»Anastasya, warum weinst du?«, fragt sie mich.
Ich würde ihr gerne antworten, aber ich kann nicht aufhören.
Die Tränen fließen einfach weiter über mein Gesicht. Und das, obwohl ich doch eigentlich glücklich bin.

Oder nicht?
Träume ich vielleicht gerade noch?
Bin ich im Schnee liegengeblieben?
Verblute ich?
Frisst mich ein Bär?
Das würde für mich bedeuten, dass ich nach Helheim komme.
Ich will nicht nach-

»Anastasya, was ist denn?«, wiederholt meine Mutter.
Ihre Stimme klingt so echt.
So warm und herzlich.
Es wäre so schön, wenn sie es wirklich wäre.
Wenn ich nicht träumen würde.
Aber wie sollte das möglich sein?

Mein Blick ist verschleiert vor lauter Tränen und doch versuche ich, meine Mutter anzusehen.
Ich möchte mir jedes Detail merken. Jede kleine Falte in ihrem Gesicht.
Mir fällt auf, wie schön sie eigentlich aussieht.
Und das trotz der ganzen Arbeit im Wald und im Haus.
Ich möchte mich für immer so an sie erinnern… Und nicht an das, was ich im Traum gesehen habe.

»Anastasya, rede mit mir!«, spricht meine Mutter.
Ich mag ihre Stimme.
Und die Tränen hören langsam auf zu fließen.
Reden.
Ja. Vielleicht kann ich im Traum mit ihr reden.

»Mama?«, frage ich zögerlich.
Warum? Was erhoffe ich mir?
Wenn die Traumgestalt antwortet, was dann?

»Du blutest, mein Kind.«, spricht sie sanft. Vielleicht mit einer Spur Besorgnis. Ich bin mir nicht sicher.
Sie schiebt mich in Richtung einer kleinen Pritsche. Und ich lasse sie gewähren.
Selbst in diesem seltsamen Traum fühle ich mich müde und schwach.

Zuhause

Als ich erwache, fühle ich mich etwas besser.
»Was für ein seltsamer Traum.«, denke ich und sehe mich um.
Das ist nicht der Wald.
Ich liege… Zuhause.

Verwirrt blicke ich mich um.
Mein Körper fühlt sich seltsam an.
Ich lege die Felldecke zur Seite.
Verbände? Ich verstehe nicht

»Mama?«, rufe ich zögerlich.
Meine Stimme ist schwach.
Und ich habe Angst, keine Antwort zu erhalten.
Was ist nur geschehen?
Es wirkt so verschwommen.

Ein Gemisch aus Traum und Realität, nur, dass ich nicht weiß, wo die Grenzen liegen.

Aber eigentlich ist es nicht wichtig.
Es ist nur wichtig, dass sie leben. Alle.

Der Traum

Meine Mutter kommt herein. Scheinbar hat sie draußen im Schnee gearbeitet.
Alles, was ich hoffe, ist, dass das hier die Realität ist.
Ich will, dass sie lebt.
Alles andere ist zweitrangig.

»Mama, was ist passiert?«, frage ich sie.
Sie versucht, nicht besorgt auszusehen. Aber es gelingt ihr nicht.
»Das weiß ich nicht, Anastasya. Du kamst her und warst am Verbluten.«, erwidert sie.
Sie blinzelt stark. Versucht sie, ihre Tränen zurückzuhalten?

Ich weiß nicht, ob ich alles erzählen soll.
Vielleicht weiß sie, was davon Traum und was Wahrheit gewesen sein könnte…
Aber was, wenn es gefährlich ist?
Wenn sie es nicht wissen darf und es sie sonst doch heimsucht?

»Mama, wann waren meine Brüder zuletzt hier?«, frage ich sie.
Nur zur Sicherheit.
»Sie haben Athis vor zwei Wochen bei den Tannen geholfen.«, erwidert sie ruhig. »Aber warum fragst du?«

Athis.
Es fühlt sich seltsam an, den Namen meines Vaters zu hören.
Aber das bedeutet, dass es auch ihm gut geht.
Er lebt.
Sie leben alle.

Das Buch

Meine Mama fragt nicht weiter nach, was passiert ist. Aber ich sehe ihr an, dass sie Angst hat.
Wahrscheinlich denkt sie, dass die Runen der Grund für all das sind.

Als ich vor einem Jahr mit der Übersetzung angefangen habe, erzählte ich ihr davon. Immerhin war das Buch mal in ihrem Besitz.
Doch allein die Warnung am Anfang hatte sie abgeschreckt.
Sie will die Götter nicht erzürnen.

Und in dem Moment fällt es mir ein: Das Runenbuch!
Wo ist es?

Erst jetzt sehe ich, dass meine gesamte Tasche fehlt.
Die Briefe, der Metka, das Runenbuch, die Verbände…

»Mama, wo ist meine Tasche?«, frage ich und weiß gar nicht, ob sie noch in der Hütte ist.
Scheinbar habe ich geschlafen. Aber wie lange? Wie viel Zeit ist vergangen?

Doch sie hört mich und kommt zu mir an die Pritsche.
»Welche Tasche?«, fragt sie sichtlich verwirrt.
»Meine braune Tasche.«, antworte ich.
»Du hattest keine Tasche dabei.«

»Oh Odin…«, höre ich mich murmeln.
Sie blickt mich direkt an. Erst sehr streng, dann wird ihr Blick auf einmal weicher.
»Mit den Göttern muss man vorsichtig sein.«, spricht sie leise. Fast so, als wolle sie nicht gehört werden.
Dabei sieht Odin alles… Und genauso hört er alles – wenn er es möchte.
Ich nicke.
Ich weiß, dass man vorsichtig sein muss.
Doch jetzt ist es zu spät für solche Überlegungen.
»Such es, sobald es dir besser geht.«, schlägt meine Mama vor. Und ich stimme ihr zu. Es klingt nach einem guten Plan.

Besuch

Die Tage vergehen und ich verbringe sie damit, viel zu schlafen.
Sich auszuruhen tut gut und die Reise war lang, aber ich spüre, dass ich hier nicht bleiben kann.
Es ist meine Heimat, aber irgendwie nicht mehr mein Zuhause.

Bald klopft es an der Tür der Hütte.
Meine Brüder – begleitet von meinem Vater – kommen herein.
Ich springe trotz leichter Schmerzen auf und umarme sie und meinen Vater.
Es scheint also auch ihnen gut zu gehen. Das beruhigt mich.

Sie erzählen von ihrer Arbeit in Bärenfels. Anerkannte Handwerker, aber ich höre ihnen kaum zu. Ich kann mich nicht konzentrieren.
Immer wieder schweifen meine Gedanken ab.
Zu Odin.
Zu den Füchsen im Wald.
Was sollte mir diese Vision sagen?
Eine Warnung?
Vielleicht, damit ich hier in Falkenhain bleibe.
Aber warum?

»Anastasya, ist alles in Ordnung?«, reißt mein Vater mich aus meinen Gedanken.
Ich bin mir nicht sicher, nicke aber trotzdem.
Wann ist schon „alles in Ordnung“?
Aber ich möchte ihnen keine Sorgen bereiten.

»Aber man darf doch nicht lügen.«

Ich muss an Tahn denken.
Der Gedanke kommt ganz plötzlich und unerwartet.
Warum jetzt erst?
Warum habe ich nicht schon vorher darüber nachgedacht?
Was wohl mit ihm ist…?

Ich mache mir Sorgen um ihn.
Und das ist ein schlechtes Zeichen, denn eigentlich… Ja, warum eigentlich?
Ich erinnere mich daran, dass ich unabhängig sein wollte.
Und jetzt das.
Fühle ich mich etwa verantwortlich?

Meine Eltern würden lachen, wenn ich es ihnen erzählen würde.
Tue ich aber nicht.

Während meine Brüder weiter stolz von ihrer Arbeit erzählen, fühle ich mich schlecht.
Ein schlechtes Gewissen.
Ich habe ihn einfach allein gelassen.
Für eine Heimat, die irgendwie keine Heimat mehr ist.

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