Igor

„Hast du nicht Hütte mit Familie, Igor?“, frage ich den Jungen und sehe mir den Holzverschlag genauer an.
Mein Vater hätte sicherlich schon längst neue Holzbalken hinzugefügt, aber um Igors kleine Hütte scheint sich keiner zu kümmern.
Igor schüttelt den Kopf und kurz zeigt sich ein kleiner Ausdruck der Traurigkeit in seinem Gesicht.
„Njet.“, sagt er nur.

Ich rede mit Igor noch etwas über sein Leben und bin ganz überrascht, wie schlecht er es hat. Früher dachte ich immer, dass es jedem in Bärenfels gut geht, weil es die Hauptstadt ist.
Das scheint in diesem Viertel aber anders zu sein… Und das verstehe ich nicht. Warum denn ein Viertel für die einen und eins für die anderen?

Auf einmal herrscht Aufruhr um uns herum. Ein paar der anderen Kinder im Viertel laufen los und suchen sich ein Versteck. Was ist los? Werden wir etwa angegriffen?
Ich habe mal Geschichten von Angriffen auf Städte gehört, aber gerade Bärenfels? Die ganzen Wachen und Mauern halten doch eigentlich alles ab? Oder nicht?

Jetzt wünsche ich mir, dass ich meine normale Kleidung und die Axt dabei hätte… Aber leider trage ich dieses Kleid. Keine Axt zu einem Fest. Aber warum eigentlich nicht?
Dann sehe ich, was sich uns nähert: Es sind Wachen.

Die Wachen

Es sind gleich vier Wachmänner, die nach etwas Ausschau halten. Was suchen sie wohl? Etwa einen Verbrecher? Aber warum suchen sie ihn genau hier?

Als sie sich dem kleinen Verschlag aus Holz nähern, springt Igor wortlos auf und rennt los.
„Igor?!“, rufe ich ihm nach, doch er reagiert nicht und ist dann auch schon weg.
Als ich mich wieder umdrehe, sehe ich vor mir das Gesicht eines Wachmanns…
„Da bist du ja.“, sagt er und grinst.

Das Fest

Ich weiß nicht, warum mich die Wachen geschnappt haben, aber sie bringen mich zum Marktplatz zurück, auf dem das Fest der Unsterblichkeit noch immer gefeiert wird.

Zwei Wachmänner bringen mich zurück zu meiner Tante und meinem Onkel. Ich verstehe nicht, warum.
Etwas im Gesicht meiner Tante hat sich verändert, aber ich kann nicht beschreiben, was es ist.

Sie erklären mir nicht, was passiert ist oder warum mich die Wachen zurückgebracht haben. Stattdessen feiern sie weiter das Fest zu Ehren Iduns und beachten mich beinahe nicht.

Der Ruf der Reichen

Das Fest dauert bis tief in die Nacht, dann beschließen meine Tante und mein Onkel, dass wir nun zurück zum Haus gehen werden.
Wieder laufen wir über den Weg, der die Viertel voneinander trennt.
Als ich am Armenviertel vorbei laufe denke ich an Igor und hoffe, dass es ihm gut geht.

Doch gerade an diesem Stück des Wegs haben es Silva und Ulf sehr eilig.
Als wir beim Haus ankommen, wirkt meine Tante auf einmal sehr enttäuscht.

„Anastasya, darfst du nicht einfach in Armenviertel herumlaufen! Ist gefährlich! Was sollen denn andere Leute denken, die dich sehen dort?“, fragt sie und klingt dabei sehr aufgebracht.
„Ich weiß nicht, habe ich nur… gespielt mit Igor. Geredet.“, erwidere ich unsicher und weiß nicht genau, was ihre Frage soll.
„Gespielt?! Spielst du lieber mit Kinder von hier… Nicht Armen-Viertel, nachher sie rauben dich noch aus!“
Ulf steht neben meiner Tante und nickt zustimmend.
Die Unterschiede zwischen den beiden und meinen Eltern sind nun viel deutlicher…

Ich nicke langsam, weiß aber nicht, wie ich mich bessern soll.
Zuhause habe ich Ärger bekommen, wenn ich zu viele Pfeile verschossen oder die Knochen im Haus liegen gelassen habe. Und jetzt?
„Also… nicht mehr in Armenviertel treffen?“, lasse ich es auf einen Versuch ankommen und schaue meine Tante fragend an.
Sie nickt. „Nicht mehr mit Leuten aus Armenviertel treffen… Und auch nicht mehr zu Armenviertel gehen.“, erwidert sie.
Das heißt also, dass ich Igor nicht mehr treffen darf? Aber wieso? Das verstehe ich nun wirklich nicht.

Lesen und Schreiben

Die Tage vergehen sehr langsam, weil ich beinahe jeden Tag im Haus sein muss und mit Tante Silva das Lesen und Schreiben übe.
Es wird schon besser, aber es fällt mir immer noch sehr schwer.

Außerdem bin ich traurig darüber, dass ich Igor nicht mehr treffen darf, dabei haben mir die Gespräche mit ihm so gut gefallen.

Die Bücher, die ich lese, handeln mittlerweile meistens von den gleichen Dingen und so finde ich es wirklich schwierig, mich für das Lesen zu begeistern.
Lediglich die Geschichten über die Götter finde ich interessant, weil sie mich an meinen Vater erinnern.

Je länger ich bei meiner Tante bin, desto mehr vermisse ich meine Familie in Falkenhain… Vor allem jetzt, wo ich beinahe gar nicht mehr nach draußen darf.

Weitere Tage vergehen und ich beschließe, dass es so nicht weitergehen soll. Ich möchte Igor wenigstens sagen, was los ist und warum ich nicht mehr mit ihm sprechen soll. Wahrscheinlich wird er es genauso wenig verstehen wie ich, aber immerhin wüsste er dann Bescheid.
Vielleicht denkt er ja auch, dass ich ihn nicht mag…

„Würde ich gerne zum Markt gehen, Tante Silva. Soll ich etwas mitbringen für euch?“, frage ich an einem Morgen dann meine Tante.
Sie schaut mich an und ein leichter Hauch von Skepsis liegt in ihrem Blick.
Ich lächle sie an.
„Würde ich mir gerne Früchte anschauen… Haben wir in Falkenhain nur Beeren, deswegen finde ich interessant.“
Diese Ausrede scheint Wirkung zu zeigen, denn Silva lächelt nun etwas und nickt.
„Da, kannst du gerne machen, Anastasya. Bring uns bitte Apfel und Birne mit.“, erwidert sie und drückt mir ein paar Kupfermünzen in die Hand.
Dann verlasse ich das Haus und wenig später auch das Reichenviertel.

Igor

Die Wachmänner scheinen mein Gesicht mittlerweile zu kennen und verlangen so auch kein Kupfer mehr von mir, wenn ich die Viertel verlasse oder betrete.
Allerdings würden sie sicherlich auch bemerken, wenn ich in das Armenviertel gehen würde.

So laufe ich zunächst zum Markt und kaufe dort einen Apfel und eine Birne, genau, wie meine Tante es mir aufgetragen hat.
Dann laufe ich noch etwas weiter und entdecke bald ein interessantes Kleidungsstück, das mir helfen könnte.

Es ist eine Art Kopfbedeckung, die aus braunem, festen Stoff genäht wurde. Sie kostet nur vier Kupferstücke, weil sie bereits ein bisschen kaputt aussieht… Aber für meine Zwecke ist es perfekt.

Die Verkäuferin am Marktstand erklärt mir, dass es sich bei dem Kleidungsstück um eine sogenannte Gugel handle… Ich erwerbe sie, setze sie auf und ziehe das Kopfstück tief in mein Gesicht.
So erkennen mich die Wachmänner sicherlich nicht mehr.

Ich versuche es und begebe mich damit ins Armenviertel – keiner hält mich auf.
So suche ich den kleinen Holzverschlag, unter dem Igor beim letzten Mal gehockt hat… Und tatsächlich – er ist dort.
„Igor.“, sage ich und setze mich zu ihm. „Tut mir Leid mit Wachen, hoffe ich dir ist nichts passiert.“
Er schaut mich an und wirkt überrascht. Dann schüttelt er den Kopf.
„Njet, war ich schnell genug Weg zum Glück. Was ist mit dir passiert?“

Ich erzähle ihm die Geschichte von meiner Tante und dass ich ihn eigentlich nicht mehr treffen darf.
Danach wirkt er trauriger als sonst und ich beschließe, dass wir uns trotzdem heimlich treffen.

Ich werfe einen Blick nach draußen und versuche festzustellen, wie lange ich schon hier bin… Wenn ich an ein paar Tagen in der Woche den Markt aufsuche, kann ich sicherlich für etwa eine Stunde unbemerkt hierher kommen…

Deshalb verabschiede ich mich bald wieder von Igor, verspreche, dass ich wiederkommen werde und kehre zurück zu meiner Tante und meinem Onkel – natürlich mit Birne und Apfel, genau wie gewünscht.

Igor und ich treffen uns nun wann immer es geht und ich versuche, meine Besuche so kurz wie möglich zu halten, um kein Aufsehen zu erregen.


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