Ich stehe auf einer Lichtung, die sich direkt am Wasser befindet. Ein paar in Roben gekleidete Personen haben eine Art Kreis um mich herum gebildet. Ich werfe einen Blick an ihnen vorbei und erblicke weitere Personen. Die in den Roben murmeln Worte in fremden Sprachen, die ich nicht verstehen kann.
Erst jetzt bemerke ich, dass ich selbst auch in fremder Sprache spreche. Ich stehe genau in der Mitte dieses Kreises und werde von einigen Leuten angestarrt, verstehe aber nicht, warum.

Es ist schon dunkel, scheinbar steht eine kalte Nacht bevor, denn der Wind zieht an uns vorbei und nimmt die Wärme mit, um sie von uns fort zu führen.
Eine einzelne Person tritt aus der Menge der Menschen hervor. Er ist groß und trägt eine Kapuze. Irgendwie kommt er mir bekannt vor, aber irgendwie ist er mir auch fremd.
Er schreitet direkt auf mich zu. Sein Auftreten wirkt sicher, aber ich spüre, dass etwas nicht stimmt. Irgendetwas fühlt sich seltsam an.
Dann erst erkenne ich ihn: Es ist Breeg. Sein Blick ist finster und er starrt mich todernst an.
Mein Blick schweift wieder von ihm ab und durch die Menschenmenge… Weitere bekannte Gesichter. Ich erkenne den Bogenschützen Enres, meinen Freund Ares, meine Freundinnen Lynx und Rhea… Und sogar Tahn! Und ein anderes Gesicht… Mein eigenes?!

Ich spanne meinen Körper an, spüre die Muskeln, die sich so fremd anfühlen. Und das, obwohl ich meinen eigenen Körper doch ein paar Schritte weiter entfernt sehen kann. Das hier ist nicht mein Körper… Er muss Jemandem gehören, der nicht ich ist.
Ich werfe einen Blick in meine Hand und stelle fest, dass ein Dolch in ihr ruht. Es ist ein wirklich schöner Dolch.
Ich drehe ihn in der Hand und betrachte die Verzierungen in der Klinge. Wahrlich gute Handwerkskunst wurde an dieser Waffe geleistet.

Ohne dass ich es beeinflussen kann, schleicht sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Nein, nicht auf mein Gesicht, aber auf das Gesicht. So deutlich, dass ich die Muskelbewegungen der Mundwinkel spüren kann.
Breeg steht jetzt genau vor mir.
„Ach, ihm wird es schon gut gehen.“, höre ich mich sagen.
Dann bewege ich die Hand, die nicht mir gehört… Der Dolch bohrt sich in Breegs Bauch. Ich möchte schreien, aber ich lächle nur weiter.
Es wird dunkel.

Ich erwache schreiend aus dem Albtraum.
„NICHT!“
Sofort werfe ich einen Blick zu meiner Hand, doch anstelle des Dolches liegt dort nur ein Stock. Mein gesamter Körper zittert und ich weiß nicht, was da gerade passiert ist, denn die Szene kam mir im Nachhinein so bekannt vor.

Neben mir ertönt ein leises Knurren und ich blicke herüber. Es ist June, ich habe sie offenbar geweckt.
Mein Atem geht immer noch viel zu schnell.
„Odin… Was war das?“, frage ich und werfe einen kurzen Blick in Richtung Himmel, sehe aber nur die Decke der Taverne.
June nähert sich mir vorsichtig. Offenbar ist sie nicht sicher, ob von mir eine Gefahr ausgeht.
„June… Wollte dich nicht erschrecken… Tut mir Leid.“, sage ich und beobachte sie. Hoffentlich hat sie keine Angst vor mir.
„Tasia gut?“, fragt sie und legt den Kopf schief.
„Da… Ist gut.“, erwidere ich und seufze. Ich verspüre ein Kratzen im Hals und muss husten. Es wird immer schwieriger, das zu unterdrücken.
June lehnt sich gegen meinen Körper und ich lehne mich an die Wand hinter mir. Das Herz in meiner Brust schlägt noch immer unnatürlich schnell.

„Ahhh! NICHT!“, ertönt ein weiterer Schrei rechts von mir.
Dann springt die weiß gekleidete Gestalt auf und wirkt total überfordert. Es ist Tahn. Hat er auch schlecht geträumt?!
„Was ist los?!“, brüllt nun auch Eddie und trägt dazu zu der allgemeinen Unruhe bei.
„Was… Äh. Ich weiß nicht.“, murmelt Tahn und schaut sich um. Er scheint nicht zu wissen, wo er ist.
„Schlecht geträumt, Tahn?“, frage ich. Das ist gar nicht gut.
Ich glaube ich kann mich an keinen anderen Augenblick erinnern, an dem Tahn schlecht geträumt hat. Hoffentlich fängt es jetzt nicht an.
„Äh Ana…Anastasya äh was, ja. Ich weiß nicht.“
Er setzt sich wieder hin. Immerhin kennt er meinen Namen noch.
„Weißt du nicht mehr?“, frage ich Tahn und streichle sanft über Junes Kopf. Sie wirkt total angespannt und fixiert Eddie mit ihrem Blick.

„Iss etwas, Kleines.“, sagt Eddie und holt ein Stück Wurst aus seiner Tasche.
June nähert sich Eddie, greift blitzschnell nach der Wurst und verschwindet wieder hinter mir.
„Hey… June. Was ist los?“, frage ich. Sie hat scheinbar Angst vor Eddie, nur wieso?
„Hm, die ist komisch… OH! Muss ich jetzt Wache halten?!“ Tahn springt auf.
„Di böse.“, antwortet June mir jetzt.
„Warum böse?“, frage ich sie entsetzt und werfe einen Blick zu Eddie, der sich auf eine nahgelegene Bank gesetzt hat.
Dann wende ich mich Tahn zu.
„Da, denke kannst du Wache halten. Danke, Tahn.“

„Die Träume haben ihr etwas gezeigt, dass sie denken lässt wir wären Mörder.“, erklärt Eddie mir.
„Di, Beeg, Vin schießen gute Mann, gute Mann tot.“, kommt es von June und ich brauche einen Moment, um zu verstehen, was sie sagt.
„Di.“, sagt sie und deutet mit ihrer Hand einen Schlag in ihr Gesicht an. „June.“
Gut, das habe ich doch noch nicht verstanden.
„Gute Mann getötet?“, frage ich. „Bist du sicher? Dich gehauen?“
Ich schüttle verwirrt den Kopf. Das kann ich mir nicht vorstellen.
„Sicher, dass nicht nur Traum war?“
June blickt mich an und nun scheint sie mich nicht verstanden zu haben. Ich seufze und überlege, wie ich es besser erklären kann.
„Anastasya?“, fragt Tahn und läuft ein paar Schritte auf mich zu. „Hast du einen Apfel?“
Immerhin eine Sache, die sich nicht ändert. Er bringt mich zum Lächeln und ich schüttle zaghaft den Kopf.
„Njet Tahn, habe ich keinen Apfel.“
June ist eingeschlafen.

Auf einmal regt sich ihr Körper wieder und sie springt mit einem mal auf. Sie scheint etwas in ihrer Tasche zu suchen und hält schließlich einen Dolch in der Hand.
Nein, es ist nicht irgendein Dolch, sondern der Dolch aus meinem Alptraum. Ehe ich etwas tun kann, läuft sie los.

„Hä?“ Tahn schaut ihr nach und wendet sich dann wieder an mich. „Äh, warum läuft die weg?“
Keine Zeit für Erklärungen.
„Tahn, hinterher!“, rufe ich und verfolge June. „Hey! June!“
Sie läuft weiter in Richtung Wald, bleibt aber zum Glück nach ein paar weiteren Schritten stehen. Ihre Hand, in dem sich der Dolch befindet wandert nach vorne. Was hat sie vor?
Es sieht beinahe so aus, als würde sie Jemandem den Dolch geben, doch da ist niemand.
Sie lässt den Dolch fallen, dreht sich um und läuft an mir vorbei und zurück zur Taverne.
„H-Hey! Was?!“, rufe ich ihr nach, doch sie reagiert nicht mehr auf mich.
Stattdessen kommt Rhavin, geht auf den am Boden liegenden Dolch zu und hebt ihn wortlos auf. Was hat er damit vor? Wie kommt überhaupt der Dolch aus meinem Albtraum hierher?

„Warum will June diesen Dolch zurückgeben? Was ist so besonders an ihm?“, fragt Rhavin und schließt daraufhin die Augen. Er scheint sich auf etwas zu konzentrieren.
Der Dolch verschwindet.
Ich starre Rhavin an. Was war das?!
„Kann nicht sein…“, murmle ich, aber ich weiß ja, was ich gesehen habe. Gerade eben war der Dolch noch in seiner Hand und jetzt ist er fort.
Rhavin dreht sich um und geht zurück zu den anderen. Ich hingegen stehe noch mitten auf der Wiese in der Nähe der hohen Bäume.

Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns knie ich mich hin und nehme meinen Runenbeutel aus der Gürteltasche.
„Odin… Glaube ich, brauche ich dich jetzt…“, sage ich und halte den Runenbeutel in meiner Hand. Er gibt mir Sicherheit.
„Heil dir Odin, der du so viele Masken trägst. Ich bitte dich, mir deine Weisheit zu leihen, damit ich Weg fortsetzen kann, den du mir gegeben hast. Hilf mir zu entscheiden, was ich tun soll. Zeig mir Weg. Ich bitte dich.“
Ich lege die Runen vor mich, sodass sie ein Kreuz bilden. Dann drehe ich sie nacheinander um:

Wie so oft ergeben die Runen Sinn, aber mir bleibt nicht viel Zeit um darüber nachzudenken.
Vor mir fliegen kleine Asche-Flocken umher und formen sich bald zu einem nahezu menschlichen Umriss.
„Interessant wie solche Bauernfänger-Tricks Glück haben können.“, ertönt die Stimme dieser Asche-Gestalt vor mir. Er will sich über die Runen lustig machen? Bauernfänger-Tricks? Das wird er bereuen!
„WAS?“, frage ich und starre die Gestalt böse an. „Njet! Ist Macht von Odin! Mehr Macht als jeder Andere haben kann! Kennst du nicht Macht von Odin!“
Die Gestalt vor mir scheint den Kopf etwas zu heben.
„Oooooooodin. Vielleicht solltest du einfach all das Negative der Menschen hinter dir lassen und deinen eigenen Weg weiter voranschreiten. Das endet sonst nur in einem…“
Er hustet, aber beendet nicht seinen Satz.

„Wenn du so intelligent bist, Weib, dann weißt du doch sicher auch, wie man all das zu ende bringen kann.“
Dabei lacht er heiser.
Das lasse ich mir nicht gefallen!
„Wenn Menschen so schlecht wären, würde Odin nicht Kraft geben für uns! Dann hätte ich nicht Kraft. Verschwinde einfach!“
Es macht mich wirklich wütend. „Zu ende bringen? Bist du Loki oder was?! Verschwinde!“
„Wenn Menschen nicht so schwach wären, bräuchten sie keine Götter.“, erwidert die Gestalt vollkommen ungerührt. Er bewegt seine Hand in gewissem Abstand über das Kreuz aus Runen. Das sollte er nicht wagen!
„Angst?“, fragt er und hustet.
„Nicht. Anfassen.“, drohe ich ihm und starre seine Hand an. „Weiß sogar Tahn, dass man Runen nicht anfassen darf!“
„Und.“, beginnt er und senkt seine Hand. „Falls.“, setzt er fort und senkt die Hand noch weiter in Richtung Runen. „Doch?“
„Ahh, Odins Macht ist zu stark für dich, hahahah!“, rufe ich und lache dabei so abfällig wie möglich. „Kannst du versuchen, wird MIR nicht weh tun.“
Es wirkt, denn er zieht die Hand zurück und legt den Kopf schief.
Ich grinse, denn ich habe gesiegt.
„Also. Sag was du willst oder geh.“
„Vielleicht nehme ich mir auch dieses selbstgefällige Grinsen.“, sagt er und bewegt seine Hand zu meinem Gesicht. Das wird er auch nicht wagen.
„Grinse ich nur, weil Odin stärker ist als du!“, rufe ich und nehme die unterste Rune im Runenkreuz in die Hand. Es ist Eiwaz, die Rune des Schutzes.
Ich werfe sie auf die Gestalt.
„Odin, zeig ihm, dass du stärker bist!“

Die Rune prallt gegen die Gestalt .
und scheint sie aufzusaugen. Mit einem Mal verschwinden sowohl Rune als auch Asche-Gestalt.
„Hab Dank, Odin! Ich bin deine Dienerin und werde immer in deinem Willen handeln!“, rufe ich erschöpft und bedanke mich damit bei Odin. Er hat seine Macht demonstriert.
Ich sammle die übrigen Runen wieder ein und laufe zurück zur Taverne.

„Eindrucksvoll.“, sagt Rhavin. „Ich glaube wir sollten uns einmal zusammensetze und uns ein wenig über deine Runen unterhalten. Aber die Situation gerade zeigt einmal mehr was ich vorhin meinte.“
Er schaut zu den Anderen.
„Momentan sind wir miteinander verbunden… Und zwar über den Dolch von June.“
Als er auf den Dolch deutet, steckt June ihn schnell in ihre Tasche und legt sich wieder auf den Boden.
„Di gut?“, fragt sie.
„Jaa. Ja, Kleine.“, erwidert Eddie und scheint sich sehr zu freuen. Er sieht auf einmal für einen kurzen Augenblick ungewohnt glücklich aus.

June springt auf und deutet auf ihre Nase.
„Beeg.“, sagt sie und zeigt danach zum Wald.
„Riechst du ihn?“, fragt Eddie.
Ich setze mich hin und lehne mich an die Wand.
Das Husten ist viel schlimmer geworden und ich fühle mich total erschöpft.
„Riechen.“, höre ich June sagen.
Sie reden noch einen Augenblick, doch mehr bekomme ich davon nicht mit, denn die Erschöpfung schließt mir die Augen und ich sinke hinab in die Schwärze.

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