Tante Silva

Ich stehe vor dem Haus meiner Tante und es dauert nicht lange, bis ich Schritte hinter der Tür höre.
Es ist alles so aufregend und es fällt mir wirklich schwer, ruhig stehen zu bleiben.
Dann öffnet sich die schwere, verzierte Holztür und zum Vorschein kommt meine Tante Silva. Sie trägt ein weiß-rotes Kleid und sehr viel Schmuck, ihre Haare sehen aus wie meine, nur viel länger. Außerdem trägt Silva ihr Haar offen.

„Hallo Anastsaya, freue ich mich, dass du da bist.“, sagt sie und lächelt mich an. „Du bist aber groß geworden!“
Ich lächle und hüpfe aufgeregt auf der Stelle. „Da, freue ich mich auch, Tante Silva!“

Sie bittet mich herein und ich schaue mich in ihrem Haus um. So ein prächtiges Bauwerk habe ich noch nie von innen gesehen…
Die Einrichtung besteht aus hellem und dunklem Holz und auf den Bänken und Stühlen wurden weiche Felle platziert.
Aber im Gegensatz zu unserer Hütte hängen keine Geweihe oder sonstige Trophäen von der Jagd an den Wänden.
Wo sollen sie auch jagen, mitten in der Stadt?

„Machst du es dir gemütlich, Anastasya, da? Ulf ist gerade noch bei Markt, holt Brot für uns.“, erklärt sie und folgt mir.
Brot… Bei uns gibt es nur Brot, wenn etwas Besonderes passiert ist und Athis oder Torvi in der Stadt waren.
Umso beeindruckender ist es, dass Silva offenbar sehr häufig an Brot herankommen kann. Ich esse es ganz gerne, auch wenn nichts besser schmeckt als ein selbst erlegter Hirsch.

Seltsame Zeichen

Mittlerweile habe ich mich in Bärenfels eingelebt, deswegen hat Tante Silva entschieden, dass ich jetzt anfangen kann, Lesen und Schreiben zu lernen.
Das ist der eigentliche Grund für meine Reise und ich bin schon total gespannt, was auf mich zu kommen wird.

Mein Vater kann Runen lesen und schreiben, aber er sagt, dass mir das in der Welt nicht überall weiterhilft. Dagegen kann meine Mutter ein bisschen lesen, das hat sie von Silva gelernt, aber sie braucht es kaum… Deswegen hat sie seitdem wieder sehr viel verlernt.
Ich muss versuchen, so oft wie möglich zu lesen und zu schreiben, damit mir nicht das Gleiche passiert… Denn es ist sehr nett von meiner Tante, mir Lesen und Schreiben beizubringen. Das möchte ich ehren.

Meine Tante setzt sich mit mir an einen dunklen Holztisch. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Holz von einem Baum stammt, den mein Papa oder meine Mama gefällt haben, ist sehr hoch.
„Also, Anastasya, dann wollen wir dir mal lesen beibringen, da?.“, sagt sie und hält mir ein Buch unter die Nase.
Ich weiß, dass Papier ziemlich teuer ist, denn in Falkenhain kann ich mich an kein einziges Buch erinnern.
Auf dem Papier sind dunkelblaue Zeichen, von denen fast jedes anders aussieht. Mal befinden sich größere Lücken zwischen den Zeichen, mal kleinere.

„Heißen Buchstaben, was du siehst.“, erklärt sie und deutet auf eines der Zeichen. „Hat jeder Buchstabe andere Bedeutung.“
Ich nicke und versuche mir vorzustellen, wie ich mir so viele verschiedene Dinge merken soll.
Sie deutet auf ein Zeichen, das einem Pfeil ähnelt.
„Das ist ‚A‘. Wie Ansuz, Rune von Odin.“
Ich nicke und schaue mir das Zeichen genauer an… Wie eine Pfeilspitze, die in der Mitte durchgestrichen wurde.
„Ah, das heißt also Ansuz?“, frage ich und zeichne die Rune in die Luft. Allerdings sieht die Rune so anders aus als dieses Zeichen.
„Njet.“, erwidert meine Tante. „Ist ganz anders als Runen… Vergiss Runen für einen Moment.“

Schreiben

In den letzten Wochen hat mir meine Tante alle Buchstaben gezeigt, die von den meisten Menschen genutzt werden.
Es fällt mir immer noch schwer, mir sie alle zu merken, aber meine Tante gibt mir jeden Tag ein kleines Buch, das ich lesen soll.

Am Anfang waren die einzelnen Buchstaben noch sehr groß, doch mittlerweile werden sie immer kleiner.
Ich bin beeindruckt von all dem Wissen, das durch Bücher weitergegeben werden kann.
Die meisten Bücher handelten von Blumen, Bäumen, Pflanzen, Tieren oder Bärenfels…
Ich habe viel über unseren Jarl Farkas gelesen und kenne nun seine Geschichte.

Meine Tante kommt zu mir und hält Feder und Papier in der Hand.
„Anastasya, jetzt du kennst schon die Buchstaben. Müssen wir noch lernen, sie zu schreiben.“, sagt sie und drückt mir die Feder in die Hand.
Ich nehme die Feder automatisch mit der linken Hand entgegen und betrachte sie.
„Schreiben…? Heißt kann ich dann selbst Buch schreiben?“
Meine Tante lacht.
„Njet, musst du erst viel üben, danach Buch schreiben. Aber ist keine schlechte Idee.“

Es ist gar nicht so leicht… Aber ein paar dieser seltsamen Zeichen ähneln den Runen, die ich schon kenne. Nur die Abrundungen in manchen Zeichen sind mir neu, aber ich gebe mein Bestes.

Das Fest

Ein paar Wochen später sagt meine Tante mir am Morgen, dass heute ein Fest stattfinden wird.
„Zu Fest der Jugend ehren wir Göttin Idun“, erklärt meine Tante mir. Von dieser Göttin kenne ich ein paar Geschichten und ich weiß, dass sie den anderen Göttern die ewige Jugend verleiht. Diese Göttin trägt nämlich stets eine Schatulle mit den Äpfeln der Unsterblichkeit mit sich.

„Ah, machen wir Fest für Apfel?“, frage ich und schaue Silva an. In Falkenhain gibt es keine Äpfel.
„Da, deswegen machen wir Fest auf Marktplatz, dort werden Äpfel verkauft.“, mischt sich Ulf, mein Onkel, in das Gespräch ein.
Im Gegensatz zu meinem Vater hat er keine roten Haare und ist auch etwas kleiner und rundlicher.
Die Menschen in Bärenfels wirken allgemein wohlgenährter als die Bewohner von Falkenhain… Wahrscheinlich, weil sie hier in Bärenfels Nahrung kaufen können.

„Für Fest habe ich etwas für dich, Anastasya.“, sagt meine Tante und hält mir ein blaues Kleid hin. „Musst du dich festlicher kleiden für Idun.“
Ich schaue an mir herab. Ein grünes Oberteil, eine braune Hose, darin fühle ich mich eigentlich wohl, außerdem hat mein Vater mir diese Kleidung gekauft.
Aber ich bin jetzt in Bärenfels, vielleicht muss ich mich daran gewöhnen.
„Danke, Tante Silva!“, sage ich und lächle sie an. Es ist sehr nett von ihr, mir das zu schenken.
„Aber Mantel darf ich behalten?“, frage ich noch und deute auf meinen grünen Woll-Mantel. Er hält warm und das ist doch das Wichtigste?
Silva seufzt. „Da, darfst du anziehen.“, sagt sie, wirkt dabei aber nicht gerade glücklich.

Silva, Ulf und ich laufen los und verlassen bald die Grenze zum Reichenviertel. Der Wachmann lässt uns einfach so durch und verlangt kein Kupfer… Das wirkt irgendwie ungerecht, aber ich sage nichts dazu.
Auf dem Weg zum Marktplatz laufen wir auf dem mittleren Weg, der die Viertel voneinander trennt.
Ich weiß, dass sich der Marktplatz direkt unter dem Armenviertel befindet… Das heißt wohl, dass wir da durch laufen. Ich bin total gespannt, was mich dort erwartet.

Auf dem Marktplatz

Silva und Ulf haben vermieden, dem Armenviertel zu nahe zu kommen und so konnte ich lediglich herein schauen, als wir am Durchgang vorbei gelaufen sind.
Die Hütten sahen sehr klein aus und waren total kaputt… Viele Menschen saßen sogar auf dem Boden herum. Irgendwie tun sie mir Leid… Womit haben sie das verdient?

Jedenfalls erreichen wir jetzt den Marktplatz und mich erstaunt der Unterschied zwischen Armenviertel und diesem prachtvollen Ort.
Alles ist mit Blumen und Blüten geschmückt, die ich noch nie zuvor gesehen habe.
In der Mitte vom Marktplatz singt ein Barde schöne Lieder.
Außerdem sind überall Äpfel verteilt, um die Göttin Idun zu ehren.
Äpfel wachsen hier nicht, deswegen kommen Händler zum Marktplatz von Bärenfels, um sie zu verkaufen.

„Schau dich ruhig ein bisschen um, Anastasya.“, sagt Silva und lächelt mich an.
Ich nehme das Angebot an und laufe los, denn dieser Marktplatz ist so riesig und sieht so interessant aus.
Die Stände sind in einem Halbkreis aufgebaut… Das erinnert mich an den Buchstaben ‚C‘, den ich von Silva gelernt habe.
Ich laufe an den Ständen vorbei und sehe Obst und Gemüse, das ich nicht einmal benennen kann. Außerdem gibt es ganz viele Ketten, Ohrringe und Armreifen.
Ich frage mich, wie viel Geld man hier wohl ausgeben kann.

Der Junge auf dem Marktplatz

„Mach, dass du wegkommst, Junge!“, höre ich auf einmal eine wütende Stimme und drehe mich zu ihr um.
Ein Wachmann steht ein paar Schritte entfernt von mir und zieht einen Jungen am Kragen zu sich.
Die Kleidung des Jungen ist total dreckig und kaputt. Er hat wohl keine Tante, die ihm ordentliche Kleidung schenkt… Aber er sieht nett aus. Die meisten Kinder im Reichenviertel sind irgendwie komisch, ich habe noch mit keinem von ihnen gespielt.

Der Junge schaut den Wachmann mit großen Augen an, reißt sich los und läuft weg, dabei verliert er zwei Kupferstücke.
Ich schaue ihm nach und der Wachmann geht ruhigen Schrittes weiter.
Der arme Junge…
Ich schaue mich kurz um, um festzustellen, wo meine Tante und mein Onkel sind und stelle fest, dass sie nicht in der Nähe sind. Sehr gut.

Ich ziehe die Kapuze des Mantels über meinen Kopf, ziehe den Mantel zu und gehe zu der Stelle, an der der Junge das Kupfer verloren hat… Die beiden Münzen hebe ich auf und laufe dann dem Jungen nach. Er ist sicherlich zum Armenviertel gelaufen.

Das Armenviertel

Ich erreiche das Armenviertel, habe aber keine Zeit, um mich umzuschauen. Der Boden ist viel unebener als im Reichenviertel und so fällt mir das Rennen ein bisschen schwieriger.

Unter einem kleinen Holzverschlag, der schon ziemlich kaputt aussieht, entdecke ich den Jungen dann.
Ich zögere einen Moment, gehe dann aber auf ihn zu.
„Glaube ich hast du was verloren.“, sage ich und halte ihm die zwei Kupfermünzen hin.
Er schaut mich mit großen Augen an.
„D-Danke.“, sagt er.
„Wie heißt du?“, frage ich und lächle ihn an. Endlich mal Jemand, der sich normal verhält.
„Igor.“, erwidert er und zuckt mit den Schultern. „Warum willst du das wissen?“
„Warum nicht?“, frage ich. „Warum hat Mann dich weggejagt?“
„Betteln auf Marktplatz ist verboten… Muss ich aber trotzdem machen, weil Familie Geld braucht.“, sagt er. „Wie heißt du? Siehst du nicht aus, als würdest du von Armenviertel kommen.“
Er mustert meine Kleidung.
„Anastasya. Njet, komme ich gar nicht von hier… Falkenhain ist mein Zuhause.“, antworte ich und hoffe, dass Silva und Ulf nicht nach mir suchen werden.


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