Was zuvor geschah…


Heimweg

Artjom und ich verlassen Bärenfels in Richtung Norden.
Am nördlichen Tor kennt er den Wachmann nicht und so bezahlt er die üblichen fünf Kupfermünzen. Da ich kein Kupfer mehr dabei habe, zahlt er auch für mich, dafür bin ich meinem Bruder sehr dankbar.

„Ah, weißt du was wichtig ist in Leben, Anastasya?“, fragt er mich, während wir durch das Tor den Turm betreten, der uns nach oben führt… Nach oben, dort wo mein Zuhause ist.
Ich schaue ihn an.
„Njet…?“, erwidere ich verwirrt.
Er ist mein ältester Bruder… Und deswegen ist er weise?
„Ah, weißt du… Wenn du hast genug Met und Metka, dann ist Leben gut. Arbeiten mit Hand, dann hast du auch genug Geld für genug Met und Metka.“
Er zwinkert mir zu.

„Weißt du? Haben Eltern mir Namen gegeben von Artjom… Ist er Onkel von uns, aber lange her… Hatte er viel zu tun mit Odin… Und Met kommt von Odin.“
Er lacht kurz und zwinkert.
„Werden sie dir sicher auch noch viel erzählen von Artjom.“
Mit seiner Hand deutet er in Richtung der großen, verschneiten Fläche, die nun vor uns auftaucht. Falkenhain. Endlich.

Zweifel

Wir laufen direkt am Sternensee vorbei und folgen einem der drei Wege, die durch Falkenhain führen.
Irgendwie macht sich in mir ein mulmiges Gefühl breit.
Was, wenn Tante Silva doch recht hat und meine Eltern enttäuscht sind?
Wenn sie mich nicht mehr sehen wollen?
Wo soll ich dann hin?
Das Angebot von Artjom war sicher nur als Scherz gemeint… Er wird mich sicher auch nicht mehr bei sich haben wollen, wenn schon meine Eltern enttäuscht von mir sind.
Und was ist mit Alvari? Würden wir ihn hier finden? Oder ist ihm etwas zugestoßen?

Mein Bruder bleibt stehen und schaut mich an.
„Was ist denn los, eh?“, fragt er und scheint, durch meine Augen in meinen Kopf schauen zu wollen.
Ich senke schnell den Blick. Was, wenn er das wirklich kann? Dann weiß er sofort, was ich für Mist gebaut habe.
Er wäre sicherlich auch enttäuscht von mir… Ganz so, wie Silva gesagt hat.
Ich sage nichts.

Er seufzt.
„Anastasya. Gehen wir gleich zu Papa und Mama, sagst du ihnen, was ist, da?“, fordert er mich auf. Seine Stimme klingt ruhig. „Musst du nicht Angst haben. Haben sie dich sowieso lieber als Tante Silva.“
Er grinst.

Ich starre ihn an.
Das kann ich nicht glauben.
Sicher versucht er nur, mir Mut zu machen.
Ich habe Angst, weil ich es ihnen nicht erzählen will.
Wie soll ich das auch erklären? Ich war in einem Bordell und… Nein, das kann ich einfach nicht erklären.

Mein Bruder grinst und setzt sich wieder in Bewegung.
„Musst du nicht haben Angst. Komm.“, ermutigt er mich.
Ich seufze und folge ihm. Was bleibt mir auch anderes übrig?
Erstens habe ich kein Geld, um zurück nach Bärenfels zu gehen und zweitens gibt es dort auch keinen Ort für mich.

Das Haus

Wir nähern uns dem Haus meiner Eltern und mit jedem Schritt wird mir etwas schlechter.
Ich habe Angst, ihnen zu begegnen… Und auf der anderen Seite freue ich mich so sehr darauf, sie wieder zu sehen.
Mein Bauch tut weh. Das passiert, weil ich Angst habe.
Und das ist schon lange nicht mehr passiert.
Ich wünsche mir, dass ich meine Axt mitgenommen hätte… Sie hat mir Mut und Kraft gegeben, obwohl sie nur sehr klein war.
Ob mein Vater auch deswegen enttäuscht von mir ist?
Immerhin hat er sie mir geschenkt… Und jetzt liegt sie in Bärenfels.

Wir laufen immer weiter und ehe ich mich versehe, ist das Haus schon zu sehen.
Und natürlich steht mein Vater draußen und erkennt uns sofort. Er winkt und ein breites Lächeln zeigt sich auf seinem Gesicht.
Ich hätte nicht damit gerechnet, doch bei diesem Anblick muss auch ich lächeln.

Mein Bruder schaut mich an und lacht.
„Siehst du, Anastasya? So schlimm ist nicht!“
Ich spüre, wie mir schlagartig heiß wird… Sicher werde ich wieder total rot im Gesicht.

Wir laufen auf das Haus zu und mein Vater umarmt mich.
„Anastasya, bist du endlich wieder zurück, eh? Haben wir dich schon vermisst.“
Er mustert mich und lacht.
„Trägst du dreckiges Kleid? Sieht dir ähnlich, ha ha ha. Freut mich, dass du immer noch bist die Jägerin, die wir losgeschickt haben.“
Ich kann nichts dagegen tun, dass Tränen über meine Wangen laufen.
Mein Vater schaut mich verwirrt an.
„Was ist denn los, Anastasya?“, fragt er.
Ich schüttle den Kopf, schluchze und er umarmt mich noch einmal.
„Ist nicht gut gewesen in Bärenfels? Ist gut, dass du wieder bist in Heimat jetzt.“

Der verlorene Bruder

„Gehen wir erstmal rein.“, sagt mein Bruder und drückt mich und meinen Vater sanft in Richtung Tür. „Ist Alvari noch hier?“
In dem Moment öffnet sich die Haustür und mein zweitältester Bruder tritt heraus.
„Ist er.“, erwidert mein Vater und deutet auf ihn. Ein lustiger Zufall, aber irgendwie kann ich gerade nicht darüber lachen.
Alvari umarmt Artjom. „Ah, tut mir Leid, Artjom. Brauchte Papa noch Hilfe mit Bäumen, habe ich gedacht, ist besser für Geschäft wenn wir haben gute Holz, eh?“
Artjom grinst erleichtert und klopft Alvari auf den Rücken.
„Ahh, bist du gute Geschäftsmann, eh? Ist nicht schlimm. Habe ich nur Sorgen gemacht.“
Mein Vater nickt und öffnet uns die Tür. Wir treten ein.

Es fühlt sich seltsam an, nach der langen Zeit wieder hier zu sein.
Ist meine Mutter Zuhause? Ich habe immer noch Angst.

„Komm, Anastasya, setz dich an Tisch.“, fordert mich mein Vater auf. Hat er etwa gemerkt, dass ich Angst habe?
Er setzt sich zu mir und schaut mich erwartungsvoll an.
„Dann erzähl mal.“
Reflexartig schüttle ich den Kopf, aber mein Vater schaut mich weiterhin an.

„Anastasya!“, höre ich auf einmal eine sehr vertraute Stimme… Dann Schritte. Rennende Schritte.
Ich hebe den Blick und erblicke meine Mutter, die auf mich zugerannt kommt. Sie umarmt mich.
„Anastasya! Du bist wieder da!“
Ihre Augen leuchten und sofort spüre ich wieder die Tränen in meinen eigenen Augen. Da ist sie… Meine Mutter. Beinahe ist es so, als wäre ich nie fort gewesen… Aber leider nur beinahe.

Das Geständnis

Meine Mutter setzt sich auch zu mir an den Tisch.
Alvari und Artjom begeben sich nach draußen, um die Arbeit meines Vaters fortzuführen.
So kann ich in Ruhe mit meinen Eltern reden. Ich will nicht, aber ich weiß, dass ich muss… Besser, als ewig ein schlechtes Gewissen zu haben.

Mit Tränen in den Augen schaue ich meine Mutter an, dann meinen Vater. Ihre Gesichtszüge sind so sanft… Ich habe sie wirklich vermisst.
„Muss ich etwas erzählen…“, beginne ich. „Habe ich bei Tante Silva… Mist gebaut.“
Ich senke den Blick und traue mich nicht, einen der beiden anzusehen. Der Tisch ist aus Holz und wird mich wahrscheinlich keinen enttäuschten Blick zuwerfen.

Dann erzähle ich ihnen von Tante Silva und Onkel Ulf und auch von Igor. Ich erzähle von den Dingen, die sie mir beigebracht hat, von dem seltsamen Tanzlehrer, vom Markt und schließlich auch vom Bordell.
Am Ende weiß ich gar nicht mehr, wie viel Zeit vergangen ist, aber ich fühle mich besser.

Ich halte einen Augenblick inne und weiß nicht, ob ich aufschauen soll. Was sie jetzt wohl von ihrer Tochter denken?
Ich versuche, einen schnellen Blick in ihre Gesichter zu erhaschen.
Meine Mutter legt die Hand an mein Kinn und hebt es sanft an, damit ich sie ansehe.
Entgegen meiner Erwartungen lächelt sie.
Unsicher schaue ich rüber zu meinem Vater. Auch er lächelt.

„Ach, Anastasya.“, sagt meine Mutter. „Bin ich froh, dass du nicht bist, wie meine Schwester möchte.“
Dann lacht sie. „Glaube ich, ist gutes Zeichen, dass sie rausgeschmissen hat dich. Habe ich mir schon bei Briefen gedacht, dass so etwas passieren wird.“
Verwirrt schaue ich zu meinem Vater.
„Da, sehe ich auch so. Wohnt sie in Reichenviertel. Ist sie einfach anders als wir. Aber bin ich froh, dass du bist noch immer meine kleine Jägerin. Nicht adlig oder reiches Mädchen. Ist gut, Anastasya.“

Wieder sammeln sich Tränen in meinen Augen… Aber diesmal aus einem anderen Grund. Ich kann mein Glück kaum fassen.
Und ich bin endlich Zuhause.

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