Als der Morgen anbricht, verlassen Tahn und ich die Taverne in den Nebeln.
Es wird Zeit, weiterzugehen.

Wir laufen eine Weile an ein paar Wiesen und Wäldern vorbei.
Von Tahn höre ich immer wieder, dass er gerne einen Apfel haben will.
Wenn wir einen Apfelbaum finden, müssen wir sofort einen Vorrat mitnehmen, damit er zufrieden ist.

Wir reisen ein paar Tage von Ort zu Ort und suchen uns kleine Hütten oder sogar Tavernen zum Übernachten.

Doch heute ist ein besonderer Tag.
Und dafür müssen wir uns von den Feldern und Wiesen entfernen… Ein Wald wäre perfekt.

Wieder laufen wir eine sehr lange Zeit und wieder quengelt Tahn herum und fragt mich ständig, ob ich einen Apfel habe.
Leider kann ich ihm keinen Apfel geben.
Unterwegs haben wir noch keinen Apfelbaum finden können… Leider.

Bald erreichen wir einen großen Wald…
Es wird schon wieder dunkel.
Ich werfe einen Blick zum Himmel…
Der Mond ist nicht zu sehen… Nur die Sterne leuchten von oben herab.
Das kann nur eines bedeuten: Das Fest der Ahnen steht bevor.
Wahrscheinlich ist es schon in dieser Nacht so weit.

Ich werfe einen Blick zu Tahn.
Vielleicht sollte ich es ihm erklären.
„Tahn… Glaube wir müssen Lichtung im Wald suchen.“, sage ich und sehe mich um.
„Äh. Wir müssen Licht im Wald suchen?“, fragt er nach und scheint mich nicht ganz verstanden zu haben.
„LichTUNG.“, wiederhole ich das Wort. „Stelle im Wald mit weniger Bäumen, also mehr Licht.“
Ich grinse ihn an. Ganz falsch lag er ja nicht.
„Ah, also suchen wir Licht im Wald.“, sagt Tahn und sieht sich um.
Ich nicke lächelnd. „Da, genau… Licht im Wald.“

Wir betreten den Wald und schauen uns darin weiter um.
Bisher wird er eher dichter… Von einer Lichtung bisher keine Spur.
„Hast du einen Apfel?“, fragt Tahn und sieht mich mit beinahe leuchtenden Augen an. Glaubt er wirklich, dass ich auf einmal einen Apfel herbeizaubern kann?
Ich schüttle den Kopf.
„Vielleicht finden wir nachher Feld… Da wachsen Äpfel manchmal an Baum.“
„Hmm gut…“

Wir laufen weiter und erreichen bald eine Lichtung.
Ich schaue mich um.
„Ah, ist nicht schlecht.“
„Äh, was ist schlecht?“, fragt Tahn.
Ich schüttle den Kopf.
„Nicht schlecht. Siehst du? Ist Lichtung!“
„Hmm ja. Sind hier Äpfel?“, fragt er daraufhin und wirkt ganz aufgeregt.
Aber auch diese Hoffnung muss ich ihm leider nehmen.
„Njet.“, erwidere ich also und schüttle den Kopf. „Suchen wir Äpfel, wenn wir hier fertig sind, da?“
Ich werfe einen erneuten Blick in den Himmel. Es wird immer dunkler.

„Äh und was machen wir dann hier? Ich will nicht im Wald schlafen!“, quengelt Tahn nun wieder.
„Wir schlafen auch nicht im Wald. Aber es ist kein Mond zu sehen heute Nacht. Ist besonderer Tag.“, versuche ich Tahn zu erklären und hoffe, dass es in der Nähe des Waldes eine kleine Hütte oder sogar eine Taverne gibt, bei der wir unterkommen können.
„Hm. Sind wohl Wolken da.“, überlegt Tahn und schaut nun ebenfalls in den Himmel.
„Njet.“, widerspreche ich ihm.

„Gibt manche Tage, an denen zeigt Mond sich nicht. Und heute ist besonderer von diesen Tagen. Ist Fest der Ahnen. Deswegen mussten wir Lichtung suchen.“
„Fest der Armen.“, wiederholt Tahn. „Ah! Wir müssen den Armen was geben?“
Er kramt in seiner Tasche und scheint nach etwas zu suchen.
Ich frage mich, was er den Armen geben will… Und wo er in einem Wald arme Menschen finden möchte.
„Ahnen!“, rufe ich. „Fest der Toten also. Müssen wir die Toten ehren!“
Ich habe das Gefühl, dass er heute schlechter hört als sonst.
Vielleicht liegt es ja an dem „Heil“-Mittel von dieser seltsamen Frau…

„Äh. Toten ehren… Ich soll einen Toten heiraten?“, fragt Tahn und schaut mich verwirrt an.
Ich muss lachen… Das habe ich doch gar nicht gesagt!
„Was ist denn los mit dir, Tahn? Ohren schlecht? Njet! Sollst du… Für Tote beten.“
Ich hoffe, dass er mit dieser Erklärung besser zurecht kommt.

„Aaaah! Für einen Toten beten… Hab ich früher auch gemacht in der… ähhh. Dings… Hab da auch eine Kerze für Jemanden an gemacht.“
Er hat es endlich verstanden.
Ich schaue ihn an…
Für wen hat er wohl eine Kerze an gemacht?
Vielleicht für Freunde, die in der Schlacht gefallen sind?

„Genau! Kerzen!“, fällt es mir auf einmal ein.
Ich knie mich hin und krame ein paar Kerzen aus meiner Tasche.
„Da… Kerzen für die Toten und beten für sie. Dafür ist Tag da.“
Tahn kniet sich so hin, dass er mir gegenüber sitzt.
„Für wen betest du?“, fragt er.
„Sind vier Personen, für die ich gerne beten würde.“, erkläre ich. „Willst du mitmachen?“
„Für wen soll ich beten?“, fragt Tahn jetzt.
Mir fällt keine gute Antwort auf die Frage ein.
„Für wen möchtest du denn beten?“, frage ich also weiter.
„Ähm. Weiß nicht wer tot ist… Für wen betest du?“
Er wirkt auf einmal irgendwie traurig und fixiert die Kerzen mit seinem Blick.

Die Erinnerungen schmerzen.
Aber ich werde sie alle eines Tages wiedersehen… Das hoffe ich zumindest.
„Werde ich für Gin beten. Er ist ganz in meiner Nähe gestorben und ich konnte ihn nicht retten. Werde ich für Akri beten… Kannte ich lebend nicht, aber ist trotzdem tot. Werde ich für Artjom beten, dank dem ich Runenbuch habe… Und werde ich für Tristan beten.“
„Äh was?! Tristan ist nicht tot!“, sagt Tahn.
Er weiß es nicht mehr…
Ich seufze, nicke langsam und deute auf Tahns Rüstungsteil… Er hat doch die Worte „Tris Tahn“ selbst hinein geritzt… Wie kann es sein, dass er es nicht mehr weiß?

„Ja, das ist von Tristan. Das ist wichtig!“, sagt Tahn und nickt.
„Da. Weißt du auch warum wichtig ist?“
„Ja, habe ich von ihm bekommengenommen.“, erwidert er und scheint selbst nicht ganz mitzubekommen, was er da sagt.
„Da. Und warum?“, frage ich weiter.
Es tut ihm sicher auch weh, aber es muss sein.
„Ich… Äh… Weiß nicht… Er kann nicht tot sein. Ich will das nicht!“
Tahn kuschelt sich in seinen Mantel ein. „Nicht so wie die anderen.“, fügt er leise hinzu, aber ich höre es trotzdem.
Die Anderen?

Er leidet.
„Hey Tahn… Kann man manchmal leider nicht aufhalten.“, versuche ich ihn aufzumuntern. „Deswegen ist wichtig, für Tote zu beten.“
„Aber warum weiß ich das nicht?“, fragt Tahn und schaut mich an.
Das frage ich mich auch…
„Vielleicht… Hast du Angst zu wissen, weil es traurig ist? Aber villeicht hilft beten.“
Tahn kramt auf einmal an seiner Gürteltasche herum.
Was sucht er?
„Der kann helfen bei Angst!“, sagt er und hält mir einen Zettel hin.
Er zeigt auf die Worte „Kapitän Nessa“ und „Snorre“.
Die beiden Seefahrer, die Tahn mit seiner Angst geholfen haben… Seltsamerweise kann er sich das merken.
„Da. Hast du schon einmal Angst besiegt. Kannst du immer schaffen.“, sage ich und lächle ihn an. „Aber lass uns Fest der Toten feiern und beten bevor Nacht vorbei ist.“
„Gut, dann bete ich für Tristan.“
Ich nicke. „Das ist gut. Freut ihn bestimmt.“

Ich stelle die Kerzen einmal um uns herum und entzünde sie.
Dann knie ich mich wieder hin.
„Bekomme ich auch eine Kerze für Jemanden, der auch noch wichtig ist?“, fragt Tahn auf einmal. Das überrascht mich wirklich. Erinnert er sich an etwas?
„Da, natürlich. Für wen möchtest du noch beten?“
Ich will wirklich wissen, wen er meint und reiche ihm die Kerze.
„Der ist wichtig… Ähm. War wichtig für uns. Er war alt und hat mir geholfen.“
Tahn zündet die Kerze an und stellt sie vor sich.

Jemand Wichtiges, Altes also… Hm.
„Ah… War Vater?“, frage ich und krame meinen Runenbeutel aus meiner Gürteltasche heraus.
„Ja.“, antwortet Tahn. „Nein, nicht meiner… Also nicht richtiger.“
„Also zweiter, da?“, frage ich. Haben wir da nicht schon einmal drüber gesprochen? Ich bin mir nicht sicher. „Also beten, Tahn?“
Ich weiß, dass wir nicht mehr allzu viel Zeit haben.
„Was? Nein, nur einer.“, sagt Tahn noch und schaut die Kerze an.
„Oh, achso.“

Ich hole tief Luft.
Einatmen.
Ausatmen.
Die Luft ist kühl, das tut gut.
„Heil dir Odin, der du so viele Masken trägst… Heute ist Fest der Toten und ich möchte an die Toten denken, die mir wichtig sind. Hoffe ich, dass du sie mit nach Walhalla genommen hast und dass ich sie dort wiedersehen werde sobald ich meine Aufgabe gelöst habe.“
Ich werfe einen kurzen Blick zu Tahn.
Die Aufgabe ist noch nicht gelöst…
Und irgendwie macht mich das glücklich… Das sollte doch eigentlich nicht so sein?
„Auch Gin, Mann ohne Glauben. Konnte ich zu Lebzeit nicht helfen, aber habe ich dich, Odin, gebeten, ihn auch nach Walhalla zu bringen… Hat er es verdient, dort zu kämpfen und zu trinken…“
Ich senke meine Stimme.
Nach all der Zeit tut es mir immer noch so Leid…
„Konnte ich ihn nicht retten, Odin…“

Und ich sehe wieder vor mir, wie alles geschah.
Wie Gin tot vor dem Wolkenturm lag und sein Herz nicht mehr schlug.

Um mich abzulenken schaue ich kurz zu Tahn.
Er war so still in den letzten Augenblicken.
Ich sehe, dass er vor der Kerze kniet und nachzudenken scheint.
Aber ich will ihn nicht stören… Vielleicht redet er im Stillen mit den Toten.
Also schaue ich wieder zurück zu der Kerze.

„Denke ich auch an Akri, den ich zu Lebzeit nicht kannte… Aber ist er ein guter Toter und hat schon viel geholfen… Hoffe ich, dass es ihm weiterhin gut gehen wird. Bin ich froh, ihn kennengelernt zu haben.“
Wenn ich es so ausspreche, klingt es wirklich seltsam.
Aber Akri hat mir so viel geholfen und auch wenn ich lange nicht mehr mit ihm gesprochen habe, weiß ich, dass er mir irgendwie wichtig ist.
Auch an ihn muss man an diesem Tag – dem Tag der Toten – denken.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll.“, sagt Tahn auf einmal.
Ich schaue auf und blicke ihn an.
„Hm? Warum nicht?“, frage ich.
Er wirkt irgendwie verwirrt… Unbeholfen.
„Ich weiß nicht… Das ist komisch.“, sagt er. Sein Blick geht in Richtung Boden. Ist es ihm unangenehm?
„Warum?“, frage ich weiter.
Ich würde ihm gern helfen, aber ich weiß nicht, wie.
„Ich weiß nicht… Ist das richtig?“
„Kannst einfach.. Etwas über Tote sagen oder… Irgendwas wünschen für sie.“, versuche ich ihm zu erklären.
Dabei weiß ich doch selbst nicht, wie man richtig betet.
„Ich muss nicht für Gott beten.“, sagt er auf einmal und dreht sich zur Kerze. „Ich äh… danke dir für deine Hilfe.“

Dann faltet er seine Hände. „Tristan ich äh… weiß nicht wie du gestorben. Ich hoffe es geht dir gut wo du jetzt bist.“
Ein guter Anfang.
Auch, wenn sein Verhalten mich jetzt verwirrt.

„Artjom… kannte dich nicht, aber hast du mir Weg zu Odin gezeigt. Weiß nicht, wie du gestorben bist, aber hoffe ich, dass du mit Odin in Walhalla bist und ich dich dort bald treffen kann.“
Ich denke an mein Runenbuch und weiß, dass ich es ihm verdanke.
Er hat sein Wissen niedergeschrieben und es verschlüsselt.
Durch ihn bin ich mit Odin in Verbindung gekommen…

Auch von Tahn höre ich weiteres Gemurmel. „Ich danke dafür, dass du mich aufgenommen.“
Ich seufze.
Der nächste Tote… Tristan. So tragisch… Und noch gar nicht so lange her.
„Und Tristan… Ich weiß nicht einmal, welchen Gott du hast…. Ich weiß wenig über dich, aber… Du warst da und du hast uns geholfen… Hast Tahn geholfen… Wir haben gemeinsam gekämpft und… Ich konnte dich nicht retten… Konnte nicht helfen… Hoffe ich, du verzeihst mir…“
Und das hoffe ich wirklich.
Wäre ich in der Nähe gewesen, hätte ich alles versucht, um ihm zu helfen…
Aber es waren zu viele… Wir konnten nichts tun.

„Ich komme gleich wieder.“, sagt Tahn, erhebt sich und geht los.
„Ich danke dir, Odin.“, sage ich schnell und stehe ebenfalls auf.
„Tahn, was ist?!“
„Es ist dunkel und kalt.“, antwortet er und fängt an, ein paar Äste zu sammeln.
Das wundert mich.
Normalerweise will er doch nicht im Wald schlafen?

„Willst du Feuer machen?“, frage ich ihn. „Nicht Taverne suchen?
„Hmm Taverne wäre mir lieber. Aber du magst den Wald.“, erwidert Tahn.
Das ist beeindruckend…
Er nimmt Rücksicht auf mich?
Aber wieso…?
Ich schaue ihn an und sehe, dass er mich sogar anlächelt.
Zufrieden erwidere ich sein Lächeln.
„Ach Tahn… Können wir auch Taverne finden gehen.. Aber… Kann ich dir auch helfen, wenn du möchtest.“

Wir entzünden ein Feuer und schlafen in der Nähe der Lichtung.
Und so feierten wir das Fest der Toten.

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