Ein kleines Fleckchen Erde, völlig bedeckt mit Schnee… Das ist der Ort, an dem ein Baby geboren wurde.
Die Schneemassen toben wild umher, doch in dem Haus aus Holz ist es sicher. Dort sitzt eine rothaarige, glückliche Frau und hält ihr Baby in den Armen. Direkt neben ihr steht ihr Mann, Athis. Seine Haare sind lang und von ähnlichem Rot-Ton wie die der Mutter.
„Odin wird dich beschützen, Anastasya.“, spricht Vater Athis und malt dem Baby die Rune ‚Ansuz‘ auf die Stirn, denn diese Rune stellt das Bindeglied zwischen den Göttern dar.
In der Kälte des Nordens wächst das kleine Baby schnell heran.
Mutter Torvi und Vater Athis sind sehr stolz auf ihre Tochter und freuen sich, als ihr ebenfalls rote Haare wachsen.
Zusammen mit Anastasya ist nun das sechsköpfige und rothaarige Familienglück der Solowjowas perfekt, denn den drei älteren Brüdern von Anastasya sind ebenfalls rote Haare gewachsen.
Mutter Torvi und Vater Athis wechseln sich nun mit der Arbeit ab, um sich um die vier Kinder kümmern zu können. Die beiden sind Holzfäller mit einem eigenen Sägewerk nebenan.
Artjom – benannt nach seinem Ur-Großvater – ist der Älteste der vier Kinder und hilft den Eltern schon im Sägewerk. Er ist mit 11 Jahren alt genug, beim Tragen der Stämme zu helfen.
Anastasya hingegen verbringt noch sehr viel Zeit zwischen den wärmenden Fellen ihres Bettes. Von der Welt da draußen weiß sie noch nicht viel.
Als Anastasya sechs Jahre alt wird, darf sie ihren Eltern endlich helfen.
Dafür hat Vater Athis ihr eine winzig kleine Axt anfertigen lassen, mit der sie nun herumläuft.
„Schau mal, Anastasya, so kann man einen Baum fällen.“, erklärt er ihr, schiebt sich schützend vor sie und schlägt mit der Axt auf den Stamm des Baumes ein.
„Baum fällen!“, ruft Anastasya begeistert und läuft mit ihrer Mini-Axt zu einer ganz kleinen Fichte. Sie schlägt auf den Stamm ein, ist aber zu schwach, um das massive Holz zu zerschlagen.
„Fester, Anastasya! Du kannst es schaffen.“, feuert der Vater sie an, während die Brüder nur mit den Augen rollen und weiter die Holzstämme tragen. Sie wirken beinahe ein bisschen eifersüchtig.
Anastasyas Augen glänzen und sie freut sich über das Lob ihres Vaters.
Hochmotiviert versucht sie es weiter und einige Augenblicke später kippt die kleine Tanne neben Anastasya in den Schnee.
Das kleine Mädchen kichert aufgeregt und versucht, die Tanne hoch zu heben.
„Schwer!“, sagt sie und schaut dann ihren Vater mit großen Augen an.
Athis lacht und hebt die Tanne mit einer Hand hoch.
„Gut gemacht, Anastasya. Du wirst eine ausgezeichnete Holzfällerin!“
Ein Jahr später kommt Mutter Torvi mit einem kleinen Holzbogen zu Anastasya. „Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz.“, gratuliert die Mutter ihr und gibt ihr den Bogen. „Du bist jetzt sieben und es wird Zeit, dass wir mal gemeinsam auf die Jagd gehen!“
Anastasya kichert und hüpft aufgeregt in die Luft. „Oh ja! Danke, Mama!“, ruft sie und umarmt ihre Mutter.
Torvi lächelt und begibt sich mit Anastasya in den Tannenwald.
„Es ist wichtig, die Tiere im Wald zu finden.“, erklärt sie ihr. „Schau dir den Schnee an… Die Spuren hier sind von einem Rothirsch.“
Torvi deutet auf eine Spur im Schnee.
„Wenn wir der Spur folgen, dann finden wir sicher irgendwann das Tier, das die Spur hinterlassen hat.“
Anastasya nickt begeistert und hüpft fröhlich in die Spurabdrücke des Tieres.
„Nein, Anastasya.“, tadelt die Mutter und schüttelt den Kopf. „Du darfst das Tier nicht erschrecken, sonst läuft es weg.“
Es dauert zwei Monde bis Anastasya alles über den Wald, die Spuren und die Tiere verstanden hat. Dann findet sie zusammen mit ihrer Mutter das erste Tier und schießt es – es ist ein kleines Hirschkalb.
Das Essen an diesem Abend ist vorzüglich, denn es gibt selbst erlegten Hirsch, den Mutter Torvi zubereitet.
Nun sind auch die Brüder einigermaßen stolz auf Anastasyas Leistungen, obwohl sie weiterhin beim Vater Holzstämme schleppen müssen.
Aber sie verstehen, dass Arbeit wichtig ist und getan werden muss.
Es dauert zwei weitere Jahre bis Athis mit einem wichtigen Thema auf Anastasya zugeht.
„Anastasya. Ich habe dir doch schon mal von den Göttern erzählt, nicht wahr? Heute ist ein wichtiger Tag, denn ich will dir zeigen, wie man zu ihnen spricht und sie ehrt.“, erklärt Athis und geht mit Anastasya zu einer Lichtung im Nadelwald.
Dort kniet sich der Vater auf den Boden und stellt ein paar Kerzen auf.
„Komm zu mir, Anastasya.“
Sie setzt sich neben ihn und schaut ihn fragend an. Einzelne Schneeflocken bedecken ihre Haare und hinterlassen eine weiße Spur.
„Die Götter haben unsere Welt und uns erschaffen.“, erklärt Athis. „Und dafür danken wir ihnen für immer. Die Götter helfen uns, wenn wir wichtige Fragen haben und die Götter lenken unsere Kämpfe.“
Er holt tief Luft.
„Vor allem Odin. Er ist der Allvater, der höchste und schlauste aller Götter. Wenn du in Odins Willen handelst, wird dein Leben gut werden und auch nach deinem Tod wirst du weiterhin eine gute Zeit haben.“, setzt Athis seine Erklärung fort. „Versuch, dich nicht von List und Wut lenken zu lassen, denn das wird dir schaden.“
Er zündet eine weitere Kerze an.
„Ich zeige dir nun, wie man zu den Göttern sprechen kann. Hör einfach zu und merk es dir, vielleicht kannst du selbst auch mal mit den Göttern sprechen.“
Dann schließt Athis die Augen und konzentriert sich.
„Heil dir Odin, der du so viele Masken trägst. Dies ist meine Tochter Anastasya und sie wird – genau wie ich – deine Dienerin sein, Odin. Ich bitte dich, auf sie aufzupassen und sie zu beschützen. Ich danke dir, Odin.“
Er bleibt noch eine Weile im Schnee hocken und Anastasya beginnt, Zeichen in den Schnee zu malen.
Athis öffnet die Augen wieder und sieht zu Anastasya.
„Was machst du da?“, fragt er und erhebt sich.
„Das… Ich… Äh. Ich weiß nicht.“, erwidert Anastasya und zuckt mit den Schultern. Sie sieht selbst ziemlich verwirrt aus.
In den nächsten Wochen lernt Anastasya immer mehr über die Jagd, den Wald und über die Götter. Das kleine Mädchen erweist sich als sehr lernfreudig und würde am liebsten sofort alles wissen.
Auch beim Thema Götter zeigt sie sich sehr interessiert und sowohl Torvi als auch Athis sind überrascht über diese Eigenschaft. Ihre Brüder haben alle kaum Interesse an Geschichten über die Götter gezeigt, sie sprechen zwar ab und zu zu den Göttern, aber ihr Verhalten ist anders als das von Anastasya.
„Heil dir Odin, der du so viele Masken trägst.“, beginnt Anastasya ein paar Monde später selbst das Gebet. „Weiß ich nicht, ob du mich hören kannst… Aber bin ich Dienerin von dir, Odin und hoffe ich, dass ich gute Sachen mache für dich.“
Das nun neunjährige Mädchen verbringt den ganzen Tag draußen, liest Spuren, jagt nach Tieren oder hilft ihren Eltern. Auch die Gespräche mit Odin sind ihr sehr wichtig, weil sie spürt, dass er sie versteht. Es ist beinahe so, als würde sie wissen, was er antwortet.
Ein Jahr später kommt ihre Mutter zu ihr.
„Anastasya, du wohnst für ein Jahr bei deiner Tante Silva in Bärenfels. Sie wird dir Lesen und Schreiben beibringen. Das wird dir sicherlich helfen.“, erklärt Torvi ihr und lässt sie schweren Herzens gehen.
Sie weiß, dass Anastasya mehr über die Götter erfahren muss und sie weiß auch, dass sie ihrer Tochter eine Sache verschwiegen haben.
Als sie fort ist, setzen sich Torvi und Athis zusammen an den Holztisch.
„Wenn sie zurück ist, müssen wir es ihr sagen.“, sagt Athis.
Torvi seufzt und nickt. „Vielleicht ist sie dann bereit dazu. Sie schafft bestimmt mehr als wir…“
Sie hält ein Buch mit Ledereinband in der Hand. „Vielleicht wird sie die Zeichen entschlüsseln und damit die Runen nutzen können.“
0 Kommentare