Ich sah zu dem Kater, der noch immer in einiger Entfernung unter Bäumen hockte.
„Katze!“, rief ich ihm zu. „Hast du etwas zum Menschen wecken?“
Er antwortete nicht, doch es wirkte nicht so, als hätte er etwas dabei.

„Soll ich wach schlagen?“, fragte Bjorn, doch er wartete nicht auf eine Antwort.
Er nahm das stumpfe Ende der Axt und schlug dem Mann auf den Kopf.
„Bjorn! Nicht!“, rief ich schockiert, doch es interessierte ihn nicht. „Das macht doch alles nur schlimmer!“
Er holte erneut aus.
„Njet!“, schrie ich. Wieder hörte er nicht auf mich.
Er traf ihn abermals am Kopf.
Doch diesmal gab der Mann Geräusche von sich.
„Hat er jetzt zwei Beulen mehr, ist er aber wach.“, rechtfertigte Bjorn sich.
„Hat funktioniert?“, fragte ich vorsichtig und beobachtete den Mann. Ich hoffte, dass es ihm einigermaßen gut ging.
„Ja, ich denke schon.“, erwiderte er.
Seine Stimme klang jetzt wieder normal. So, wie ich sie von der letzten Taverne in Erinnerung hatte.
„Ist Stimme auch wieder anders.“
„Ja, das ist auch so ein Nebeneffekt davon.“, erklärte er.
Bjorn sah schockiert zu mir.
„Haben wir vielleicht auch sowas?“, fragte er mich.
Ich sah ihn verwirrt an, schüttelte aber den Kopf.
„Nur weil alle sagen wir sprechen komisch? Njet. Ich denke nicht.“, antwortete ich ihm.

Der Mann mit dem Hammer blieb noch eine Weile auf dem Boden sitzen, dann band er sich seinen Turban wieder um.
Es schien wirklich geholfen zu haben, denn es schien ihm besser zu gehen.
„Anastasya!“, hörte ich ein Rufen.
Ich sah mich um, doch ich erkannte nicht, woher es kam.
Verwirrt sah ich zu Bjorn und dem Mann mit dem Hammer.
„Habt ihr auch gehört, da?“, fragte ich. Nicht, dass ich schon wieder Stimmen hörte.
„Ja, Jemand hat dich gerufen.“, gab der Mann mit dem Hammer zurück.
„Anastasya! Schnell!“, erklang es erneut.
Ich sah mich um. Dann endlich erblickte ich sie. Lynx. Mit Rhea. Sie liefen am Steinbruch vorbei.
Was war denn los?
Bjorn lief los und ich versuchte, ihm hinterher zu rennen, aber mein Bein schmerzte noch so sehr, dass ich lediglich humpeln konnte.
Der Mann mit dem Hammer kam zu mir und wollte mich stützen.
„Nicht so rennen.“, riet er mir und half mir, den Steinbruch zu verlassen, um auf den etwas breiteren Waldweg zu gelangen.
Dort lagen Rhea und Lynx.
Auf dem Boden.
Im Laub.
Was war los?
Ich sah zu dem Mann mit dem Turban, der mich noch immer stützte.
„Willst du dich knien?“, fragte er und ich nickte.
„Danke.“, murmelte ich und kniete mich zu Rhea.
Der Kater war uns ebenfalls gefolgt und setzte sich schräg neben mich.
„Rhea.“, flüsterte ich.
Was war nur mit ihr los?
Dann sah ich es plötzlich. Sah, was los war.

Die Wölfe, sie kamen angerannt. Ein ganzes Rudel. Die Augen waren rot. Sie rannten auf Rhea zu. Nicht zu mir, nein, mich ließen sie einfach dort liegen. Doch Rhea. Sie verfolgten sie.
„Rhea! Die Wölfe! Renn!“, schrie ich ihr zu. Sie gehorchte mir. Sie lief. Sie rannte.
„Helft Rhea! Tötet die Wölfe! Sie dürfen sie nicht kriegen!“, schrie ich.
„Wieso kann ich mich nicht bewegen?! Wieso?!“
Ich versuchte es, doch es gelang mir nicht. Nicht einmal nach meinen Waffen konnte ich greifen.
Ich konnte nur zusehen, zusehen, wie das hungrige Rudel der Wölfe weiter hinter Rhea her lief.
Sie rannte. Sie war schnell, doch sie trug keine Waffe bei sich.
Das Knurren hörte ich noch, obwohl ich die Wölfe nicht mehr sehen konnte. Sie waren in der Ferne verschwunden. Genau wie Rhea.

Keuchend sah ich mich um.
Wo war ich?
Der Waldboden. Dieser Ort…?
Ich erblickte den Kater. Was war passiert?
„Rhea…?“, fragte ich verwirrt.
War das ein Traum gewesen?
Nein.
Ich hatte doch die Wölfe gesehen?
Sie waren so echt gewesen.

Bjorn und Lynx kamen mit Rhea zurück. Ich erhob mich.
Sie stützten sie. Was war los?
Dann sah ich sie.
Ihre Augen.
Sie waren weiß. Milchig. Blind.
„Rhea?!“
Sie brachten sie zurück in das Dorf.
Was war nur passiert?
Wie?
Und warum?
Ich folgte ihr.
Der Bogenschütze in der weißen Gewandung stand direkt vor dem Dorf und unterhielt sich mit anderen Personen.
„Ach, was ist denn mit ihr? Das sieht ja gar nicht gut aus.“, kommentierte er Rheas Zustand. Ich beachtete ihn nicht. Es klang nicht, als würde er es ernst nehmen.
„Ist sie jetzt zum Abschuss freigegeben?“, fragte er lachend.
Ich blieb stehen.
„Wenn Ihr auf sie schießt, töte ich auch!“, rief ich zu ihm.
Es machte mich wütend.
Was fiel ihm nur ein?
Ich verstand die Welt nicht mehr.
Im Dorf angekommen, halfen sie Rhea und setzten mich zurück auf die Wiese.
Das Bein schmerzte noch immer, aber das war jetzt unwichtig.
„Rhea! Ich bin es. Anastasya.“, murmelte ich unsicher. „Könnt ihr sie zu mir setzen?“
Bjorn tat mir den Gefallen und setzte sie neben mir ab.
„Hast du Wölfe auch gesehen…? Bist du entkommen, eh?“
Rhea nickte langsam.
„Ja. Die Wölfe haben mich verfolgt.“
„Aber was ist mit Augen…? Sollte es nicht… Eine Prüfung Odins sein?“, fragte ich leise. „Dachte ich, könnte ich heilen dich…“
Wieder zog ich meine Kapuze tief ins Gesicht.
Bjorn kam zu mir.
„Was habt ihr gemacht?!“, fuhr er mich an. „Hast du wieder gesprochen mit Götter? Nehmen Götter Preis, weißt du!“
Ich zuckte zusammen.
„Da.“, erwiderte ich kleinlaut. „Hast du Recht.“
Ich starrte die Finger meiner rechten Hand an.
Öffnete die Hand.
Schloss sie wieder.
Wieso hatte ich auch geglaubt, dass ich mit den Göttern sprechen könne.
Nur… warum hatte Odin dann mit mir geredet? Warum wollte er mich prüfen?
Oder war es ein Werk Lokis?
Wollte er mich täuschen und ich hatte alles nur schlimmer gemacht?

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie der Kater zu Rhea ging.
Wollte er ihr helfen?
„Anastasya.“, sprach Bjorn. „Was ist jetzt? Was ist mit Augen? Was soll für Prüfung sein?“
Ich schwieg.
Ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
Der Kater half Rhea, sich auf den Rücken zu legen.
Wollte auch er ihr einen Traum schenken?

„Anastasya, was ist?!“, wiederholte Bjorn sich.
Ich schüttelte den Kopf.
Es war nicht so wichtig.
„Musst du aufhören mit Götter zu reden.“
Ich nickte.
Tränen stiegen in meine Augen.
Ich wollte damit gar nicht aufhören.
Ich wollte, dass sie mir halfen.
„Anastasya.“
„Bin ich Schuld. Weiß ich.“, erwiderte ich knapp. Meine Stimme zitterte genau wie der Rest meines Körpers.
„Tut mir Leid, bin ich dumm.“, gab Bjorn nach einem Augenblick des Zögerns zurück.
Wieder sah ich zu Rhea.
Ihr Körper bewegte sich leicht.
Sie träumte, doch der Kater schien alles im Griff zu haben.
Ich fragte mich, was ihn ermächtigte, so starke Träume zu erzeugen.
Mir hatte es geholfen.
Die Taube, ich musste wieder an sie denken

Langsam erhob ich mich und entdeckte Lynx und Breeg neben einer der hölzernen Hütten.
Mir war schon den ganzen Abend aufgefallen, dass mit Breeg etwas nicht stimmte.
Er lief schon die ganze Zeit so viel herum.
Zwischendurch hatte ich ihn gesehen, meistens war er verschwunden.
Was machte ihn so unruhig?
Wieso erzählte er es uns nicht?
Wir würden ihm doch helfen können.
Ich trat näher zu ihm.
Lynx blickte zu mir auf.
„Können wir ihm helfen?“
Ich war nicht sicher.
Er nahm zwei Dolche in die Hand und legte sie auf die Wiese.
Ich beobachtete ihn verwirrt.
Einen Dolch nahm er nun wieder in die Hand und bewegte ihn.
Er führte ihn am anderen Dolch vorbei. Dann wieder zurück zum Anfang des Dolches. Und erneut daran vorbei.
Ich verstand nicht.
„Das ist das Phönixnest.“, versuchte Lynx zu übersetzen und zeigte auf den Dolch, der ruhig auf der Wiese lag.
Ich sah zu Breeg.
Er nickte.
„Und das ist er.“. Lynx zeigte auf den Dolch, der sich bewegte.
Breeg nickte und ich begann zu verstehen.
Er konnte den Ort nicht verlassen.
Er kam immer wieder.
Nur wozu?
„Wieso sprichst du nicht? Was ist?“, fragte ich ihn.
Es war seltsam. Fast so, als habe er hohes Fieber.
Ich spürte diese Hitze, die von ihm ausging.
Da stimmte doch etwas ganz und gar nicht.
Und diese Tuch, das er schon die ganze Zeit in sein Gesicht gezogen hatte.
Ich nahm meinen Mut zusammen, trat noch einen Schritt auf ihn zu und zog das Tuch von seinem Gesicht.

Ich sah eine große, dunkle Gestalt. In der Ferne. In ihrer Hand befand sich etwas Leuchtendes, nein, brennendes. Der Speer. Der brennende Speer.
Sein Feuer bildete die einzige Lichtquelle. Wo war ich nur?
Doch es kam mir bekannt vor. Ja, ich habe diesen Speer schon einmal gesehen.
Der Turm. Genau. Dort oben, ganz oben auf dem Turm. Dort, wo der Engel gefallen war.
Doch mir blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Gestalt bewegte sich, doch näherte sich nicht mir.

Erst jetzt erkannte ich, dass noch jemand anderes hier war.
Breeg. Es war Breeg.
Es dauerte nicht lange, bis sie sich gegenüberstanden. Die Gestalt war so verhüllt, dass sie mir nicht einmal bekannt vorkam. Ich versuchte es trotzdem, blinzelte gegen das helle Licht des Feuers an.
Doch es half nicht. Der brennende Speer schnellte auf Breeg zu und stach durch ihn durch, durchbohrte seinen Körper.
Ein markerschütternder Schrei erklang. Ich schrie ebenfalls auf. Ein dunkles Feuer breitete sich in seinem Körper aus. Ich konnte es genau erkennen.

Dann hörte ich zwei Raben kreischen. Sie flogen durch die Luft und landeten auf meiner Schulter.
Hugin und Munin. Ja. Das mussten die Raben Odins sein.
Wie fremdgesteuert lief ich auf Breeg zu. Einen Schritt nach dem Anderen.
‚Anastasya. Befreie ihn von dem Feuer.‘, hörte ich eine Stimme rufen.
War es Odin?
Je näher ich kam, desto klarer wurde alles.
Um Breeg herum leuchteten Runen auf.
Gebo, Sowilo, Ansuz, Othila und … Dagaz.
Sie leuchteten. Und ich lief weiter auf Breeg zu.

Ich erwachte. Breeg lag auf dem Boden.
„Wir müssen ihm helfen.“, rief ich. „Das Feuer. Da ist ein Feuer in ihm!“
Was hatte ich da geträumt?
Woher kam diese Idee?
Wie sollte ich ihm überhaupt helfen?
Es war, als steuere mich etwas.
Ich lief über die Wiese des Dorfes und sammelte ein paar Äste und Rinde.
Feuer. Wir brauchten ein Feuer.
Es klang nicht besonders klug, ein Feuer mit einem weiteren Feuer zu bekämpfen, doch etwas in mir wusste, was ich da tat.
Also ließ ich es gewähren.
Ich kniete mich zu Boden, stapelte die Äste und Rinde auf und begann, ein Feuer zu entzünden.
Das Holz war etwas nass und so dauerte es ziemlich lange.
Ich hoffte, dass Breeg noch durchhalten würde.
Der Kater kam ebenfalls zu mir und setzte sich in meine Nähe. Er schien mich zu beobachten, doch ich fürchtete mich nicht vor ihm. Immerhin hatte er mir schon oft geholfen.
Auf einmal hörte ich Schritte.
„Was hast du vor?“, fragte eine vertraute Stimme und ich hob langsam den Blick.
Der Mann mit dem Hammer stand vor mir.
„Muss ich Feuer machen.“, gab ich zurück.
Tolle Antwort. Ich war mir sicher, dass er das auch ohne meine Hilfe erkannt hatte.
„Muss ich Breeg von dunklem Feuer befreien.“, fügte ich schnell hinzu.
Das klang vermutlich nicht weniger verwirrend.
Immerhin hatte ich es versucht.
„Wir haben draußen bei den Gräbern Runen gefunden. Du bist die Einzige, die ich kenne, die Runen lesen kann.“, erklärte er. „Ich brauche deine Hilfe.“
„Runen?“, fragte ich verwirrt. „Was für Runen?“
„Ich kann sie dir zeigen. Wir können sie nicht lesen. Draußen, bei den Gräbern.“
Ich erhob mich langsam.
„Bjorn. Kannst du dich weiter um Feuer kümmern. Bin ich gleich zurück.“, bat ich ihn. Er nickte zustimmend und kniete sich ans Feuer.
Er wusste ja mittlerweile, wie man Feuer machte.
Ich folgte dem Mann mit dem Hammer hinaus, raus aus dem Dorf.
Dort waren einige Personen am Weg versammelt.
Und noch etwas… eine seltsame Gestalt… bestehend aus Laub, aber mit einem Gesicht. Und… Hörnern?
Verwirrt blieb ich stehen.
Was war das nur?
„Hm.“, gab der Mann mit dem Hammer von sich. „Schauen wir uns die Runen trotzdem an?“
„Da.“, erwiderte ich zögernd.
Wollte er einfach an diesem… Wesen vorbeilaufen?
Würde es uns nicht angreifen?
Irgendwie bereitete es mir Sorgen.
Vorsichtshalber hielt ich meine rechte Hand an meiner Axt.
Wir liefen an dem Wesen vorbei und es schien nicht einmal Kenntnis von uns zu nehmen.

Bei der Wiese mit den Gräbern angekommen zeigte er mir ein Grab, vor dem vier Runensteine lagen.
Es war in der Finsternis etwas schwierig zu erkennen, doch der Vollmond half mir.
Ich kniete mich nieder.
Vor allem eine Rune fiel mir ins Auge.
Dagaz.
Ich starrte die Rune an.
Nicht schon wieder.
Was war nur mit dieser Rune?
Seufzend erklärte ich dem Mann mit dem Hammer die Bedeutungen der einzelnen Runen.
Es ergab keinen Sinn.
Wieso lagen diese Runensteine vor einem Grab?
Wir fanden noch einen Zettel.
Ich faltete ihn vorsichtig auf.
„Drehst du sie um, läuft die Zeit ab.“
Ich musste sofort an die Sanduhr denken.
Und die Rune, die genauso aussah. Dagaz.
Ich warf einen Seitenblick zu dem Mann mit dem Hammer.
Er schien meinen Gedanken nicht zu teilen.
Vermutlich bildete ich mir das nur ein, vermutlich sah ich die Sanduhr einfach nur überall…

„Verzeihung, ich möchte ja nicht stören, aber… Euer Freund spuckt Blut.“, hörte ich auf einmal Jemanden sagen.
Ich hob den Kopf.
Der Fremde ohne Name, den ich bereits am Turm getroffen hatte.
Ich erstarrte.
„Wer…? Breeg?“, fragte ich.
„Ja, kann sein, dass er so heißt.“
„Mit Bogen. Sehr groß?“
Der ohne Name nickte.
Ich sah zu dem Mann mit dem Hammer.
„Tut mir Leid. Muss ich Mann helfen der Blut spuckt.“
Damit erhob ich mich und rannte zurück ins Dorf.

Schnell schnappte ich mir ein paar Stöcke und Tücher, um vier Fackeln vorzubereiten.
„Bjorn. Kannst du Breeg her tragen?“, bat ich ihn. „Rhea, Lynx. Brauche ich eure Hilfe.“
Ich dachte nach.
Vier.
Ich brauchte vier Personen.
„Fremder.“, rief ich dann. „Könnt Ihr auch helfen?“
Er sah mich verwirrt an.
„Wobei helfen?“, fragte er misstrauisch.
„Müssen wir Feuer aus Breeg holen.“, erwiderte ich.
Er starrte mich weiterhin misstrauisch an.
„Willst du ihm helfen?“, fragte ich dann. Meine Stimme klang fast schon verzweifelt.
„Was soll ich denn tun?“
„Musst du nur Fackel halten!“
Er misstraute mir noch immer.
Doch wir hatten keine Zeit mehr.
Wir mussten Breeg helfen.
Bjorn legte ihn auf den Boden. Gegenüber des Feuers.
Wir entzündeten die vier Fackeln. Die erste gab ich Rhea und stellte sie direkt schräg neben das Feuer.
Die nächste überreichte ich dem Fremden. Er weigerte sich zunächst, doch ich bat ihn erneut, dann nahm er die Fackel entgegen.
Ihn stellte ich vier Schritte entfernt von Rhea, auch schräg neben das Feuer.
Die dritte Fackel gab ich Lynx in die Hand.
Sie sollte sich schräg neben Breeg stellen, der wimmernd am Boden lag.
Das Feuer schien ihm nicht zu gefallen.
Vermutlich kämpften die beiden Feuer schon miteinander.
Die letzte Fackel bekam Bjorn. Er sollte sich direkt gegenüber von Rhea stellen. Etwa zehn Schritte entfernt. Und etwa vier Schritte entfernt von Lynx.
Die Form, in der sie standen, war wichtig. Es war Dagaz.
Ich atmete tief ein, dann lief ich um meine Freunde herum, zurück zu Rhea.
Obwohl sie nichts sehen konnte, vertraute sie mir.
„Heil dir Odin, der du so viele Masken trägst. Ich habe deine Krieger hier versammelt. Ich bin eine Dienerin von dir, Odin. Und du hast mir das Feuer gezeigt, dass in Breegs Körper wohnt. Du hast Hugin und Munin, deine Raben, zu mir geschickt, damit ich Breeg von seinem Feuer befreie. Denn es ist ein böses Feuer, das in ihm wütet.“
Ich stellte mich vor Rhea.
„Streck deine linke Hand aus.“, forderte ich sie auf. Sie tat es.
Ich malte die Rune ‚Gebo‘ auf ihre Handfläche.
„Nimm Gebo, die Rune der Gabe und befreie Breeg von dem bösen Feuer, das ihm geschenkt wurde.“
Die Rune leuchtete auf.
Dann lief ich weiter zu dem Namenlosen.
„Streck deine linke Hand aus.“
Er zögerte.
„Bitte.“, fügte ich hinzu.
„Aber wieso?“, fragte er.
„Bitte!“, wiederholte ich.
„Streck deine Hand aus.“, kam es von Rhea.
Er gab sich geschlagen und streckte seine linke Hand aus.
Ich malte die Rune ‚Sowilo‘ auf seine Handfläche.
„Nimm Sowilo, die Rune der Sonne und gib Breeg die Erkenntnis, dass Feuer nicht immer schlecht ist. Zeige ihm, dass Feuer wärmen kann anstatt zu schaden.“
Ich lief weiter zu Lynx. Sie streckte sofort ihre linke Hand aus.
„Nimm dann Ansuz, die Rune Odins – deine Rune – und hilf Breeg bei dem Kampf gegen das dunkle Feuer in ihm. Stehe ihm bei als Allvater, der du bist.“
Auch diese Rune malte ich dabei in ihre Handfläche.
Dann lief ich weiter, lief zu Bjorn. Auch er streckte seine Hand aus.
Ich malte die Rune ‚Othila‘ auf seine Handfläche.
„Nimm Othila, die Rune der Heimat und zeige Breeg die Orte, an denen er sich nicht vor dem Feuer fürchten muss. Gib ihm einen Ort, an dem das Feuer ihm wärmt anstatt in ihm zu wüten.“
Zuletzt lief ich zu Breeg.
Er lag dort, regte sich kaum.
„Nimm zum Schluss Dagaz. Die Rune von Tag und Nacht.“. Meine Stimme begann zu zittern. Tränen sammelten sich in meinen Augen. „Und sorge dafür, dass dieser Zeitpunkt zu Breegs Sonnenaufgang wird. Denn er hat mir gesagt, dass nach jeder noch so kalten und dunklen Nacht immer ein neuer Morgen folgt.“
Ich malte ihm Dagaz auf die Brust. Genau neben die Wunden, die das Feuer in seinen Körper gebrannt hatte.
Dann kniete ich mich zu dem Feuer.
„Odin! Ich bitte dich.“
Ich nahm meinen Dolch und schnitt in meine linke Hand.
Das Blut tropfte in die Flammen.
„Nimm mein Blut und hilf Breeg! Kämpfe mit ihm! Gib ihm die Kraft, die er braucht, um gegen das Feuer zu kämpfen!“
Die Flammen verfärbten sich und meine Sicht verschwamm.

Ich sah, wie ein Rabe zu mir flog.
Er setzte sich auf meine Wange und wärmte meinen Körper mit seinen Federn.

Ich erwachte.
Wo war ich?
Mein Körper zitterte.
Mir war kalt.
Ich atmete hektisch.
Was war nur passiert?
Ich versuchte, die Augen zu öffnen.
Blinzelnd erkannte ich schemenhaft eine Gestalt vor mir.
Ich erschrak und wollte zurückweichen, doch mein Körper gehorchte mir nicht.
Im Gegenteil. Alles schmerzte.
Auch mein Kopf. Ich konnte mich kaum konzentrieren. Es war, als würde sich alles drehen.
Und ich lag inmitten dieser Finsternis.
„Anastasya.“
Das war mein Name.
Wer rief nach mir? Und warum? Wieso kannten sie meinen Namen?
„Du musst ruhig atmen. Einatmen. Ausatmen.“
Es kam von der Gestalt, die direkt vor mir war.
Etwas strich über meine Schulter. Es vertrieb die Panik, die in meinem Kopf wütete.
Ich versuchte, seinem Rat zu folgen und langsamer zu atmen, doch es gelang mir nicht.
Mein Körper verlangte nach Luft. Es schien gar nicht genügend Luft hinein zu passen.
Ich spürte, wie meine Lunge brannte.
„Ruhig atmen, Anastasya.“, wiederholte er.
Er kannte meinen Namen.
Ich kannte seinen nicht.
Doch ich erkannte die Stimme.
Ich blinzelte erneut, dann sah ich endlich mehr als nur die Umrisse.
Es war der Mann mit dem Hammer.
Aber wieso?
„W-Wo… wo bin ich?“, fragte ich. Meine Stimme klang so leise, so gebrochen.
„Auf einer Wiese beim Phönixnest.“, erklang die Antwort.
Wieder blinzelte ich. Dann sah ich, dass neben ihm eine weitere Gestalt hockte.
„Keine Sorge, das ist nur die Katze. Sie tut nichts.“, versuchte er mich zu beruhigen.
Ich nickte langsam. Mein Atem wurde ruhiger.
Ich kannte den Kater. Ich wusste, dass er nichts tun würde.
„Phönixnest…?“, wiederholte ich fragend. „Was ist passiert?“
„Ich weiß es nicht genau. Du lagst bewusstlos auf dem Boden im Dorf. Dann bist du auf einmal raus gerannt. Ich glaube, dass du einen Albtraum hattest.“, vermutete er.
Einen Albtraum.
Es kam mir so bekannt vor.
„Ist schon einmal passiert…“, murmelte ich nachdenklich.
Ja. Ich war schon einmal auf dieser Wiese aufgewacht.
Ich sah an dem Mann vorbei und erblickte eine Gruppe weiterer Personen.
„Wer ist das…?“, fragte ich unsicher.
Der Mann mit dem Hammer drehte sich um.
„Das… sind ein paar andere Menschen. Und die Elfe, deren Name ich immer vergesse, müsste auch dabei sein. Ich glaube, Bjorn ist auch da.“, erklärte er.
Bjorn.
Ich zuckte zusammen.
Würde er mich wieder verantwortlich machen?
War ich Schuld, weil ich wieder mit den Göttern geredet hatte?
Die Götter…?
Ich dachte kurz darüber nach.
Breeg.
Hatte ich ihm helfen können?
Ich konnte mich nicht erinnern.
Doch dieses Feuer… Dieser Flammenspeer.
Hatte ich auch das nur geträumt?
„Willst du noch dort liegen bleiben oder sollen wir aufstehen?“, fragte der Mann mit dem Hammer.
„Ich weiß nicht.“, gab ich zurück.
Alles war so seltsam.
„Ah, da kommt Bjorn.“
Ich drehte den Kopf.
Er stapfte auf mich zu, hielt die Axt mit beiden Händen.
Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte.
Mein Körper erzitterte.
War er wütend auf mich?
Ich wich etwas zurück als er näher kam.
„Anastasya.“
„Da.“, erwiderte ich leise.
„Wie geht es dir?“
Ich zuckte mit den Schultern.
Was sollte ich antworten?
„Hast du Test bestanden.“, erwiderte er. „Rhea auch.“
Ich starrte ihn verwirrt an.
Test bestanden?
„Hat Odin ihr Augen wieder gegeben.“, erklärte er.
„Hat er…?“, fragte ich verwirrt.
Was war das nur für eine Prüfung gewesen?
Und wie hatte ich sie gelöst?
„Breeg geht es auch besser.“, fügte er hinzu.
Ich starrte ihn an.
Es war also kein Traum gewesen.
Ich hatte Breeg geholfen?
Mit meinen Runen?
Hatte Odin mir meine Runen wiedergegeben?
Ein leichtes Lächeln schlich sich auf mein Gesicht.
Sollte nun alles wieder gut werden?
„Na los, du solltest von dieser Wiese aufstehen. Lass uns wieder rein gehen.“, schlug der Mann mit dem Hammer vor.
Er und Bjorn halfen mir beim Aufstehen.
Ich merkte erst jetzt, wie sehr meine Beine schmerzten, doch es war jetzt unwichtig.
Das würde auch wieder heilen.
Bjorn stützte mich auf dem Weg zurück zum Phönixnest.

Im Dorf angekommen sah ich Rhea und Lynx an einem der Tische sitzen. Ich blickte zu Rhea. Auch der Namenlose saß dort.
Und sie hatten Recht. Rheas Augen sahen wieder normal aus. Sie konnte wieder sehen. Sie hatte die Prüfung bestanden!
Und ich?
Sie hatten zu mir gesagt, dass es Breeg auch besser ging.
Ich sah mich um, fand ihn jedoch nicht.
„Anastasya. Wir haben noch mehr Runen gefunden. Wollen wir uns das mal ansehen?“.
Der Mann mit dem Hammer kam zu mir.
Ich nickte.
Ich wollte die Runen für immer ehren.
Sie waren bei mir.
Ich bildete mir ein, ihre Kraft zu spüren.
Die Macht Odins.
Hatte er mir verziehen?

Wir liefen wieder aus dem Dorf heraus, zu den Gräbern.
Direkt am Waldrand sah ich nun vereinzelte kleine Flammen auf Säulen.
Was hatte das zu bedeuten?
Der Mann mit dem Hammer lief vor, ich folgte ihm.
Der Boden in der Nähe der Säule war recht unwegsam und überhäuft mit Ästen, Laub und größeren Baumstämmen.
Er lief hinauf zu der Säule und nahm eine Rune von dort an sich.
Auch die Runen vom Grab nahmen wir mit.
Es waren Runen verschiedenster Bedeutung.
Vor allem bereitete mir die Rune „Nauthiz“ Sorgen. Sie stand für die Not.
Und natürlich Dagaz. Tag und Nacht.
Die Sanduhr, die meine Nacht bedeutet hatte.
Die Sanduhr, die dafür aber Breegs Tag eingeläutet hatte.
Eine ganz seltsame Rune.
Und doch stammten sie am Ende alle von Odin, dem Allvater.

Wir suchten noch ein paar weitere Runen und platzierten sie auf einem Tisch im Dorf.
Es waren bei Weitem nicht alle vierundzwanzig Runen.
Sollten denn alle von ihnen versteckt sein?
Und wozu?
Ich sah den Zettel an, den wir bei den Runen am Grab gefunden hatten.
„Drehst du sie um, läuft die Zeit ab.“
Ich war mir immer noch nicht sicher, aber irgendwie dachte ich weiterhin an die Sanduhr.
An Dagaz.
Außerdem lagen dort noch Raidho – die Reise, Thurisaz – der Dorn, Ehwaz – das Pferd, Laguz – der Fluss, Hagalaz – der Hagel, Algiz – der Schutz, Sowilo – die Sonne, Jera – die Ernte, Ansuz – der Mensch und Gebo – die Gabe.

Eine Frau kam zu uns und sah die Runen an, die wir gefunden hatten.
Sie kam mir bekannt vor und doch fiel mir ihr Name nicht ein.
Die beiden sprachen über die Runensteine und der Mann mit dem Hammer versuchte, ihr Aussehen zu erklären.
In Gedanken versuchte ich, die Runen seinen Erklärungen zuzuordnen.
„Es sieht aus wie ein ‚P‘, das Schluckauf hat. Deswegen ist es verrutscht.“ – Das musste Thurisaz sein.
Ich schüttelte den Kopf. Nein, ich konnte keine Witze über die Runen machen.
Sie waren mächtig.
Und doch war es interessant zu sehen, wie Menschen damit umgingen, die nicht wussten, was die Runen bedeuteten.

Der Vollmond stand hoch am Himmel und ich fühlte mich erschöpft. Mein gesamter Körper schmerzte und so beschloss ich, mich schlafen zu legen.
Eine Nacht würde ich sicher in diesem Dorf schlafen können.
Danach würden wir wieder aufbrechen.
Ich wollte meinen Weg zu Odin fortsetzen.
Ich wollte, dass die Fingernägel endlich nachwachsen würden, damit ich wieder würdig für ihn kämpfen konnte.
Und ich brauchte Schlaf. Ich wollte alles schaffen. Für Odin.
In einer der Hütten wurde uns ein Schlafplatz angeboten.
Ich legte mich hin und schlief sofort ein.

Am nächsten Morgen erwachte ich.
Als ich mich erheben wollte, spürte ich, wie mein gesamter Körper schmerzte.
Ich brauchte einen Moment, um zu verstehen, was alles passiert war.
Breeg.
Rhea.
Die Runen.
Odin.
War das alles wirklich passiert?
Und hatte ich die Prüfung tatsächlich bestanden?
Konnte ich meine Runen wieder einsetzen?
Ich war mir noch immer unsicher.
Am liebsten hätte ich mit Breeg darüber geredet, doch er war nicht mehr aufzufinden.
„Mrah… Tut mir alles weh.“, fluchte ich, als ich aufstehen wollte.
Ich sah nach der Verletzung am Oberschenkel.
Lynx hatte die offene Wunde sehr gut genäht. Es war zwar noch nicht verheilt, doch es sah wesentlich besser aus als gestern.
„Da. Bist du auch oft hingefallen.“, erwiderte Bjorn.
Ich sah mich um.
Hatte Lynx nicht auch in dieser Hütte geschlafen?
Wo war sie nur?
„Gehen wir weiter… Weg von diese Ort?“, fragte ich Bjorn.
Ich wollte nicht länger hier sein.
Ich mochte diesen Ort einfach nicht.

Wir durchquerten den Wald, der das Phönixnest umgab, doch hielten Abstand von jenem Ort.
Hinter mir lief Bjorn her, dessen Schritte und Atem ich eindeutig erkennen konnte.
Seine Axt war aber auch viel zu schwer, um sie ständig zu tragen.
Ich verstand nicht, wie er das machte.

Ich konzentrierte mich weiter auf den Weg und versuchte, mein rechtes Bein noch nicht allzu stark zu belasten.
Doch auf einmal war etwas anders. Irgendwas fehlte.
Es waren keine Schritte und kein Atmen mehr zu hören.
Ich drehte mich um, drehte mich einmal um die eigene Achse.
„B-Bjorn?“, flüsterte ich in den Wald.
Keine Antwort.
Er war nicht zu sehen.
So gut konnte er sich doch nicht verstecken?
Wo war er hin gelaufen?
Mein Körper erzitterte.
Wieso war ich alleine im Wald.
Alleine.
Im Wald.
Ich erstarrte.
Dann rannte ich panisch los.
Es war nicht gut, alleine im Wald zu sein.
Dieser Wald war böse.

Keuchend hetzte ich durch das Unterholz, bis ich in der Ferne plötzlich ein Gebäude sah.
Ich wusste nicht, wie lange ich gelaufen war, doch ich war irgendwo angekommen.
Nein, nicht irgendwo.
Ich kannte diesen Ort.
Ich war hier schon einmal mit Bjorn gewesen.
Und einmal mit Lynx.
Hier hatte ich Conner, Galador und den Mann mit dem Hammer getroffen.
Doch wie war ich hierher gekommen?
War der Ort wieder einfach vor mir aufgetaucht?
„Odin…“, keuchte ich. „Hast du Grund, warum du mich führst hierher?“

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