Eiben und Wacholder
Ich kann nicht mehr laufen.
Meine Beine knicken immer und immer wieder ein.
Die Kälte ist aus meinem Körper gewichen und doch zittere ich.
Und ich schwitze, obwohl der Schnee weiter und weiter fällt.
Mit jedem Schritt werde ich langsamer.
Meine Beine fühlen sich taub an.
Das ist schlecht.
Ich erinnere mich an die Worte von Cato und Runa.
Es ist gefährlich, verletzt weiter zu reisen.
Sie wollten mich nachbehandeln.
Aber dafür war keine Zeit.
Je tiefer der Schnee, desto klarer wird mir, dass ich richtig bin.
Ich sehe Wälder aus Eiben und Wacholdern.
Und dann sehe ich die Mauern von Bärenfels.
Es ist nicht mehr weit, aber ich muss um Bärenfels herum laufen.
Ich habe keine Zeit, es zu betreten.
Also muss ich den Abhang irgendwie überwinden.
Es sieht so hübsch aus. Meine Heimat.
Aufstieg
Auf allen Vieren krabble ich schließlich hinauf, überwinde die Steilhänge und halte mich an den Bäumen fest.
Normalerweise ist das verboten.
Normalerweise erreicht man Falkenhain nur aus dem Norden… Oder durch Bärenfels.
Aber dafür ist einfach keine Zeit.
Der Weg ist hart, aber ich lasse mich nicht mehr aufhalten.
Nichts, rein gar nichts hält mich zurück.
Ich will zurück nach Hause.
Zurück zu meiner Familie.
Und ich muss sie retten.
Vielleicht hätte ich sie nicht alleine lassen dürfen?
Ich weiß es nicht.
Ich weiß nicht einmal, was ich da genau gesehen habe.
Und das, obwohl ich es schon einmal gesehen haben muss.
Zumindest mein Kopf.
Ohne, dass ich davon weiß.
Fühlt sich Tahn so ähnlich?
»Ich bin gleich da.«, sage ich immer und immer wieder.
Diese fremde und doch so vertraute Stimme.
Mein Körper zittert noch, aber ich muss weiter.
Weiter und weiter und weiter.
Und dann erreiche ich den Gipfel, stehe auf dem Plateau und sehe die ganzen Nadelbäume meiner Heimat.
Die Mischung aus dunkelgrün und schneeweiß.
Zuhause.
Ich bin zuhause.
Und so laufe ich weiter.
Es ist nicht mehr weit.
Durch die Wälder bis zur Lichtung…
Die Hütte auf der Lichtung.
Mein Zufluchtsort.
Erinnerungen
Warum?
Irgendetwas Schlimmes und irgendetwas Gutes verbindet mich mit diesem Zufluchtsort.
Aber ist das nicht einfach nur mein Zuhause?
Woher kommt der Gedanke?
»Du befindest dich in der Hütte in Falkenhain. Im Wald. Du kannst immer hierher zurückkehren.«
Eine Stimme, die nicht zu mir gehört.
Ich blicke mich um, aber sehe niemanden.
Wer spricht da?
Und was spricht er?
Es ist so, als hätte ich das schon einmal gehört.
Aber ich laufe weiter und erreiche die Lichtung.
Die Hütte.
Immerhin brennt nicht die Hütte.
Und ich gehe darauf zu…
Ich werde langsamer – mit jedem Schritt.
Was, wenn es die Wahrheit ist?
Was, wenn sie tot sind?
Ich möchte dieses Haus nicht betreten, wenn dort alles tot ist.
Ich möchte das Blutbad nicht sehen.
Und doch zieht es mich zu dieser Tür.
Das Holz der Tür wirkt wie immer.
Kein Blut.
Keine Zerstörung.
Es ist… wie immer.
Und das macht mir noch mehr Angst.
Ich hole tief Luft und hebe meine Hand.
Blutig und dreckig.
Fast so, als wäre ich das Monster, das ich eigentlich suche.
Dann öffne ich die Tür und setze meinen Fuß ins Zimmer.
Ich traue mich nicht, mich wirklich umzusehen.
Warum halte ich keine Waffe in der Hand?
Es – was auch immer es war – könnte mich auch töten.
Vielleicht ist es noch hier.
Vielleicht-
»Anastasya?«
Ich kenne diese Stimme.
Meine Augen füllen sich mit Tränen, obwohl ich noch nicht ganz verstehe.
Und dann steht sie auf einmal vor mir.
Meine Mutter – vollkommen unversehrt.
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