Ich erinnere mich noch gut an die Jahre in der Hauptstadt.
Meine Eltern haben mich von Falkenhain aus zu meiner Tante nach Bärenfels geschickt, um dort Lesen und Schreiben zu lernen.
Sie wollten, dass ich es einmal besser habe als sie.
Abschied
„Pass auf dich auf, Anastasya.“, sagt meine Mutter und umarmt mich. Es ist so warm und weich in ihrem Arm und ich weiß, dass ich sie vermissen werde.
„Sei starkes Mädchen, Anastasya.“, fügt mein Vater hinzu und hält mir eine neue Axt hin. Sie ist größer als die Axt, die ich damals von ihm bekommen habe… Ich lächle ihn an und ziehe ihn mit in die Umarmung.
„Danke, Papa!“
Die kleine Axt, die in der Halterung am Ledergürtel hängt, nehme ich heraus und drücke sie Papa in die Hand. Da kommt jetzt die neue, größere Axt hin!
Ich bin stolz auf meine Axt!
Meine Mama wirft einen Blick nach draußen.
„Anastasya, ich glaube, du musst jetzt los. Es ist besser, wenn du im Hellen ankommst.“, erklärt sie mir und wirkt dabei traurig.
Ich lächle sie an und hüpfe aufgeregt auf der Stelle.
„Da, dann gehe ich jetzt!“, sage ich und umarme die beiden ein letztes Mal.
Dann verlasse ich die Hütte, die zehn Jahre lang mein Zuhause war.
Die Reise
Ich folge einem der drei Wege, die durch Falkenhain führen.
Unsere Hütte liegt weit im Norden des Ortes, aber ich muss ganz weit in den Süden.
In einer kleinen Gürteltasche trage ich einen Beutel mit fünfzehn Kupfermünzen, die mir meine Eltern gegeben haben. An der Mauer, die Falkenhain und Bärenfels voneinander trennt muss man fünf Kupfer bezahlen, haben sie gesagt.
Ich laufe vorbei an der Hütte des Dorfältesten. Er grüßt mich, aber ich habe keine Zeit, mit ihm zu reden. Ich möchte so schnell wie möglich ankommen und alles sehen, was die Hauptstadt so anders macht. Das kann ich mir gar nicht vorstellen.
Nach drei Stunden werde ich langsam durstig und bin froh, einen Wasserschlauch bei mir zu tragen. Es ist nicht gut, den Schnee zu essen, wenn man nicht weiß, was darunter liegt. Ich trinke ein paar Schlücke und setze dann meinen Weg fort. Vielleicht treffe ich ja auf ein Tier?
Ich kann es gar nicht erwarten, mit dem Bogen zu schießen und etwas zu erlegen. Meine Mama hat es mir beigebracht und sie ist bestimmt stolz, wenn sie davon erfährt.
Aber ich sehe kein Tier und es dauert ein paar weitere Stunden, bis ich in der Ferne die Spitzen der Türme sehe.
Falkenhain liegt höher als Bärenfels und so bleibt von der eigentlichen Mauer nicht besonders viel übrig.
Herunterspringen ist aber trotzdem keine Option, denn Falkenhain liegt um einiges höher… Bei dem Versuch würde ich mir wohl alle Knochen brechen.
Die Mauern von Bärenfels
Ich folge dem Weg weiter und erreiche schließlich einen der Mauer-Türme. Vor der Tür steht ein Wachmann und schaut mich an. Ich kann den Ausdruck in seinen Augen nicht deuten.
„Was möchte Kind in Bärenfels?“, fragt der Mann als ich auf ihn zu gehe.
„Gehe ich zu Tante Silva.“, erkläre ich und lächle ihn freundlich an. Was der Mann wohl schon für Abenteuer erlebt hat?
„Silva… Da, kenne ich Frau. Wohnt in Reichenviertel, hast du Glück. Musst du aber trotzdem bezahlen fünf Kupfer für Weg durch Mauer.“
Er streckt die Hand fordernd aus.
Ich seufze und krame in der Gürteltasche nach zwei Kupfermünzen.
„Da, hast du Kupfer.“, sage ich, lege die Münzen in seine Hand und schaue ihn erwartungsvoll an.
Bevor ich den Turm betrete, blicke ich die Mauer entlang und hinab in die große Stadt… Ein wirklich beeindruckender Anblick.
So viele Häuser, Hütten und Menschen… Und so wenig Bäume. In Falkenhain sind wir umgeben von Tannen und Fichten, aber hier wachsen nur ein paar mickrige Sträucher… Dafür sind die Häuser und Hütten umso größer. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.
„Ist große Stadt gefährlich für kleines Mädchen.“, sagt der Wachmann und führt mich durch den Turm.
Wir steigen die Treppen hinab und ich bemerke, wie die Luft stickig wird. Die Fackeln über jeder dritten Stufe tragen mit Sicherheit dazu bei.
In Falkenhain gibt es keine Türme…
„Hier, bittesehr, die Dame.“, sagt er, deutet in Richtung Tür und grinst mich dämlich an. Aber er hat mich durch den Turm geführt… Immerhin.
„Habt Dank.“, sage ich und verlasse den Turm. Der Wachmann steigt die Treppen wieder nach oben und verschwindet so aus meinem Sichtfeld. Das ist aber auch egal, denn das, was da vor mir liegt, ist viel interessanter.
Das Viertel des Jarls
Bärenfels ist in vier Teile, also Viertel aufgeteilt, das haben meine Eltern mir vor meiner Abreise erklärt. Es gibt das Viertel des Jarls, der so etwas wie das Oberhaupt der Stadt ist. Dann gibt es ein Viertel der Reichen, eins der ‚Normalen‘ und eins der Armen. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Jarl oder einen reichen oder armen Mann getroffen und ich verstehe nicht, warum die Stadt überhaupt aufgeteilt wird.
Aber ich weiß, dass der Jarl wichtig ist und das sehe ich jetzt, wo ich in seinem Viertel stehe.
Sein Haus ist länger und höher als jedes Haus, das ich kenne. Nicht einmal das Haus unseres Dorfältesten kommt an dieses Haus heran…
Die Dächer sind mit Unmengen an Stroh bedeckt und das Haus besteht nicht nur aus Holz, sondern auch aus Steinen.
Unmittelbar vor der riesigen Holztür hängen zwei Fahnen mit dem Wappen von Bärenfels: Einem Bären.
Erstaunt bleibe ich stehen, um mir das Haus genauer anzusehen.
Wie gerne würde ich mir das einmal von innen anschauen. Aber ich weiß, dass der Jarl Farkas ein sehr spezieller Mann ist. Meine Eltern haben mich vor ihm gewarnt und ich soll am besten gar nicht in seine Nähe.
Ich weiß, dass meine Eltern recht haben und so betrachte ich noch einen kurzen Augenblick die Pracht dieses Bauwerks, dann drehe ich mich um und folge dem Weg, der mich zur Grenze zwischen den Vierteln bringt.
Ein weiterer Wachmann steht am Übergang zwischen dem Weg zum Jarls-Haus und dem Weg zwischen den Vierteln.
Er nickt mir zu, scheint mich aber trotzdem aufmerksam zu beobachten. Zum Glück möchte er kein Geld von mir.
Ich laufe ein paar Schritte weiter und stehe nun direkt inmitten von Mauern, über die ich nicht einmal drüber schauen kann.
In der Ferne plätschert ein Wasserfall und ich weiß, dass ich genau dorthin muss, wo auch das Wasser des Flusses mündet – ins Viertel der Reichen.
Ich laufe die Mauer entlang und erreiche ein paar Augenblicke später ein Tor. Auch hier steht ein Wachmann und schaut mich an.
„Wohin geht es, Mädchen?“, fragt er und mustert mich.
„Bin ich Nichte von Silva, suche ich in Reichenviertel.“, erkläre ich und hoffe, dass er mir glaubt.
Er scheint jedoch nicht so überzeugt.
„Nichte von Silva?“, fragt er. „Sicher?“
Ich nicke und will ihm meine Axt zeigen, damit er weiß, dass der Holzfäller Athis mein Vater ist. Doch als ich nach der Axt greife, zieht er sein Schwert. „Wag es nicht, Mädchen!“, droht er mir plötzlich und ich verstehe es nicht.
Ich schaue ihn mit großen Augen an.
„Wollte ich doch nur…“
„Bist du mutig, Mädchen, einfach Wachmann zu bedrohen.“, sagt er und lacht etwas. Ich verstehe nicht, was ihn daran so erheitert.
„Athis, Holzfäller, ist Vater von mir.“, sage ich leise und deute nun vorsichtig auf meine Axt.
Der Mann schaut mich an, hebt eine Augenbraue und fängt dann an zu lachen. „Ah, das wolltest du mir sagen, Mädchen! Darfst du nicht sofort Axt ziehen wenn du bewaffneten Menschen gegenüber stehst! Kann sonst böse ausgehen, da?“, erklärt er mir und steckt sein Schwert zurück.
Ich nicke langsam.
„Da… Verstanden. Darf ich weiter?“
Der Mann lässt mich durch und beschreibt mir den Weg zu meiner Tante. Das Viertel der Reichen sieht sehr hübsch aus, ein paar Sträucher wachsen aus dem Schnee heraus und zeigen ihre Blüten. Der Weg zweigt sich an zwei Stellen, aber ich habe mir gemerkt, was der Wachmann mir erklärt hat: Dem dickeren Weg weiter folgen und die Abzweigungen ignorieren.
Ich laufe an einigen wirklich prachtvollen Häusern vorbei, die zwar alle nicht so schön sind wie das Haus des Jarls, aber trotzdem hundertmal schöner als unsere kleine Hütte in Falkenhain.
Wie viel Mühe haben sich die Bewohner wohl mit dem Bau dieser Häuser gegeben? Im Gegensatz zu dem Jarls-Haus bestehen diese Häuser fast vollständig aus Holz.
Am Ende des Weges ist nun schließlich das Haus, zu dem ich eigentlich wollte: Das Haus meiner Tante Silva. Ich war noch nie bei ihr zu Besuch… Ich weiß nur, dass ich sie vor einigen Jahren schon in Falkenhain getroffen habe, weil sie uns Kinder kennenlernen wollte.
Sie ist eine nette Frau, aber wirkt viel edler als meine Mutter.
Voller Vorfreude hüpfe ich auf das Haus zu und klopfe an.
„Hallo Silva, ich bin Anastasya!“, rufe ich und pfeife fröhlich.
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