Was zuvor geschah:

Carmen

Die Frau im Bordell ist nett zu mir.
Sie erklärt mir, wo ich überhaupt bin und was hier passiert.
Es ist komisch für mich, aber es überrascht mich nicht.
Offenbar gibt es genügend Menschen, die sonst keine Liebe bekommen.

„Ah, da, Kindchen, ist mein Bordell.“, erklärt sie mir und wirkt dabei sehr stolz. Ihre Hingabe beeindruckt mich.
„Und du? Warum bist du in Bärenfels, Anastasya, hm?“
Ich schaue sie an und zögere kurz.
Ja, warum eigentlich?
„Da… Wurde ich hingeschickt von Eltern, weil ich sollte lernen, lesen und schreiben zu können.“, erwidere ich. „Wohnt Schwester von meiner Mutter in Reichenviertel von Bärenfels.“

Carmen schaut mich an und nickt.
„Ah, verstehe ich. Wie kommt, dass du bist in Bordell? Weggelaufen von adligem Leben, eh?“
Sie lacht. Beinahe so, als würde sie mich verstehen.
Ich werde rot.
„Ah, musst du nicht Angst haben. Erzähle ich nichts!“, fügt sie hinzu, lacht und stupst mich an.
Ich mag sie.

Die fremde Frau

Auf einmal geht die Tür hinter uns auf und zwei Personen stolpern in den Raum.
Es ist eine sehr leicht bekleidete Frau, die einen noch angezogenen Mann hinter sich her zieht.
Der Mann wirkt viel älter als die Frau und… kommt mir bekannt vor!

Ich starre ihn an.
Ja, das ist auf jeden Fall Ulf… Ulf, der Mann meiner Tante Silva.
Was sucht er nur hier mit einer fremden Frau…? Das kann nur eins bedeuten…
Meine Tante tut mir auf einmal Leid.
Ulf starrt mich an.
Und es macht mich wütend.

Ich renne raus, verlasse das Bordell, durchquere das Armenviertel und renne geradewegs zum Haus meiner Tante im Reichenviertel.
Die ersten Meter konnte ich Ulfs Rufe noch hören, doch er kann nie im Leben mit mir mithalten. Dazu ist er zu dick und zu alt.

Ich reiße die hölzerne Tür auf und betrete den ersten Raum. Meine Tante starrt mich an. Mich, wie ich mit dreckigem Kleid und vollkommen verschwitzt vor ihr stehe.
„Anastasya!“, will sie mich tadeln, das höre ich an ihrer Stimme.
„Ulf… Fremde Frau… In Bordell…“, keuche ich und ringe nach Atem. Was rede ich da? Ist das überhaupt klug, es ihr zu sagen?
Aber ich will ehrlich zu ihr sein, wenn ihr Mann schon nicht ehrlich ist.

Enttäuscht

Ihr Ausdruck verfinstert sich und ihre Lippen werden ganz schmal.
„Was bist Du nur für ungezogenes Mädchen, Anastasya, eh?“, fragt sie und wird dabei immer lauter. Ich weiche einen Schritt zurück. Es tut in meinen Ohren weh.
„Bist du Schande für deine Eltern! Wenn sie erfahren, wo du warst, sind sie sehr enttäuscht von dir!“, schreit sie.
Ich starre sie an.
„VERSCHWINDE!“, brüllt sie, ich zucke zurück und verlasse schlagartig das Haus.

Wohin?
Raus aus dem Reichenviertel!
„Ich werde niemals wie Du!“, schreie ich dem Haus hinterher und renne.
„Deine Eltern sind enttäuscht von dir.“, ihre Worte hallen in meinem Kopf nach.
Ich spüre, wie mir ganz heiß wird. Dann verschwimmt meine Sicht… Tränen rollen über meine Wangen und ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Zum Armenviertel?
Tante Silva wird meinen Eltern sicher eine Nachricht überbracht haben, bevor ich dort angekommen bin…
Zuhause kann ich mich also nicht mehr blicken lassen.
Ich vermisse Falkenhain jetzt schon.

Während die Tränen weiter meine Wangen herunterkullern, denke ich an mein Zuhause. Falkenhain… Und dann an meine Brüder. Ja! Das ist es!
Die beiden Ältesten sind vor einigen Jahren auch hierher nach Bärenfels gezogen…
Vielleicht kann ich ja zu ihnen. Ich darf ihnen nur nicht erzählen, was passiert ist… Das muss ein Geheimnis bleiben!

Das Haus der Brüder

Zwei meiner Brüder wohnen irgendwo im Viertel der „normalen“ Bewohner von Bärenfels.
Ich laufe den Weg entlang, am Armenviertel vorbei und biege dann links ab.
Warum nicht zum Armenviertel?
Ich habe Angst, dort Ulf zu begegnen. Wer weiß, was er mit mir anstellt, wenn er mich sieht.

Also laufe ich weiter und schaue mich in diesem neuen Viertel um.
Ich sehe viele kleine und größere Häuser, ein paar ordentlich gebaute Hütten und einen Fluss.
Neugierig nähere ich mich der Mündung des Flusses und schaue mir den Verlauf an. Das muss der Fluss sein, der von einem Wasserfall des Sternensees in Falkenhain kommt.
Über diesen Fluss bin ich also irgendwie mit meiner Heimat verbunden.
Mir gefällt das Gefühl.

Aber wie finde ich jetzt heraus, wo meine Brüder wohnen?
Ich schaue mich weiter um.
Vor einigen Häusern sitzen Männer und Frauen und stricken, nähen oder nehmen Tiere aus.
Alle arbeiten in diesem Viertel.
Vielleicht finde ich so heraus, wo die beiden wohnen.

Ich spreche eine vorbeilaufende Frau an, die schon etwas älter wirkt.
„Ah, Verzeihung… Wisst Ihr, wo ich Holz kaufen kann?“, frage ich sie.
Sie schaut mich an, mustert mich und das dreckige Kleid und wirkt erst etwas verwirrt.
„Da, Kindchen, glaube ich suchst du die Solowjows?“, gibt sie mir als Antwort und deutet in eine Richtung hinter sich.
Ich lächle sie an.
„Da, genau!“

Ich folge dem Weg, den die alte Frau mir zeigt.
Er führt mich ein paar Schritte am Fluss entlang, dann stehe ich vor einem Haus. Direkt vor der hölzernen Tür liegen Holzstämme und auch in der Nähe des Flusses finde ich ganz viel Holz.
Hier muss ich richtig sein.
Meine Brüder verarbeiten das Holz von meinen Eltern. Der Fluss dient dabei als Transportmittel von Falkenhain nach Bärenfels.

Die Solowjows

Ich klopfe an.
Es dauert nicht lange, bis mein Bruder Artjom mir die Tür öffnet.
Er wirkt sehr überrascht.
„Oh, Anastasya! Was machst du denn hier?“, fragt er mich. „Komm herein.“
Für einen kurzen Augenblick hoffe ich, dass er die Tränen auf meinem Gesicht nicht bemerkt hat, doch ich irre mich.
„Was ist los, Kleines?“, fragt er und sieht mich ernst an.

Ich betrete das Haus und senke den Blick.
„Habe ich Mist gebaut.“, sage ich mit gesenkter Stimme. Ich fühle mich schlecht.
„Ah, was ist passiert?“, fragt er.
Ich schüttle den Kopf.
„Ah, verstehe ich, Anastasya. Macht jeder Mal Mist. Ist nicht schlimm. Trinkst du etwas Metka, dann vergisst du Mist schnell wieder.“, sagt er und hält mir eine Flasche hin. Sie sieht ganz hübsch aus.
Die Flasche scheint direkt aus Bärenfels zu sein, denn direkt auf dem Etikett ist die Tatze von Bärenfels zu sehen.
‚Metka – Kvasirs Erbe‘, steht darauf. Der Name kommt mir bekannt vor… In einer der Geschichten über die Götter habe ich darüber gelesen.

Ich schaue meinen Bruder an, er nickt und ich nehme die Flasche. Ein großer, runder Korken verschließt sie. Ich entferne den Korken und rieche daran… Es riecht nach Honig, das gefällt mir.
Also nehme ich einen Schluck… Und muss sofort husten.
„Stark, da?“, fragt mein Bruder und lacht.

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