Tahn und ich ließen die Taverne in Anrea hinter uns.
Mit diesen Nordmännern wollte ich nichts mehr zu schaffen haben.
Je weiter wir uns entfernten, desto mehr Sorgen machte ich mir.
Was, wenn ich sie nicht hätte bedrohen dürfen?
Sie waren mehr – das war klar. Und wenn sie die Drohung zu ernst nahmen… Wer wusste schon, was sie anstellen würden?
Dass sie zu allem fähig waren, war mir bewusst.
Doch was hätte ich machen sollen?
Mich nicht beschweren und es einfach hinnehmen?
Das war auch nicht der richtige Weg… Es hatte sich zumindest falsch angefühlt.

An einem etwas dichteren Waldstück legten wir eine Pause an. Es war bereits ein weiterer Tag begangen und die Nacht besiegte den Tag – es war finster.
In der Nähe kleinerer Felsformationen fanden wir tatsächlich eine Höhle. Sie dwar nicht sonderlich geräumig und ziemlich kalt, doch sie würde uns vorm Regen schützen… Der Himmel schien ein Unwetter für uns bereit zu halten.

Tahn war nicht sonderlich begeistert von der Idee, im Wald zu schlafen, doch ich ließ ihm keine andere Möglichkeit.
Er wollte sein Schwert haben und um nach Moordorf zu gelangen musste er mir folgen.

Gerade, als ich beinahe eingeschlafen war, begann es zu regnen, dann zu stürmen.
Ich war froh, die Höhle rechtzeitig aufgesucht zu haben.
Tahn schien schon zu schlafen, also entspannte ich mich etwas und versuchte, es ihm gleich zu tun.

Das Tageslicht weckte mich.
Ich hatte ganz gut geschlafen – trotz des Regensturms, der draußen gewütet hatte.
Doch nach einem solchen Wolkenbruch hatte die Welt einen ganz besonderen Geruch.
Sauber. Rein. Schön.
Es gefiel mir.
Lieber lief ich durch strömenden Regen als in trockener Hitze zu verglühen.

Als ich meine Waffen sortierte und meine Haare zusammenband, erwachte auch Tahn.
Wir krochen aus der Höhle heraus und setzten unseren Weg fort.
Allzu weit sollte es nicht mehr sein…

Doch wir hatten neben Moordorf noch ein weiteres Ziel: Äpfel.
Tahn brauchte sie unbedingt.
Leider bot diese Jahreszeit nicht einmal hier im Süden Äpfel… Zumindest gab es fast keine.
Die meisten Bäume trugen keine mehr und die, die noch am Boden lagen, waren meistens schon zerfressen und nahezu zerfallen.
Trotzdem fanden wir nach langer Suche noch zwei, die einigermaßen in Ordnung aussahen.
Das würde Tahn hoffentlich erst einmal weiterhelfen.

Wir erreichten bald ein Waldstück, das mir mal wieder bekannt vorkam.
Doch dieses Mal waren wir nicht wieder an einem der seltsamen Orte gelandet, die einfach so auftauchten.
Dieses Mal hatten wir unser Ziel tatsächlich fast erreicht: Moordorf.
Ich erkannte den Wald sofort wieder.
Es war zwar bereits ziemlich dunkel, doch ich war schon oft hier gewesen:
Die Lichtung mit dem großen Stein und der Weiher in direkter Nähe zur Taverne.
Das konnte ich einfach nicht vergessen.
Nur Tahn schien es nicht direkt wieder zu erkennen…
Das musste auch die Wirkung dieser Birne gewesen sein.
Anders konnte ich es mir nicht erklären.

Ich gähnte als wir an der Lichtung angekommen waren. Und Tahn tat es mir gleich.
Wir waren scheinbar beide sehr müde.
„Hm… Müde?“, fragte Tahn und sein Blick schweifte zu dem Stein. Erkannte er den wenigstens? „Da können wir doch schlafen.“
Ich schüttelte den Kopf.
„Njet. Hast du schon mal geschlafen dort.“, erwiderte ich. „Wollen wir doch Schwert finden, eh?“
Tahn sah mich an.
„Hab ich?“, fragte er. Zumindest stritt er es nicht ab. Das war ein Anfang.
„Da. Hast du.“
Er sah sich kurz um.
„Ja, genau. Schwert! Das ist hier?“
Ich nickte.
„Hast du zumindest gesagt.“
„Habe ich? Ja… Bei einem Dorf…“
„Moordorf.“, ergänzte ich. „Das ist hier.“

Wir folgten dem Weg, vorbei an dem Weiher und dann hinunter bis zum Vorhof der Taverne.
Eine junge Frau mit leuchtendem Stab stand dort und blickte uns an.
Eine Magierin?
Ich begrüßte sie und lief an ihr vorbei.
Mit Magiern sollte man besser nicht unhöflich umgehen… Man wusste schließlich nie, wie mächtig sie waren.

„Wo ist denn mein Schwert?“, fragte Tahn.
Ich sah mich um.
„Ich weiß nicht. Glaube ich müssen wir Jespar oder Einarr fragen… Müssten sie wissen dann.“, überlegte ich.
Ich sah kein Schwert.
Ich sah lediglich ein paar andere Kämpfer.
Einige davon kamen mir bekannt vor… Darunter auch Ivar.
Der Nord-Krieger, den ich beim Ritterschlag kennengelernt hatte.
Er schien den Umgang mit dem Schwert zu üben und vollführte einige Schläge ins Nichts.

Eine seltsam aussehende Gestalt schlich sich an Tahn heran.
Ich starrte ihn an.
Bereit, meine Waffen gegen ihn zu richten.
Doch er schlug Tahn nur auf die Schulter.
Sie schienen sich zu kennen.
Oder besser: Diese Gestalt schien Tahn zu kennen.
Tahn jedoch schien sie vergessen zu haben.
Der Stimme nach zu urteilen war es ein Mann.
Doch das Gesicht war grünlich… Mit einer langen Nase.
Kein Ork, das erkannte ich.
Aber etwas anderes…
Das hatte ich schon einmal gesehen…
Wenn ich mich recht erinnerte, hatten sie es damals „Goblin“ genannt.
Er schien nicht feindselig zu sein, ganz im Gegenteil.
Er wirkte eher belustigt und erfreut, Tahn zu sehen.
Und das, obwohl Tahn sich nicht an ihn erinnerte.

Ich sah mich nach weiteren bekannten Gesichtern um, als plötzlich ein Pfeil an uns vorbeischoss.
Er traf glücklicherweise keinen von uns, doch alle gerieten in Aufruhr.
Wer würde einfach so einen Pfeil in unsere Richtung schießen?
Vor allem ohne Grund?

Doch aufgrund der Dunkelheit sahen wir es nicht.
Wir konnten nur die grobe Richtung erahnen… Und das auch nur anhand dessen, wie der Pfeil am Boden aufgekommen war.
Der Schütze musste sich irgendwo jenseits des Baches befinden.
Wir wollten uns ihn schnappen und liefen los.
Der Weg führte um die Taverne selbst herum – so mussten wir nicht durch den Bach selbst laufen.
Ivar lief als Erster – er war sehr schnell und hatte auch nicht viel Gepäck bei sich.

Doch der Bogenschütze war uns schon entgegen gekommen.
Er stand direkt neben dem Tavernengebäude und richtete den Pfeil direkt auf uns.
„Was soll das?!“, rief ich ihm zu, doch er antwortete nicht.
Der nächste Pfeil traf.
Und zwar Tahn.
Er traf Tahn am Bein.
Ich lief zu ihm, stützte ihn.
Die anderen versuchten, den Bogenschützen von uns abzuschirmen.
Ich brachte Tahn vor die Taverne – zumindest etwas in Sicherheit.
Zum Glück war der Pfeil nicht stecken geblieben. Trotzdem sah die Wunde schlimm aus… So viel Blut.

„Tahn… Muss ich auswaschen….“, murmelte ich, schüttete etwas Metka in die Wunde und versuchte, den Dreck heraus zu waschen. Tahn murrte auf und quengelte, weil es ihm wehtat. Das verstand ich.
Doch dagegen konnte man nicht viel tun.

Als ich die Wunde fertig ausgewaschen hatte, legte ich einen Verband darum.
Bald kam Jespar aus der Tür der Taverne heraus und sah Tahn an.
Sofort schüttelte er den Kopf, ganz so, als wäre er es gewohnt, Tahn verletzt zu sehen.
Und wenn ich so darüber nachdachte, stimmte das auch.
Tahn war wirklich sehr oft verletzt.

Eine weitere bekannte Person kam auf uns zu. Es war Einarr.
Auch er musterte Tahn eher besorgt als erfreut.
Dann warf er ihm einen weißen Beutel vor die Füße.
„Ich brauche dich bei Verstand.“
Tahn sah ihn fragend an.
Auch ich rätselte, was wohl in dem Beutel war.
Er sah schwer aus.
Doch als Tahn nach dem Beutel griff um hinein zu sehen, fiel es mir ein.
Äpfel.
Das waren mit Sicherheit Äpfel.
Nur wo hatte Einarr so viele Äpfel her?
Selbst hier im Süden war es mittlerweile so kalt, dass die Bäume fast gar keine Äpfel mehr trugen.

Als ich den Blick wieder hob, sah ich auf einmal eine Gestalt.
Kein Mensch – so viel war sicher…
Doch was dann?
Ich erkannte das Schwert wieder.
Es war Tahns Schwert…
War das etwa der Geist, von dem sie geredet hatten?
Der Geist, der Tahns Schwert mitgenommen hatte?
Der Geist, der nun auf Tahn wütend war?

Was auch immer diese Gestalt sein mochte – sie hob das Schwert an und richtete es auf Tahn.
Das konnte ich nicht zulassen.
„Njet!“, rief ich und stellte mich zwischen Tahn und den „Geist“.
Dieser hielt inne.
Ein gutes Zeichen.
Er schien zwar wütend zu sein, doch nicht so wütend, dass er mich sofort mit töten wollte.

„Wir wollen Schwert wieder haben.“, sprach ich zu dem Geist.
„Grabschänder.“
Der Geist zeigte in Tahns Richtung.
„Wollte er nicht.“, erwiderte ich schnell.
„Grabschänder.“, wiederholte der Geist.
Dann wies er zur Klinge des Schwertes.
Zwei Kerben waren zu sehen.
„Eine Kerbe: Sein Schwert. Zwei Kerben: Sein Leben.“
Ich sah zu Tahn, dann zurück zum Geist.
„Njet!“. Ich schüttelte hektisch den Kopf. „Was willst du für Schwert? Kann man dir etwas anderes geben dafür?“
Der Geist schüttelte den Kopf.
Tahns anderes Schwert löste sich von ihm. Wenig später hielt der Geist es in den Händen…
Nun hatte er auch das andere Schwert.
Das, das ihm eigentlich nie gehört hatte.

Jespar stand hinter dem Geist, hielt einen Dolch in der Hand und zeigte die ganze Zeit in Richtung des Geistes.
Wollte er versuchen, den Geist niederzuschlagen?
War das eine gute Idee?
Konnte man Geister überhaupt niederschlagen?
Ich war mir nicht ganz sicher.
Doch Jespar machte es nicht und der Geist verschwand bald wieder.
Zum Glück hatte er Tahn am Leben gelassen, doch das Schwert wollte er scheinbar behalten.
Irgendwie würden wir da sicherlich noch dran kommen.
Vielleicht nicht jetzt… Aber vielleicht später.

 

Erneute Pfeile brachten die Menge in Aufruhr.
Mittlerweile hatten sich auch viele Kämpfer aus der Taverne in den Vorhof begeben, um sich um den Angreifer zu kümmern.
Tahn machte Anstalten, sich aufrichten zu wollen, doch ich drückte ihn immer wieder zurück.
Er musste sitzen bleiben und warten, bis sich die Wunde zumindest etwas geschlossen hatte.
Alles andere war viel zu gefährlich.

Ich stellte mich vor Tahn und versuchte, den anderen Kämpfern zu helfen.
Doch der Bogenschütze brachte immer genügend Abstand zwischen sich und die Kämpfer.
Ich ärgerte mich etwas, meinen Bogen im Wald gelassen zu haben…
Allerdings schien auch niemand anderes einen Bogen mit sich zu führen.
Und Batras war leider nicht hier… Mit seiner Armbrust hätte er den Angreifer sicherlich auch schnell zur Strecke gebracht.

Ein Mann mit Schild kam dem Angreifer am Nächsten.
Er musste sich wenig Gedanken darum machen, was passieren würde, wenn ein Pfeil in seine Richtung flog – mit dem Schild würde er den Pfeil einfach abwehren können.
Doch alle anderen fürchteten sich natürlich vor den Pfeilen.
Das konnte ich verstehen – Pfeile waren sehr schmerzhaft.
Vor allem, wenn sie im Körper stecken blieben und man sie erst ziehen musste.

Ich hörte den nächsten Pfeil.
Ich hörte ihn, bevor ich überhaupt begriff, was passierte.
Erst, als ein Schrei ertönte, verstand ich es.
Tahns Schrei.
Er wurde schon wieder getroffen.
Ich sah zu ihm. Der Pfeil stecke in seinem Bein, kurz unterhalb des Knies…
Es war das gleiche Bein… Der zweite Pfeil…
Hatte der Angreifer es so sehr auf Tahns Bein abgesehen oder war es wirklich nur Zufall gewesen?

Doch für solche Fragen war keine Zeit.
Ich kniete mich vor Tahn, umschloss mit einer Hand den Pfeil und drückte die andere Hand vor Tahns Mund.
„Hier. Beiß drauf. Wird weh tun.“
Es musste schnell gehen.
Zwar hätte ich besser etwas anderes genommen, doch ich hatte so schnell nichts bei mir.
Also nahm Tahn meine Hand in den Mund.
Ich spürte seine Zähne.
Dann zog ich den Pfeil.
Sein Körper spannte sich an.
Die spitzen Zähne drückten sich in das Fleisch meiner Hand und auch ich verkrampfte mich.
Ich versuchte, nicht zu schreien.
Tahn biss weiter, so lange, bis seine Schmerzen etwas abgeklungen waren.
Der Pfeil steckte nicht mehr in seinem Bein.

Mit einer Hand versuchte ich, die Flasche zu öffnen, um seine Wunde zu reinigen.
Da öffnete er den Mund und gab meine Hand frei.
Ich betrachtete sie und erkannte Bissspuren.
Ich hatte auch nichts anderes erwartet – sein Biss war stark gewesen.

Doch bevor ich auch diese Wunde versorgen konnte, kam die Erzmagierin Athera auf uns zu.
Sie kniete sich zu Tahn nieder und kümmerte sich um seine Wunde.
Mit Magie war das Ganze sicher viel schneller wieder heil…
Außerdem konnte sie ihm die Schmerzen nehmen.
Dazu vereiste sie seine Wunde.
„Oh. Ah. Das… Sowas habe ich schon mal gesehen!“, rief Tahn. Er klang begeistert.
Zwischendurch fasste er immer an sein Bein und bestätigte so, dass es wirklich sehr kalt war.
Er schien es fast nicht glauben zu können.
„Woah… Ist das kalt!“, kommentierte er immer wieder und überprüfte die Temperatur.
Die Schmerzen schienen wirklich fort zu sein.

Ich bedankte mich bei Lady Athera und sie begab sich in die Taverne.

„Vorsicht!“, kam es auf einmal von oben.
Ich sah zum Abhang hinauf und erblickte den Bogenschützen.
Er zielte auf Tahn.
Doch ich konnte mit Tahn nicht in Sicherheit. Tahn musste weiter sitzen… Außerdem konnte er vor Frost sein Bein kaum spüren.
Also breitete ich meinen Mantel aus und versteckte Tahn darunter.
Der Bogenschütze konnte so nur noch mich treffen.
Ich lehnte mich etwas näher an den Vorsprung selbst.
So konnte der Bogenschütze mich nicht mehr allzu gut treffen. Und wenn er auf Tahn zielte, dann würde der Mantel den Pfeil etwas ausbremsen.
Das war zumindest eine kleine Hilfe.

Glücklicherweise schafften die anderen Kämpfer es, den Angreifer zu vertreiben.
Erleichtert atmete ich auf.
Mein gesamter Körper schmerzte vor Anspannung.
Was, wenn der Bogenschütze einfach auf mich gezielt hätte?
Wieso half ich Tahn überhaupt?
Ich verstand es nicht so richtig… Doch ich hatte mich dafür nicht entschieden… Ich hatte es einfach getan. Hatte mich vor ihn geworfen… Hatte ihn mit dem Mantel abgeschirmt.
Ganz so, als hätte ich gar keine Entscheidungsmöglichkeit gehabt.

Der Mann mit dem Hammer kam auf mich zu.
Ich erstarrte.
Aufmerksam beobachtete ich jeden seiner Schritte.
Was wollte er?
„Anastasya.“, begrüßte er mich. „Ich habe mich etwas mit Ari unterhalten.“
Mir fiel ein Stein vom Herzen.
Er sprach normal.
Es war wirklich der Mann mit dem Hammer und nicht Akri.
„Geh am besten mal zu ihm… Er hat sich etwas um den Streit gekümmert, den du mit den Söhnen Hragstalls hast. Fordere das Wergeld, er wird es dir geben und ihr könnt den Streit beenden.“
Ich nickte langsam.
Die ganze Sache hatte mir schon Sorgen bereitet.
Wahrscheinlich war es wirklich besser, diesen Streit zu beenden.
Die Wut war verflogen… Und ich hatte schon beinahe ein schlechtes Gewissen…
„Hab Dank.“, erwiderte ich.
Der Mann mit dem Hammer schien sich etwas über mich lustig zu machen.
Doch die Sache war mir ernst.

Der Geist tauchte wieder auf.
Er sah Tahn an, warf dann einen Blick zu mir.
Er schien enttäuscht zu sein, dass ich noch in Tahns Nähe stand… Vermutlich wollte er ihn noch immer töten.
„Wenn du dein Schwert willst, dann hol es dir.“
Der Geist hob das Schwert kurz hoch.
Dann verschwand er wieder.
Es klang nicht so, als würde der Geist uns das Schwert einfach so überlassen…

Einarr war mit den anderen Kämpfern gegen die Banditen vorgegangen, doch sie schafften es scheinbar nicht, sie zu besiegen.
So kam er bald zurück zu uns.
„Was habt ihr jetzt vor?“, fragte er.
„Wir holen Schwert wieder.“, gab ich zurück. Wusste er das nicht?
„Und wie?“, fragte er.
„Geist hat gesagt sollen wir holen Schwert.“
Einarr sah mich fragend an.
„Er wird es Euch nicht einfach so geben.“
Ich nickte.
So weit war ich auch gekommen.
„Muss anderen Weg geben an Schwert zu kommen.“, überlegte ich.
„Wieso fragen wir nicht den Herrn Grafen?“, schlug er vor.
„Ist Graf da?“, fragte ich.
Einarr nickte.
Vielleicht konnten wir ihn ja überzeugen.

Doch normalerweise scherten Adlige sich nicht sonderlich um das Anliegen vom Pöbel… Wieso also sollte er uns helfen?
Einen Versuch war es dennoch wert.

Wir liefen die Treppe hinauf und zu einem Tisch, an dem der Graf mit weiteren Adligen saß.
Es erinnerte mich an meinen ersten Tag in Moordorf, an dem wir uns alle bei den Adligen vorstellen sollten…

Doch bevor wir den Graf auch nur ansprechen konnten, kam ein anderer Mann dazwischen.
Er trug ein Kettenhemd und rote Kleidung, doch ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen.
Bei uns stellte er sich als „Hauptmann“ vor und schien allerdings Tahn zu erkennen… Und leider wusste er auch, was Tahn angestellt hatte.

Er bezichtigte ihn als Grabschänder und forderte von Tahn, dies zuzugeben.
Ich schüttelte den Kopf.
Woher sollte Tahn das wissen?
Er erinnerte sich doch nicht einmal daran.
„War nicht Absicht!“, mischte ich mich ein. „Verzeihung. Darf ich sprechen für ihn? Er kann sich nicht erinnern.“
Der Mann sah mich an. Sein Blick war finster.
War das ein Ja?
„Er hat es getan und Grabschänder werden hier nicht geduldet! Für Grabschänder gilt die Todesstrafe!“
Ich starrte den Hauptmann an.
Das konnte er nicht ernst meinen.
Das würde ich nicht zulassen.
Wenn er das wirklich beabsichtigte, dann würde ich Tahn aus diesen Ländereien schaffen.
So weit würde uns dieser Mann mit Sicherheit nicht verfolgen.
Das einzige Problem war, dass Tahn sein Schwert nicht hatte… Und dabei wollte er es unbedingt. Er brauchte es. Er hörte kaum auf, davon zu reden oder nach seinem Schwert zu fragen.
Irgendwie schien er an dem Stück Metall zu hängen.

„Kann er kämpfen?“, fragte der Hauptmann und musterte Tahn.
„Wenn er Schwert hat, dann kann er kämpfen.“, erwiderte ich. „Geist hat Schwert von ihm.“
„Mh.“, kam es vom Hauptmann. Er schien sich nicht ganz sicher zu sein.
„Ein Jahr.“, sprach er dann. „Er steht ein Jahr in meinem Dienst. Dadurch kann er seine schlechte Tat ausgleichen.“
Ich sah zu Tahn, dann zurück zu dem Mann.
Das kam nicht in Frage.
Tahn durfte nicht ein Jahr lang bei diesem Mann bleiben.
Tahn musste seine Frau und sein Haus finden.
So hatte die Prophezeiung es gesagt… Und war ich nicht auch irgendwie ein Teil von ihr?
Das durfte dieser Mann nicht zerstören.
Doch wenn der andere Weg war, Tahn zu töten…?

Mir fiel etwas ein.
„Bekommt er Schwert wieder? Braucht er Schwert zum Kämpfen.“
Der Hauptmann nickte.
Dann sah ich zu Tahn.
„Willst du Schwert wiederhaben, eh?“
Tahn nickte. „Ja! Ich suche mein Schwert.“, erwiderte er. Er schien das Gespräch nicht wirklich mitbekommen zu haben. Umso besser.
So musste er nur zustimmen.
„Dann macht er es.“, erklärte ich dem Hauptmann.
Dieser sah zu Tahn.
„Tahn. Du willst Schwert haben, eh?“, fragte ich noch einmal. „Dann musst du jetzt ‚Ja‘ zu Hauptmann sagen.“
Tahn sah zu dem Mann und nickte.
„Ja.“
Der Hauptmann streckte seine Hand aus. Sie gaben sich die Hand.
Bei Ehrenleuten war das ein Zeichen dafür, sich an das Wort zu halten.
Doch ich war keine Ehrenfrau.
Und Tahn würde diesen Mann ohnehin hoffentlich bald vergessen.

Der Hauptmann überreichte Tahn ein Schwert.
Es war allerdings nicht Tahns eigentliches Schwert… Nicht der Beidhänder, sondern das Schwert, das ehemals Kirren gehört hatte.
Tahn war nicht besonders glücklich damit.

„Wann bekommt er anderes Schwert?“, fragte ich den Hauptmann.
Der überlegte.
„Wenn sein Dienst beendet ist. Er hat wirklich großes Glück, dass er der Todesstrafe entgangen ist.“
Ich nickte dem Hauptmann zu.
„Habt Dank.“
Er nickte.
„Habt ein Auge auf ihn. Ich melde mich, wenn ich ihn brauche.“

Wir wollten die Treppen gerade wieder herunterlaufen, als mir etwas einfiel.
Ich blieb stehen.
„Ich muss noch Wergeld einfordern.“, sprach ich und drehte mich um.
Einarr und Tahn zögerten, folgten mir dann aber.
Ich lief zu Ari.
Er stand bei einem Tisch an der Wand und schien seine Ware zu verkaufen.
Zwei fremde Frauen standen bei ihm.
Ich stellte mich hinter sie und wartete.

„Anastasya!“, begrüßte er mich.
Ich war mir nicht sicher, wie ernst er diese Begrüßung meinte.
Vielleicht machte er sich auch über mich lustig?
Doch eigentlich klang er ziemlich freundlich.

Die Frauen drehten sich zu mir um und machten dann Platz.
Ich stellte mich näher zu Aris Tisch und sah ihn direkt an.
„Also Anastasya, was wollt Ihr?“, fragte er.
Ich sah ihn weiterhin an.
„Ich vermute, Ihr wollt etwas von mir, richtig?“
Ich nickte.
„Da. Du weißt, was vorgefallen ist, eh?“, fragte ich.
„Natürlich.“, gab er zurück. „Ihr wollt etwas von mir fordern, aber Ihr müsst es selbst aussprechen.“
Wieder nickte ich.
„Da. Wergeld, eh?“
Aris Blick schweifte umher und traf Einarr.
„Diesem Mann da haben wir übrigens das Wergeld angeboten.“, erklärte er.
Ich starrte Einarr an.
Wütend.
Enttäuscht.
„Was?! Wieso habe ich nie von dem Geld gesehen?“, fragte ich ihn.
„Ich habe kein Geld angenommen.“, erwiderte er.
„Warum hast du mich nicht gefragt oder es erzählt?!“
Ich verstand es wirklich nicht.
So viel Streit nur, weil Einarr es mir verschwiegen hatte?

„Wie viel wollt Ihr haben?“, fragte Ari mich.
Ich dachte nach.
Das konnte ich wirklich schlecht einschätzen.
„Ist schwierig.“, gab ich zu. „Immerhin hätte ich sterben können.“
Ari schwieg eine Weile, dann begann er zu erklären:
„Bei uns ist das so: Wir zahlen hundert Kupfer an die Familie wenn Jemand gestorben ist. Damit kann die Familie eine Weile auskommen. Bei Verletzungen, also wenn Blut vergossen wurde, dann zahlen wir dreißig Kupfer. In Eurem Fall – da ihr nicht ernsthaft zu Schaden gekommen seid – wären das etwa zehn Kupfer.“
Ich nickte.
„Da. Zehn Kupfer.“, erwiderte ich.
Ich wollte das Thema schnell vom Tisch haben und zehn Kupfer klangen in Ordnung.
Immerhin war ja wirklich nichts passiert.
Es hätte allerdings Schlimmeres passieren können.
Hätte.

Ari nickte und kramte zehn Kupfermünzen aus einem Beutel, die er dann aufeinander stapelte.
„Ich habe Euch auch als durchaus freundlichen Menschen kennengelernt, Anastasya. Vor allem, weil Ihr mich geheilt habt. Und zwar mit Runen. Das einzige magische Mittel, das ich als angemessen empfinde.“, erklärte er.
Ich nickte und erinnerte mich an die Taverne hinter den Sümpfen.
Dort war er zu Schaden gekommen und ich hatte mich um seine Wunde gekümmert.
Wir gaben uns die Hand.
„Ich hoffe, dass der Streit damit beendet ist und kein Groll mehr gehegt wird.“
Ich nickte.
„Dann sagt es.“
„Sache ist gegessen. Ich hege keinen Groll mehr“, erwiderte ich.
Dann nahm ich das Kupfer.

Er bot uns seine Waren an und Einarr, Tahn und ich sahen sie uns an.
Doch ich hatte kein großes Interesse daran, etwas zu kaufen, also verließen wir die Taverne bald wieder.
Auf dem Weg hinunter begegnete ich Thorstain und begrüßte ihn. Doch wir hatten einander nicht viel zu sagen und so setzte ich meinen Weg fort.

Der Mann mit dem Hammer stand draußen vor der Taverne an eine Mauer gelehnt und unterhielt sich mit Polly.
„Sache ich geklärt.“, sagte ich im Vorbeigehen.
„Wie ist es gelaufen?“, fragte er.
„Bin ich hingegangen, habe gesprochen mit ihm. Hat er gefragt wie viel ich will. Habe ich gesagt, dann hat er gegeben. Alles gut.“, antwortete ich.
„Wie viel hast du gefordert?“
„Zehn Kupfer.“, erwiderte ich.

Erneute Angriffe fanden statt.
Der Regen schränkte unsere Sicht ein.
Er schien gar nicht aufhören zu wollen.
Irgendwie war es nicht möglich, die Banditen zu töten.
Gerüchte kursierten bereits, dass etwas sie unsterblich machte.
Unsterblich…
Der Gedanke faszinierte mich noch immer.
Als wir uns wieder gemeinsam aufstellten, um zu kämpfen, kam endlich heraus, was diese Banditen scheinbar unsterblich machte.
Sie trugen ein Amulett bei sich.
Und einer der Kämpfer erklärte mir vor dem Kampf, dass der Geist das Amulett gerne haben würde.
Darin sah ich eine weitere Möglichkeit.
Wenn wir dem Geist das Amulett überreichten, so würde er uns vielleicht das Schwert wiedergeben.

Die Kämpfer trieben den Banditen mit dem Bogen in eine Ecke und versuchten, ihn festzusetzen.
Sie schlugen ihn bewusstlos.
„Bringen wir ihn oben in die Taverne!“, rief der Hauptmann. Er war gerade aus der Taverne herausgekommen.
„Tahn! Hilf ihnen!“, befahl er und Tahn machte sich sofort an die Arbeit.
Scheinbar erinnerte er sich noch an diesen Mann.
War mein Plan doch nicht so gut, wie ich gehofft hatte?

Als sie ihn gerade in die Taverne schleifen wollten, erwachte er.
Jemand hatte nicht gut genug aufgepasst, denn der Bandit zog einen Dolch und stach damit zu.
Er traf Tahns Schulter… Und auch die anderen Kämpfer wurden verletzt.

Ich zog Tahn zurück, zog ihn weg von diesem wildgewordenen Mann.
Er jammerte über die Schmerzen in seiner Schulter.
An einer Mauer angekommen, wusch ich die Wunde aus und verband sie.
Dazu nutzte ich diesmal zwei Verbände – es floss wirklich viel Blut.
„Musst du ausruhen Arm nun.“, erklärte ich Tahn.
Es war leider die rechte Schulter, die getroffen worden war.
Genau die, mit der er sein Schwert führte.
Doch vermutlich war es besser für ihn, sich nun erst einmal auszuruhen.

Als ich mit Tahn bei der Mauer stand, erblickte ich den Geist.
Vielleicht konnte ich mit ihm über das Amulett und das Schwert sprechen.
„Ihr wollt Amulett haben?“, fragte ich den Geist direkt.
Er wand sich zu mir um.
„Allerdings.“, erwiderte er.
„Wenn ich Amulett gebe, bekomme ich dann Schwert?“
Der Geist grinste und dachte darüber nach.
„Wenn Ihr mir das Amulett bringt, dann können wir darüber reden.“, erwiderte der Geist.
„Wie sieht Amulett aus?“, fragte ich:
Der Geist hob seine eigene Halskette an. Daran befanden sich ein paar leuchtende Steine.
„Es gibt mehrere Stücke davon. Der Bandit hat eins.“
„Ein Stück reicht um zu reden über Schwert?“
„Ja.“, antwortete der Geist.
Damit war es klar.
Ich würde dem Geist das Amulett-Stück geben.

Ich sprach mit ein paar anderen Personen.
Es stellte sich heraus, dass das Amulett bereits den Besitzer gewechselt hatte.
Jemand hatte es dem Banditen genommen… Doch wo war es nun?

Ich erblickte Thorstain und lief auf ihn zu.
„Hallo Thorstain. Hast du etwas von diesem Amulett gehört?“, fragte ich ihn.
„Ja. Habe ich. Manus hat es. Warum?“
Manus also…
Es war gut, dass es in den Händen von Menschen war, die ich kannte.
Doch ich war Thorstain eine Antwort schuldig, also erzählte ich ihm von Tahn, seinem Schwert und dem Geist.
Ich machte ihm klar, wie sehr wir das Schwert brauchten.
„Nein.“, lautete seine Antwort. „Ihr könnt das Amulett nicht haben. Das ist viel zu gefährlich. Wir wissen nicht, was der Geist damit vorhat.“
„Ist doch egal!“, protestierte ich. „Wenn er schlimme Sachen macht, gehen wir einfach! Wenn wir Schwert haben hält uns nichts mehr hier.“
Thorstain lachte abfällig.
Er schien mir nicht einmal richtig zuzuhören.
Auf ihn konnte ich mich also nicht verlassen.
Das machte mich wütend, also ging ich wieder von ihm weg.

Ich berichtete Einarr, was ich herausgefunden hatte.
Doch der Geist hörte uns zu.
„Sagt mir, wer das Amulett hat.“
Ich sah den Geist an.
„Was ist dann mit Schwert? Reden wir dann trotzdem über Schwert?“, fragte ich.
Der Geist nickte.
„Wenn ich weiß, wer das Amulett hat, dann kann ich es mir auch selbst beschaffen.“
Ich nickte, atmete tief ein und zeigte dann möglichst unauffällig in Manus Richtung.
Zusätzlich beschrieb ich noch sein Aussehen.
Ich kam mir ein wenig schlecht vor, doch es war ja für einen höheren Zweck.
Es war wichtig.
Die Prophezeiung… Um sie erfüllen zu können, brauchte Tahn vermutlich sein Schwert.

Der Geist näherte sich Manus.
Ich sah ihm zu.
Doch mich packte die Angst.
Was, wenn ich eine falsche Entscheidung getroffen hatte?
Was, wenn der Geist das Amulett um jeden Preis haben wollte?
Was, wenn er es Manus gewaltsam entreißen wollte?
Ich wollte doch niemanden meiner Freunde verraten oder gar in Gefahr bringen…
„Tahn. Wollen wir etwas gehen?“, fragte ich nervös.
Tahn war verwirrt, folgte mir aber.
Ich wollte raus aus der Sichtweite des Geistes.
Ich wollte vermeiden, dass er auf mich zeigen konnte.
Ich wollte nicht die Schuldige sein.
Und ich fühlte mich wirklich schlecht.

Bald kam Lord Cecil mir entgegen.
Seine Kleidung wirkte noch durchnässter als die von uns anderen.
War er schon länger durch den Regen gelaufen?
Ich begrüßte ihn und er schritt auf die Taverne zu.
„Ich fühle mich… sehr nass.“, erklärte er. Ich sah ihn fragend an.
Um den Banditen zu fangen, war er quer durch den Fluss gewatet.
Wahrscheinlich war das der Grund für die durchnässte Kleidung.
„Lord Cecil.“, rief ich dann zögerlich.
Er blieb stehen und sah mich an.
„Ich… würde gerne reden mit Euch.“, setzte ich fort.
„Natürlich.“, erwiderte er. „Was gibt es?“
Ich erzählte ihm vom Amulett, vom Geist und vom Schwert.
Seine Antwort ähnelte der von Thorstain: Es war gefährlich.
Doch er würde sich um das Schwert kümmern.
Wir würden es zurückbekommen.
Und da es sich um Lord Cecil handelte, wusste ich, dass er sein Wort halten würde.
Immerhin war er ein Ehrenmann.
Wenn er etwas sagte, dann geschah es auch so.

Tahn folgte Einarr in die Taverne.
Ich folgte ihnen nicht.

Irgendwie war ich erschöpft. Und ich hatte Hunger.
Ich verstand nicht, warum ich Tahn so sehr half.
War es wegen der Prophezeiung? Und wieso glaubte ich überhaupt so sehr daran?
Es gab doch genügend andere Personen, die ihm halfen.
Einarr zum Beispiel.
Ich war doch gar nicht geeignet…
Das verwirrte mich…
Ich half Tahn ohne darüber nachzudenken.
Und genau das verstand ich einfach nicht.

Ich entfernte mich von der Taverne und lief in Richtung des Waldes.
Es war bereits tiefste Nacht und so sah ich kaum etwas.
Doch das beruhigte mich.
Die Nacht war einfach immer ruhiger als der Tag.
Die Nacht konnte das Grauen verbergen… Genau wie der Schnee.
Ich vermisste ihn…

Ich folgte dem Waldweg bis hin zum Weiher.
Dort kniete ich mich ans Ufer.
Der Regen prasselte ohne Unterlass auf mich herab, doch ich störte mich nicht daran.
Ich kramte meinen Runenbeutel aus der Tasche.
„Odin… Kannst Du mir helfen? Ich weiß nicht, was ich tun soll. Warum helfe ich Tahn? Warum habe ich das Verlangen, ihn zu beschützen? Warum will ich ihn begleiten? Liegt es an der Prophezeiung? Muss ich ihn zu seiner Frau und dem Haus bringen? Oder ist es etwas anderes? Sag es mir bitte, Odin. Ich brauche deinen Rat.“
Ich atmete tief ein und wieder aus.
Dann griff ich in den Stoffbeutel und zog die erste Rune heraus.
Die Rune für die Vergangenheit.
Uruz, die Stärke.
Kein schlechtes Zeichen… Doch die Vergangenheit war vorbei.
Dann zog ich die Rune für die Gegenwart.
Gebo, die Gabe oder das Geschenk.
Ich überlegte, welche Gabe mir gegeben wurde… Und, ob ich dafür schon etwas zurückgegeben hatte.
Doch mir fiel auf die Schnelle nichts ein.
Also zog ich die nächste Rune. Manchmal ergab das Bild der Runen auch nur im Zusammenhang einen Sinn.
Und für die Zukunft zog ich Ansuz, die Rune des Menschen.
Bisher hatte ich noch keine Rune falschherum gezogen… Das war ein gutes Zeichen.
Doch nun war ich gespannt. Die nächste Rune stellte das Problem dar, auf das ich treffen würde.
Ich zog Raidho, die Rune der Reise oder des Weges.
Nicht gut… Immerhin hatten Tahn und ich eine lange Reise vor uns… War es das, was Odin mir damit sagen wollte?
Doch bevor ich mir den Kopf darüber zerbrechen konnte, zog ich die nächste Rune.
Die Rune, die den Grund für die Frage an Odin darstellen sollte.
Es war Taiwaz, die Rune des Kampfes.
Was sollte das bedeuten?
Zum Schluss zog ich Mannaz, jedoch umgekehrt.
Diese Rune sollte das mögliche Ergebnis oder die mögliche Lösung darstellen.
Doch das umgekehrte Mannaz stand für fehlendes Vertrauen und Hinterlistigkeit der Menschen.

Ich dachte an Tahn.
Das konnte doch nicht sein?
Wollte mich Odin vor ihm warnen?
Sollte ich diese Reise vielleicht doch nicht antreten?
Ich war mir nicht sicher.

Eine ganze Weile lang blieb ich noch im Regen sitzen und dachte über die Runen nach.
Ich machte mir Sorgen darum.
Was sollte ich nur tun?
Ich wollte Tahn doch helfen…
Aber was, wenn das wirklich eine Warnung von Odin war?
Was, wenn ich mich in Gefahr begab?

Tief in Gedanken versunken vergaß ich die Welt um mich herum.
Der Regen prasselte immer und immer weiter auf mich herab und ich wurde erst aus meinen Gedanken gerissen, als ein starker Windstoß die Kapuze aus meinem Gesicht fegte.
Wie lange saß ich schon hier?
Ich konnte es nicht sagen.
Es war immer noch dunkel. Reine Finsternis.
Doch es wurde Zeit, dass ich mich wieder etwas vorm Regen schützte.
Mein Wollmantel hielt viel Regen ab, doch irgendwann hatte sich selbst der mit Regen vollgesogen.
Also erhob ich mich und machte mich auf den Rückweg.

Als ich den Abhang in Richtung Taverne hinunter lief, erblickte ich Tahn.
Und ich traute meinen Augen kaum.
Er trug sein Schwert bei sich.
Sein Schwert.
Den Zweihänder.
Wie hatte er das geschafft?
Wie lange war ich weg gewesen?

„Tahn!“
„Ah. Ana… Anastasya. Da bist du ja. Ich hab mein Schwert!“
Ich sah ihn fassungslos an.
„Da. Sehe ich. Aber wie?“, fragte ich.
„Der Geist hat es mir gegeben.“, gab er zurück.
Das konnte ich kaum glauben.
Wie?
Wie hatte er es nur geschafft?

Einarr kam bald zu uns.
Er konnte es mir erklären.
Lord Cecil hatte geholfen.
Irgendwie hatte er den Geist überzeugt, das Schwert zurück an Tahn zu geben.
Ich hatte mich also nicht in ihm geirrt.
Ich musste mich auf jeden Fall bei ihm bedanken.

Etwas nervös betrat ich die Taverne und suchte Lord Cecil.
Der Mann mit dem Hammer trat auf mich zu.
„Wen suchst du, Anastasya?“, fragte er.
In diesem Moment erblickte ich den Mann.
Er saß etwas weiter hinten in einer Ecke – zusammen mit Lady Athera.
„Habe schon gefunden.“, erwiderte ich leise.
Ich fürchtete mich etwas davor, doch ich musste es tun.
Es gehörte sich schließlich so.
Also trat ich auf Lord Cecil zu.

„Lord Cecil. Ich danke Euch.“, sprach ich.
Er nickte.
Ich erwiderte das Nicken, sah ihm kurz ins Gesicht… Dann senkte ich den Blick wieder und drehte mich um.
Das war irgendwie seltsam.
Aber immerhin hatte ich mich bedankt…
Und er hatte meinen Dank irgendwie angenommen… Das hoffte ich zumindest.

Ich verließ die Taverne wieder.
Der Weg führte mich erneut in Richtung Wald.
Ich war müde.
Ich hatte Hunger.
Was tat ich überhaupt hier?
Sie brauchten mich doch gar nicht?
Da war ich einmal weg und schon lösten sich die Probleme in Luft auf.
Was, wenn Akri damals Recht gehabt hatte?
Was, wenn ich das Unheil wirklich magisch anzog?
Akri.
Wenn ich an ihn dachte, lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Wieso?
Hinterging er mich tatsächlich?
Hatte er dieses furchteinflößende Wesen wirklich zu mir gelassen?
Und wenn ja, wieso?
Hatte ich mich so in ihm getäuscht?

Ich hörte Geräusche.
Schritte.
Schnell drehte ich den Kopf und sah mich um.
Tahn und… noch Jemand?
Sie liefen in Richtung des Grabes.
In Richtung des… NEIN!

Ich lief los.
„Tahn!“, rief ich.
Er reagierte nicht.
Hatte ich zu leise gerufen?
„Tahn!!“, schrie ich nun.
Noch immer keine Reaktion.
War das nicht laut genug gewesen?
„TAHN!“, wiederholte ich.
Nichts.
Sie verschwanden bald in der Finsternis, also beschleunigte ich meine Schritte.
Als sie schon beinahe am Grabstein angekommen waren, erreichte ich sie.
„Tahn.“, sprach ich atemlos.
Ich war gerannt.
„Was hast du vor?“
Er sah mich an.
„Wir suchen nur die Spuren der Banditen.“, erklärte er mir. Aus seinem Mund klang es wie selbstverständlich.
Warum hatte ich mir überhaupt Sorgen gemacht?
Tahn war erwachsen.
Tahn musste doch seine eigenen Entscheidungen treffen.
Er hatte doch sogar eine Frau…
Warum also kümmerte es mich so?

Ich sah mich etwas um.
Ein seltsamer Ort für einen Grabstein.

Als ich mir den Grabstein genauer ansah, zuckte ich zusammen.
Mein Körper erstarrte.
Namen waren in den Stein hereingeschrieben worden.
Einer davon… war meiner.

Ich starrte den Stein weiter an, unfähig, mich zu bewegen.
Ich konnte nicht einmal einen klaren Gedanken fassen.
„Tahn.“, murmelte ich nach einem Augenblick der Starre leise.
„Ja?“
Er verstand meine Reaktion nicht.
„Kannst du dritten Namen von oben lesen?“, fragte ich ihn.
Meine Stimme klang beinahe tonlos.
Tahn las einen Buchstaben nach dem nächsten laut vor.
Ich wartete auf den Moment, an dem er es erkannte.
Dann sah er mich schockiert an.
„Anastasia!“, stellte er fest. „Da steht dein Name!“
Er war zwar falsch geschrieben, aber dennoch.
Der andere Mann, den ich nicht kannte, sah mich an.
„Hm. Es gibt sicher mehrere Menschen mit deinem Namen.“, erwiderte er.
Ich starrte weiterhin den Grabstein an.
Hier im Süden hatte ich noch niemanden kennengelernt, der meinen Namen trug.
Das konnte doch kein einfacher Zufall sein?
In jedem Fall bereitete es mir Sorgen.
Doch als Tahn und der andere Mann keine weiteren Banditen-Spuren fanden, verließen sie den Ort des Grabsteins wieder. Und ich folgte ihnen.

Wieder an der Taverne angekommen, hörte ich einige Wortfetzen eines Gespräches.
Es ging um Odin und die heiligen Hallen.
Ein paar Nordmänner unterhielten sich mit zwei Männern, die nicht so aussahen, als würden sie auf dem Norden kommen.
Einer von ihnen trug einen großen Hammer bei sich.

Ich gesellte mich dazu.
Sie hielten mich nicht auf, sondern luden mich ein, am Gespräch teilzunehmen.
Doch schon bald drehte sich das Gespräch nicht mehr um die Götter, sondern um etwas, was „Sigmar“ genannt wurde.
Was meinten sie nur damit?

Ich musterte die beiden Männer, die nicht aus dem Norden zu kommen schienen.
Sie trugen Kleidung in roten Farben.
Ihr Gott schien ein anderer zu sein.
Doch sie wirkten nett.
Also beschloss ich, meine Neugier zu stillen und sie zu fragen.
Ich fragte sie nach den Symbolen auf dem Hammer und auf ihrer Kleidung.
Und sie erzählten mir von Sigmar, ihrem Gott und von fliegenden, brennenden Steinen, die Meteoriten genannt wurden.
Etwas verwirrt hob ich einen Stein vom Boden.
„Wenn dieser brennt und ich werfe, dann ist das so etwas wie Meteorit?“, fragte ich verwirrt.
Sie grinsten etwas und schüttelten den Kopf.
„Nein, die Meteoriten kommen aus dem Himmel.“
Der Mann mit dem Hammer beteiligte sich an dem Gespräch.
„Sternschnuppen, Anastasya.“, erklärte er. „Du weißt doch, was das ist.“
„Da. Aber Sternschnuppen fliegen. Sternschnuppen sind Zeichen der Götter. Sind nicht brennende Steine.“
„Doch.“, widersprach der Mann mit dem Hammer.
Ich sah ihn verwirrt an.
Wie konnte das sein?
Ich hatte noch nie eine Sternschnuppe fallen sehen.
„Die Sternschnuppen zerstören ganze Städte.“, erklärte einer dieser Männer. Später erfuhr ich, dass sie „Sigmariten“ oder „Priester Sigmars“ genannt wurden.

Der Hammer des einen Mannes interessierte mich.
Auf beiden Seiten hing ein Zettel daran.
„Darf ich lesen?“, fragte ich.
„Ja. Nur den Hammer solltest du besser nicht anfassen.“
Ich sah ihn verwirrt an.
Doch das reichte mir erst einmal.
Ich versuchte, das auf dem Zettel Geschriebene zu lesen.
Es ging um Sigmar, ihren Gott.
Mit seiner Hilfe soll das Böse zerstört werden.
Es erinnerte mich an andere Götter, deren Taten mir von ihren Anhängern erzählt wurden.
Irgendwie war es immer gleich.
Und auch mit dem Namen Sigmar meinten sie sicher niemand anderes als Odin.
Es war am Ende doch immer Odin, um den sich die Geschichten drehten.

Als ich die beiden Zettel gelesen hatte, fragte ich den Mann, warum ich den Hammer nicht anfassen durfte.
„Wenn du böse bist, dann erleidest du Schmerzen. Der Hammer ist dafür da, das Böse zu zerstören.“
Das verstand ich nicht ganz.
„Was ist böse, was ist gut?“, fragte ich ihn.
Ich wusste selbst nicht, zu was ich mich zählen sollte.
Ab wann?
War das nicht eine Frage der Sichtweise?

„Für uns ist das Chaos das Böse. Dieser Hammer ist dafür gebaut worden, das Chaos zu zerstören.“, erklärte er mir.
Ich sah ihn an.
Chaos?
Wirklich?
Wieso gerade das Chaos?
Ich hatte bisher viele gute und nur wenige schlechte Erfahrungen damit gemacht.
Doch ich traute mich nicht, das dem Mann mitzuteilen.

Als er sah, dass ich nicht ganz verstand, versuchte er mir die einzelnen Chaosgottheiten zu erklären.
Es war interessant, das Ganze einmal aus einer anderen Sichtweise erklärt zu bekommen.

Er begann mit Khorne.
Ich sollte mir ein Zelt vorstellen, in dem alles voller Blut und Leichen und Verletzten war.
Ein Zelt, in dem sich die Khorne-Anhänger darüber freuten, Menschen zu töten.
Die Vorstellung gefiel mir zwar nicht, doch mir fielen genügend Wesen und auch Menschen ein, die ähnlich handelten… Und das, ohne dem Chaos zuzugehören.

Als nächstes wollte er mir Slaanesh erklären.
Ein Zelt, in dem sich viele halbnackte oder nackte Personen räkeln.
Ich musste grinsen.
„Muss nicht schlecht sein, eh?“, fragte ich grinsend.
Auch der Mann mit dem Hammer musste grinsen.
Der Sigmar-Mann wusste, dass er diese Erklärung schon verloren hatte.
Also fuhr er fort.
Mit Tzeentch.

Magier, die jeden beeinflussen konnten.
Magier, die jeden manipulieren konnten.
Ich musste an Galador denken.
Es faszinierte mich einfach nur.
„Müssen mächtig sein, eh?“, fragte ich.
Das war auch alles, was ich darüber dachte.
Mächtige Magier, mit denen man sich lieber nicht anlegen wollte.

„Und zum Schluss. Nurgle. Das Verderben. Die Pest. Die Verwesung.“
Ich zuckte zusammen.
Ein seltsames Gefühl durchströmte meinen Körper.
Ich konnte es nicht beschreiben.
Eine unbestimmte Angst, die ein gewisses Verlangen weckte.
Nur warum?
Und was?
Was für ein Verlangen? Wonach?
Und was für eine Angst?

„Stell dir ein Zelt vor, in dem Leichen liegen. Es stinkt abscheulich und die Wesen, die da drin noch leben, sind seltsam mutiert. Sie sind irgendwie untot. Untotes Fleisch. Ihnen wachsen weitere Körperteile.“
Während seiner Erklärung warf ich einen kurzen Seitenblick zum Mann mit dem Hammer.
Der Sigmar-Mann sah mich prüfend an.
Ich verzog nicht einmal das Gesicht.
Es war nicht schlimm.
Es klang wie ein Friedhof.
Friedhöfe waren nicht schlimm.
Ich genoss die Ruhe dort sehr.
Und Untote?
Sie aßen Fleisch… Menschenfleisch…
„Ekelt dich das nicht an?“, fragte der Mann und riss mich aus meinen verwirrten Gedanken.
Ich sah zu ihm.
Und schüttelte den Kopf.
„Habe ich schon Schlimmeres gesehen… Glaube ich.“, erwiderte ich.
Irgendetwas war da in meinem Kopf.
Irgendeine Erinnerung.
Doch sie war nicht klar.
Nur verschwommen.
Es verwirrte mich sehr.

Die beiden Sigmar-Männer sahen sich an und verabschiedeten sich schließlich von mir.
Sie betraten die Taverne.
Ich blieb im Regen stehen.
Das Gespräch hatte mich verwirrt.
Was war nur mit mir los?

Der Mann mit dem Hammer brach in Gelächter aus.
Er machte sich über die beiden Sigmar-Männer lustig und schien sie ganz und gar nicht ernst zu nehmen.

Dann sah er mich nachdenklich an.
„Was ist das eigentlich mit Tahn und Äpfeln? Und Birnen?“, fragte er.
Ich sah ihn an.
„Birnen sind nicht gut.“, erwiderte ich. „Scheint alles zu vergessen dann.“
„Und Äpfel? Da vergisst er auch?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Njet. Äpfel sind gut.“, antwortete ich.
Er sah mich verwirrt an.
„Hm. Na dann.“
Ich zuckte mit den Schultern.
Was sollte ich ihm groß dazu sagen?
Das war nur, was ich beobachtet hatte.

Wir hörten Stimmen aus der Richtung des Grabsteins und beschlossen, uns einmal anzuschauen, was dort los war. Polly begleitete uns. Ich mochte sie.
Ein paar Magier kamen uns entgegen, doch sie verrieten nicht, was sie getan hatten.
Wir näherten uns dem Grabstein.
Nichts.
Ich sah nichts und ich spürte auch nichts.
Hatten die Magier überhaupt etwas unternommen?
Ich konnte es nicht sagen.
„Steht mein Name auf Grab.“, murmelte ich leise.
„Wirklich?“, fragte der Mann mit dem Hammer ungläubig.
Ich nickte.
Er näherte sich dem Grabstein.
Dann konnte er meinen Namen auch lesen.
„Oh. Wirklich.“, kommentierte er.

Ich fühlte mich noch immer seltsam.
Es war komisch, an diesem Grab zu stehen.
Und ich hatte Hunger.
Großen Hunger.

Also drehte ich mich um und wollte zurück gehen.
„Ist alles in Ordnung, Anastasya?“, fragte der Mann mit dem Hammer.
„Da.“, erwiderte ich leise.
Es war nicht sonderlich überzeugend.
Aber warum sollte ich ihn auch davon überzeugen wollen.
Helfen konnte er mir allerdings ohnehin nicht.

Sie folgten mir zurück, aber ich ging in einigen Schritten Abstand vor.
„Was ist eigentlich mit Schädel?“, fragte ich, ohne den Kopf zu drehen.
„Ah. Das ist eine gute Idee.“, erwiderte der Mann mit dem Hammer.
Eine gute Idee?
„Njet! War Frage, wo er ist!“
„In der Tasche.“, erwiderte der Mann mit dem Hammer.
Ich nickte langsam.
„Ist gut.“
Ich hoffte, dass er dort auch bleiben würde.
Und ich hoffte, dass der Mann mit dem Hammer ihn nicht brauchte.
Ich wollte nicht mit Akri sprechen.
Ich wollte ihn nicht sehen.
Ich wollte vor allem es nicht noch einmal sehen.

Bald erreichte ich den Vorhof der Taverne.
Einarr und Tahn schienen mich schon zu erwarten.
„Tahn hat ein Kind.“, erzählte Einarr mir. Irgendwie wirkte er stolz.
Ich sah Tahn fragend an.
Er nickte.
„Wie habt ihr herausgefunden?“, fragte ich fassungslos.
„Zeit… Und eine Menge Äpfel.“, erwiderte Einarr.
Ich sah noch einmal zu Tahn.
Ein Kind?
Also suchten wir nun Frau, Haus und Kind?

Ich fragte mich, wie sie darauf gekommen waren.
Tahn erinnerte sich zwar oft an kleine Teile seiner Vergangenheit, doch schien sie schnell wieder zu vergessen.
Wenn man nicht schnell genug nachfragte, dann war es wieder vorbei.
Und manchmal vergaß er sogar im Gespräch, was er gesagt hatte.
Es war wirklich seltsam.
Umso mehr wunderte mich, dass die beiden etwas so wichtiges herausgefunden hatten.
Das war mir bisher noch nicht gelungen.
Aber vielleicht war ich dafür auch die falsche Person.
Vielleicht lag mir das einfach nicht.

Wir unterhielten uns noch eine Weile, doch meine Gedanken schweiften ab.
Schweiften zu dem Friedhof der Grafschaft Rabenfeld.
Schweiften nach Falkenhain… Und zu dem Zelt, das mir der Sigmar-Mann beschrieben hatte.
Was war nur mit mir los?
Ich beobachtete Tahn und Einarr.
Doch ich hörte ihren Gesprächen nicht mehr zu.
Ich hatte Hunger.
Ich spürte es.
Was war das nur?
Es erinnerte mich an etwas.
Rabenfeld.
Breeg und Tahn.
Ihr Fleisch.
Nun roch ich auch noch das Blut von den umstehenden Personen.
Es war seltsam.
Was war nur mit mir los?
Mir lief das Wasser im Mund zusammen bei dem Geruch.
Warum schien ich die einzige zu sein, die das roch?
Das Verlangen… wuchs.
Doch… Was sollte ich tun?
Ich wollte… Wollte unbedingt.
Njet!
Einfach… Essen.
Njet! Halt dich zurück.
Der Hunger… War so… Groß.
Lass das!
Ich wollte doch nur… Ich schadete doch niemandem!
Njet, Anastasya! Nicht!
Ich schüttelte den Kopf.
Schüttelte meine Gedanken ab.

Als ich wieder etwas mehr bei Verstand war, stellte ich fest, dass ein Streit entbrannt war.
Der Hauptmann hatte Tahn befohlen, sich hinter einen der Männer zu stellen.
Ich folgte ihm.
Nur, um sicherzugehen, dass nichts passierte.
Die Leute machten sich etwas darüber lustig, doch sie feindeten ihn nicht an.
Das war gut.
So würde es nicht zu einem Kampf kommen.

Als der eine Mann sich zurück zum Feuer stellte, wollte Tahn sich nicht mehr hinter ihn stellen, sondern lief zurück zu Einarr.

Auch der Goblin gesellte sich wieder zu uns.
Ich fragte ihn nach seinem Namen.
„Melvin.“, erwiderte er.
Ich sah ihn an und nickte.
Ein seltsamer Name.
Ich hatte ihn vorher noch nicht gehört.

Einarr stellte uns einen Mann vor, der ebenfalls sein Gedächtnis verloren hatte: Er konnte sich nicht an seine Heimat erinnern.

Tahn schlug ihm vor, mehr Äpfel zu essen, doch der Mann schien es nicht ganz zu verstehen.
Mit ihm unterhielten wir uns noch eine Weile.
Er erzählte, dass er von Schnee-Elfen aufgenommen worden war.
Ganz oben im Norden… Im tiefen Schnee.
Es erinnerte mich etwas an Falkenhain.
Ich musste meine Eltern mal wieder besuchen…

Nach einer Weile beschlossen wir, uns in die Taverne zu setzen.
Meine Kleidung war mittlerweile ziemlich durchnässt und drin würde ich sie zumindest etwas trocknen können.
Wir stiegen die Treppen hinauf und setzten uns an einen freien Tisch.

Tahn griff nach einer Karte, die noch auf dem Tisch lag und betrachtete sie.
Wir fragten uns, was diese Karte zu bedeuten hatte.
Einer der Männer am Nachbartisch klärte uns auf:
„Das sind Erkennungskarten. Jeder von uns hat eine andere. Wenn wir die auf dem Schlachtfeld finden, wissen wir, wer die Leiche dort ist.“
Ich sah ihn an.
Die Idee war nicht schlecht.
Der Mann zeigte uns auch seine Karte, nahm sie dann aber wieder an sich.
Sie trugen die Karten immer an ihren Hüten.
So waren sie auch im lebenden Zustand immer zu erkennen.

Tahn, Einarr und ich beschlossen, Würfelspiele zu spielen.
Wir spielten Kutsche und Pferd.
Das Spiel, bei dem ich in Anrea so viel Kupfer an Tahn verloren hatte.
Das, was ich mit Tahn und Jespar gespielt hatte, bevor wir zum Castell Lazar aufgebrochen waren.

Wie immer verlor ich die ersten Runden.
Ich verstand nicht, wie Tahn so viel Glück beim Würfeln haben konnte.
Denn er gewann tatsächlich fast immer.

Bald tauchte der Hauptmann hinter Tahn auf.
„Wenn der Hahn morgen kräht, dann stehst du auf. Ich hole dich ab.“, erklärte er.
Tahn nickte.
„Der Hahn kräht so um Drei.“, erklärte er.
Ich sah ihn verwirrt an.
Was für ein Hahn war denn so früh am Morgen schon wach?
Was war das für ein seltsamer Süden.
So früh ging doch nicht einmal die Sonne auf.
Doch der Hauptmann bestand darauf und Tahn nickte.
Ich hoffte immer noch, dass Tahn es vergessen würde.
Wir mussten diesen Ort verlassen, bevor der Hauptmann nach Tahn suchen würde.
Das musste doch irgendwie machbar sein!

Während wir weiter spielten, dachte ich darüber nach.
Was, wenn ich Tahn einfach mitten in der Nacht weckte?
So würden wir weiterreisen können und mit etwas Glück hatte er den Hauptmann wieder vergessen.

Die Männer am Nachbartisch wurden immer lauter.
Dann riefen sie nach Jemandem, der sich Kupfer verdienen wollte.
Tahn und ich blickten herüber.
Worum ging es denn?

Sie hielten einen Würfelbecher in der Hand.
„Derjenige stellt sich das hier auf den Kopf.“, erklärte er. „Und das war es schon.“
Die Sache kam mir komisch vor.
Doch Tahn erhob sich und lief zu ihnen.

Jetzt erkannte ich auch, was sie vorhatten.
Sie wollten ihm den Würfelbecher vom Kopf schießen!
Eine ziemlich gefährliche Idee…
Ein Schuss in den Kopf konnte seinen Tod bedeuten.
Doch Tahn wollte sich das Kupfer verdienen, also setzte er sich den Würfelbecher auf den Kopf.
Das war seine eigene Entscheidung…
Dabei würde ich ihn nicht aufhalten.
Ich hoffte also nur, dass ihm nichts passieren würde.

Die Männer schossen nacheinander.
Sie trafen nicht…
Glücklicherweise schossen sie knapp an Tahns Kopf vorbei.
Dabei trafen sie zwar auch nicht den Becher, aber Tahn blieb unverletzt.
„Hoffentlich bekommt er ein Kupfer pro Schuss.“, murmelte ich zu Einarr.
Doch dem war nicht so.
Die Männer zahlten ihm ein Kupfer und Tahn setzte sich.

Wir würfelten weiter und hinter uns brach ein Streit aus.
Die Adligen mussten eingreifen.
Es wurde sehr laut, wir ließen uns allerdings nicht sonderlich stören.
Es war ja nicht unser Streit.

Doch der Streit endete darin, dass die Magier diese Personen stumm zauberten.
So konnten sie nur noch Krach machen.
Das war immerhin angenehmer als ihre Schreie und Rufe zu ertragen.

Wir würfelten weiter und irgendwann hatte ich keine Lust mehr.
Ich hatte schon zu oft verloren.
Tahn bot mir an, mir ein Kupfer als Einsatz zu leihen.
Da konnte ich nicht Nein sagen.
Ich spielte also noch eine Runde… Und gewann tatsächlich.
Eines der drei gewonnen Kupfermünzen gab ich Tahn zurück…
Und spielte weiter.
Ich gewann immer und immer öfter.
Einarr hingegen verlor ziemlich viel Kupfer.
Er machte sich Sorgen um das Kupfer für die Kutsche.
Scheinbar hatte er noch eine recht weite Reise vor sich, um nach Hause zu kommen.
Doch wenn es an diesem Ort wirklich noch Äpfel gab, so, wie er sagte, dann musste der Ort wirklich weit im Süden liegen.

Wir spielten und spielten noch eine ganze Weile und irgendwann hatte ich mehr Kupfer gewonnen als ich verloren hatte.
Ich war zufrieden.
Und müde.
Meine Erschöpfung war stärker als der Hunger, der mich noch immer plagte.

Einarr beschloss, die Kutsche nach Hause zu nehmen.
Tahn und ich wollten noch etwas schlafen.
Nein, wir mussten sogar noch etwas schlafen.
Tahn musste den Hauptmann vergessen.
Und das würde sicherlich am einfachsten sein, wenn er einfach einschlief.
Doch ich musste daran denken, früh genug mit Tahn die Taverne zu verlassen.
Ich wollte mich auf keinen Streit mit dem Hauptmann einlassen.

Also suchten wir uns einen kleinen Schlafplatz.
Ich legte mich auf den Boden und breitete einen Mantel neben mir aus.
So konnte er wenigstens etwas trocknen.
Ein trockener Mantel war wichtig für die Weiterreise.
Wobei ich hoffte, dass es in den nächsten Tagen nicht wieder so stark regnen würde.

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